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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

808–811

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

O'Neill, John C.

Titel/Untertitel:

Who Did Jesus Think He Was?

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. VIII, 238 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 2. Lw. $ 71.-. ISBN 90-04-10429-1.

Rezensent:

Dieter Sänger

J. C. O'Neill, em. Prof. für NT an der Universität Edinburgh, hat schon öfters durch ungewöhnliche, um nicht zu sagen eigenwillige Thesen auf sich aufmerksam gemacht. Genannt seien nur seine Studien zum 1Joh (1966), zur Apg (1970(2)) und zur Verkündigung Jesu (1980). Mit dem hier anzuzeigenden Buch bestätigt er einmal mehr seinen Ruf als unkonventioneller Querdenker. Hinter dem unspektakulär klingenden Titel verbirgt sich ein vehementer, mit einem kühnen Gegenentwurf gekoppelter Angriff auf die Dominanz eines unmessianischen Jesusbildes, wie es gegenwärtig wieder - wenngleich sehr unterschiedlich begründet - vor allem in der englischen und amerikanischen Jesusforschung profiliert vertreten wird (J. D. Crossan, M. J. Borg, F. G. Downing, G. Vermes u. a.). Des Vf.s Kontrastprogramm läßt sich kurz so zusammenfassen: Jesus hat sich als der Mensch gewordene, präexistente Sohn Gottes und Messias verstanden, der seinen Tod als Sühne für die Sünden der Welt bewußt auf sich genommen und mit seiner Wiederkunft zum Gericht gerechnet hat. Der trinitarisch formulierte Gottesglaube stellt kein nachösterliches Produkt christlicher Reflexion dar, sondern ist bereits für den irdischen Jesus vorauszusetzen. Jedoch ist dieser Konnex von trinitarischem Got-tesglauben, Inkarnation, Heils- und Gerichtsfunktion des Gottessohnes keineswegs spezifisch jesuanisch. Er bildet einen integralen Bestandteil der frühjüdischen Gottes- und Messiasvorstellung, wie die Qumrangemeinde und andere Gruppierungen belegen. Seine mit weitreichenden Konsequenzen verbundenen Überlegungen entfaltet der Autor in mehreren Schritten.

Zunächst widerspricht er der Annahme, die Traditionsformel Röm 1,3 f. und verwandte Texte (Mk 1,11 par; Apg 2,36; 13,33 u. a.) seien adoptianisch oder im Sinne einer Zwei-Stufen-Christologie zu verstehen, wonach Jesus erst durch einen von Gott gewirkten Akt (Auferstehung, Erhöhung) zum Sohn, Kyrios oder Christus eingesetzt worden sei. Vielmehr variierten alle dafür in Anspruch genommenen ntl. Stellen ein im AT (2Sam 7,14; Ps 2,7; 8,6 f.; 110) präformiertes Schema, das die "from all eternity" bestehende Einheit von Gott und Sohn bezeuge (21f.). Daher indizierten die in ihnen begegnenden Hoheitstitel keinen Statuswechsel, sondern bezeichneten Jesus als den, der er immer schon gewesen ist (16 f. 20 f.).

Im Anschluß daran thematisiert der Vf. die unterschiedlich akzentuierte Messiaserwartung im zeitgenössischen Judentum (23-41). Entgegen anderslautenden Einwänden (25 f.) hält er daran fest, daß sie eine überragende Rolle gespielt und zu den "standard part(s) of every Jew's beliefs" gehört habe (34, vgl. 30). Vor allem deshalb, weil Israels Hoffnung (Befreiung von Fremdherrschaft, Restitution des Gottesvolkes, Verherrlichung Jerusalems und des Tempels) untrennbar mit dem Gesalbten aus dem Hause Davids verknüpft sei. Gruppenspezifische Differenzen über dessen Herkunft und Person fielen demgegenüber ebensowenig ins Gewicht wie die Tatsache, daß die Qumrantexte einen davidischen und einen priesterlichen Messias erwähnen (1QS 9,11; CD 12,23; 19,10; 20,1; 4Qflor 3,11 f. u. ö.). Denn in 1QS 9,11 sei der Plural "Gesalbte" ein Pluralis maiestatis, die Kopula habe stets explikative Funktion (39 f. 64). Mit einem argumentum e silentio werden auch die Sadduzäer in diesen messianischen Horizont integriert. Weil die Quellen nichts von einem Dissens mit den Pharisäern berichteten, müsse zwischen beiden Parteien an diesem Punkt Einvernehmen geherrscht haben (38). Insgesamt ergebe sich zweifelsfrei, daß das Judentum zur Zeit Jesu in gespannter Erwartung nach dem verheißenen Messias und seinem Vorläufer, dem Elias redivivus, Ausschau gehalten habe (41).

Im dritten Kapitel (42-54) behandelt der Vf. einen weiteren für ihn wichtigen Aspekt. Zum Wesen des Messias gehöre konstitutiv, daß er verborgen bleibe, bis er von Gott offenbart und legitimiert werde. Jede Selbstproklamation gelte als blasphemisch. Von daher erkläre sich, daß Jesus seine wahre Identität öffentlich nicht preisgeben konnte (Joh 6,15 [44]), zugleich aber auch, daß der ihm von seinen Gegnern unterstellte explizite messianische Anspruch (Mt 27,41-43; Joh 19,21) gemäß Dtn 13,2-6 Strafsanktionen nach sich ziehen mußte (49 ff.). Um den Nachweis, die wesentlichen christologischen Heilsaussagen seien bereits in Qumran vorgebildet, geht es im nächsten Abschnitt (55-73). Folgt man dem Autor, hat die Qumrangemeinde den vom Frevelpriester (Alexander Jannai) verfolgten und gekreuzigten Lehrer der Gerechtigkeit (L.d.G.), dessen Tod sie sühnende Wirkung zuschrieb (60. 68 f.), nicht allein mit dem Messias Israels und Aarons identifiziert (61 ff.). Sie war zudem davon überzeugt, der L.d.G. werde in Gestalt des davidischen Gesalbten wiederkommen (64). Da seine Anhänger den L.d.G. überdies für die irdische Personifikation Melchisedeks hielten, worauf die verhüllende Umschreibung seiner wahren himmlischen Existenz als "Melchi Zedek, King of Righteousness" hindeute (72), ergibt sich: Die Qumranfrommen sahen im L.d.G. den auf Erden weilenden und zum Gericht erscheinenden davidischen Messias, der als der inkarnierte Gottessohn ("God incognito") "made flesh to prepare them for the coming kingdom" (73, vgl. 70 f.).

Damit hat sich der Vf. die religionsgeschichtliche Basis verschafft, um zu seiner eigentlichen These vorzustoßen. Ein geraffter Überblick über ausgewählte nachkanonische Schriften und das NT (74-93) endet mit dem Negativbefund, keine einzige Stelle lasse eine Kontroverse über die Trinität und Inkarnation erkennen, woraus im Umkehrschluß gefolgert wird, beide Theologumena hätten von Beginn an den Glauben der Christenheit geprägt (76. 93). Es ist nicht allein diese Logik, die skeptisch stimmt. Mindestens genauso problematisch ist, daß nicht einmal andeutungsweise dargelegt wird, inwiefern die der christlich-dogmatischen Tradition entlehnte Terminologie ("doctrine of the Incarnation", "doctrine of the Trinity") überhaupt geeignet ist, dem theologischen Anliegen der herangezogenen Texte wirklich gerecht zu werden. Zudem greift der Vf. mehrfach und ohne jede textkritische Evidenz in den überlieferten Wortbestand ein (krasses Beispiel: Phil 2,7 [87 f.]), bis sich dieser seiner Konzeption einfügt, d.h. "entirely fits trinitarian orthodoxy" (88). Kurzum, daß die Trinität und Inkarnation im NT weder bestritten werden noch einen "new burst of creative thought" ausgelöst haben, gilt als zureichendes Indiz für ihren vorchristlichen Ursprung (93). Zum Beweis dafür bietet der Vf. eine Fülle vermeintlicher Sachparallelen aus jüdischen Schriften ganz unterschiedlicher Provenienz auf (94-114). Ungeachtet der Disparität des in ihnen enthaltenen Traditionsmaterials werden so Jub, äthHen, Philo, TestXII, Sib, PsSal, OdSal, Weish, JosAs, IVEsr, AssMos, LibAnt, TJon u. a. über einen Leisten geschlagen. Entsprechend hoch ist die methodische Hypothek. Mutmaßliche Herkunft und Abfassungszeit dieser Schriften sind ebensowenig ein Thema, wie es offensichtlich nirgends Anhaltspunkte gibt, an der literarischen Integrität einzelner Passagen zu zweifeln. Daher wird die Möglichkeit, es könne sich bei ihnen um christliche Interpolationen bzw. Bearbeitungsspuren handeln, einfach ignoriert oder, wie im Fall der OdSal, mit einer knappen Fußnote erledigt (100, vgl. 185). Auch scheint es keine interpretatorischen Alternativen zu geben, die ernsthaft zu diskutieren wären.

Ein Beispiel mag zur Illustration genügen. In JosAs 19,11 küßt Joseph seine künftige Frau Aseneth dreimal und vermittelt ihr dabei den Geist des Lebens, der Weisheit und der Wahrheit. Diese Stelle verknüpft der Vf. mit anderen, in denen Gott als Vater (12,8.13.15), Joseph als dessen Sohn be-zeichnet wird (6,3.5; 13,13; 18,11; 21,4), um dann das Verhältnis von Gott, Sohn und Geist - wobei der Geist vom Vater und vom Sohn ausgehen soll - im Sinne des Trinitätsgedankens ("trinitarian scheme") zu bestimmen (99f.). Demnach wäre also der altkirchliche Streit um das filioque jüdischerseits schon lange vorher im Sinne Rufins und Marcells von Ancyra entschieden gewesen.

In den beiden folgenden Abschnitten (115-135.136-163) wi-derspricht der Vf. der Auffassung, Jesus habe sich expressis verbis als Messias ausgegeben (Mk 8,29 f. par; 14,62 par. u. ö.) oder den Menschensohn-Titel auf sich bezogen (Mk 2,10 par; 2,28 par; Mt 8,20 par u.ö.). Dieser von den Synoptikern er-weckte Eindruck sei historisch falsch (119 ff.139 ff.) und rühre z. T. daher, daß ihr Wortlaut bereits im Frühstadium der Text-überlieferung zugunsten einer expliziten Messianologie gezielt verändert worden sei (160 f.163). Freilich habe Jesus seinen messianischen Anspruch auch nie geleugnet, ihn jedoch nur indirekt erhoben (Mt 11,2-6 par; Joh 10,24 f. [134]). Ohne daß er sich deshalb der Gotteslästerung schuldig gemacht hätte, habe er diesen Vorwurf bewußt auf sich genommen. Als der gehorsame Sohn Gottes ging Jesus freiwillig in den Tod, um die Sünden der Welt zu sühnen (135).

Das letzte Kapitel behandelt die messianischen Selbstprädikationen im JohEv (164-187). Für den Vf, sind sie weder authen-tisch noch nachösterlich, sondern allesamt vorchristlich (179 f.). Inhaltliche Spannungen innerhalb der Offenbarungsworte Joh 3,13-21.31-36; 4,1-42; 5,30-47; 10,1-21 u. a. zeigten, daß sich das Evangelium aus mehreren voneinander unabhängigen, von Beginn an schriftlich fixierten Quellensträngen ("revelatory sources" [174, vgl. 176]) zusammensetze. Sein Endredaktor, kaum mehr als ein traditionsgebundener Sammler (177. 185), habe diese als dramatische Szenen konzipierten Dokumente bereits vorgefunden und sie lediglich miteinander verwoben. Der Ursprung dieser Quellen sei in prophetisch-visionären Kreisen Qumrans zu suchen (185 f.), bei denen die Erfahrung der Auferstehung Jesu einen theologischen Transformationsprozeß ausgelöst und dazu geführt habe, ihre bisher am L.d.G. orientierten Heilserwartungen auf Jesus zu übertragen. Seine dadurch erfolgte Identifikation als Messias, präexistenter und Mensch gewordener Gottessohn wirke im JohEv nach in Gestalt einer "well developed trinitarian and incarnational theology about the Messiah" (187).

Nach der Lektüre des Buches ist man geneigt, mit Paulus zu fragen: "Was sollen wir nun hierzu sagen?". Auf nahezu jeder Seite präsentiert der Vf. eine Mischung aus bloßen Vermutungen, fragwürdigen Assoziationsketten und spekulativer Phantasie, angereichert durch eine Fülle willkürlicher Textkonjekturen. Auch klärt er nirgends sein hermeneutisches Verfahren. Darüber, wie denn das spannungsvolle Verhältnis von Ge-schichte und Glaube zu bestimmen ist oder warum und inwiefern der Glaube die historische Evidenz seiner selbst bedarf, wird nicht reflektiert. Hinzu kommt, daß sich aus seiner Sicht Judentum und Christentum allenfalls graduell unterscheiden. Von der seit langem gerade unter Neutestamentlern intensiv ge-führten Diskussion um die Sachgemäßheit der Kategorien Kontinuität und Diskontinuität scheint der Vf. nichts zu wissen. Symptomatisch für dieses Defizit an methodischer und hermeneutischer Präzision ist der konsequente Verzicht auf exegetische Detailarbeit, obwohl erst sie eine weitergehende, auf überprüfbaren Plausibilitätskriterien basierende Rekonstruktion hi-storischer und theologischer Zusammenhänge ermöglicht. Dem entspricht, daß die aktuelle Forschung zu Qumran, den Synoptikern und zum JohEv - wenn überhaupt - äußerst selektiv wahrgenommen wird.

Dazu wiederum nur ein Beispiel. Entgegen der Behauptung des Vfs. wird der L.d.G. in keinem einzigen Qumrantext als Messias bezeichnet, ist nirgends von seiner Kreuzigung die Rede. Und daß CD 6,10 f. zweifelsfrei belege, die Qumrangemeinde habe die Wiederkunft des L.d.G. am Ende der Tage erwartet (62 f.), trifft ebenfalls nicht zu. Entgegen der Übersetzung A. Dupont-Sommers, auf die er sich ausschließlich stützt, ist diese Lesart sowohl philologisch (yoreh hassedeq [Z.11] müßte als Äquivalent zum Titel moreh hassedeq verstanden werden) als auch semantisch und traditionsgeschichtlich (Anspielung auf Hos 10,12, dort mit JHWH als Subjekt) sehr unwahrscheinlich. Dann aber fiele nicht bloß diese Stelle als dictum probans für des Vf.s Interpretation weg. Vielmehr wäre seiner darauf aufbauenden These vom jüdischen Ursprung des trinitarischen Glaubens schlicht der Boden entzogen.

Nicht besser steht es mit den Ausführungen zur zeitgenössischen Messiasvorstellung, zum messianischen Selbstbewußtsein Jesu und zur Genese der johanneischen Christologie.

Wie alle übrigen sind sie Bestandteil eines geschlossenen Systems, das sich durch seine hohe Selbstreferenz auszeichnet. Man kann ihm entweder nur ganz oder gar nicht zustimmen. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Das heißt freilich nicht, des Vf.s Anliegen zu diskreditieren oder es für illegitim zu erklären. Die ihn bewegende Frage nach dem inhaltlichen Kontinuum zwischen begrifflich erst in nachkanonischer Zeit fixierten Theologumena und dem biblischen Schriftzeugnis ist berechtigt und auch notwendig. Das gleiche gilt für die andere Frage, wer Jesus von Nazareth war und für wen er sich gehalten hat. Auf dem von dem Vf. beschrittenen Weg wird jedoch keine Antwort darauf zu finden sein.