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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

454 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Gerd

Titel/Untertitel:

Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums.

Verlag:

Stuttgart: Radius-Verlag 1995. 320 S. 8°. geb. DM 68,-. ISBN 3-87173-063-7.

Rezensent:

Ulrich B. Müller

Es fällt schwer, nach der Lektüre des Spiegel-Interviews (Der Spiegel 8/1996) ein unbefangenes Urteil über das neueste Buch von G. Lüdemann abzugeben, zumal der Autor es seinen theologischen Lesern mit der oftmals wenig reflektierten Polemik schwer macht. Fragt man sich, wen L. als seine eigentlichen Leser im Auge hat, so ist man zunächst ratlos. Die wissenschaftliche Zunft der Theologen ist es wohl nicht; sie hat er mit der Art der Präsentation seiner Thesen, die an sich nicht neu sind, bewußt verärgert. Seine "Verständigung mit der Leserschaft" (8-10) verrät aber, wen er als Leser im Auge hat: neugierige Christen nämlich, denen er "ihr Eigenes als ein Fremdes" zeigen möchte, unbeeinflußt und gereinigt von kirchlicher Herrschaftsdogmatik. Daß er bei seinem Versuch, einen weiteren Pfeiler von Kirche und Theologie einzureißen, jetzt auch die Heilige Schrift und ihre Autorität ins Visier nimmt, wird ihm allerdings nur einen problematischen Erfolg bereiten: die Zustimmung des sog. kritischen Spiegellesers, der längst schon mit Kirche und christlicher Tradition gebrochen hat. Daß der Autor heutige Zeitgenossen für das eigentlich Christliche, wie er es versteht, neu gewinnt (10), indem er sich um eine "Vermenschlichung der Geschichte des Urchristentums" bemüht, damit der Mensch heute sich in den Konflikten, Ängsten und Träumen der damaligen Menschen wiedererkennt (16), ist wenig wahrscheinlich. Dazu ist der Grundtenor des Buches viel zu destruktiv angelegt.

Wenn L. den Apostel Paulus als Ketzer der ältesten Zeit (so die Überschrift auf S. 69) kennzeichnet, um einen menschlichen Paulus zu präsentieren, so ist dies im Blick auf das Urteil strenger Judenchristen damals richtig, wissenschaftsgeschichtlich nicht neu, aber in der gewählten Darstellungsweise für gegenwärtige Zeitgenossen kaum besonders attraktiv (z.B. Paulus als "ehrgeiziger Emporkömmling", "er verstand zu hassen, wie im-mer nur die Gläubigen Fremdgläubige gehaßt haben", 76). Das Charakteristische der Botschaft des Apostels kommt angesichts der Vermenschlichungstendenz des Autors kaum zum Tragen. Man liest von zunehmender Glaubenstiefe bei Paulus (91), der Apostel erfuhr Christus nach seiner Bekehrung "als Gnade, Geist und Leben" (92). Ansonsten - wiederum sehr menschlich - endete Leben und Werk des Paulus - ebenso wie das Jesu - in einem Fiasko (111).

Das umfangreiche Kapitel 5 "Ketzereien um das Pauluserbe" (112-153) vermag nur zu zeigen, daß Paulus eigentlich in seinem engeren und weiteren Erfolgsbereich wenig verstanden wurde. Ist der 2. Thessalonicherbrief eine dreiste Fälschung (124, eine These, die in ihrem Kern nicht neu ist), so versuchen Kolosser- und Epheserbrief paulinische Theologie wenigstens produktiv weiterzuführen (125). Der Autor der Pastoralbriefe, selbst wenig vom paulinischen Geist geprägt, hat sozusagen als "blinder Schüler" (Nietzsche) Paulus für die kirchliche Tradition gerettet (153). Im übrigen sind die Past erst 140 n. Chr. anzusetzen (Verfasser Polykarp?). Ansonsten zeigt das ganze Kapitel, daß die besprochenen Schriften ganz zufällig kanonische Geltung erlangt haben, womit sich für den Autor erweist, daß der Kanon Menschenwerk ist und die Behauptung, die Bibel sei Gottes Wort, eben hinfällig sei.

Theologisch wichtig wird für L. dann der "Erzketzer" Mar-kion (Kap. 6, 151-174) - so wichtig, daß er am Ende des Kapitels dazu auffordert, auf Markion und seinen Schüler Apelles zu hören, um "ihre Heimkehr in die Kirche endlich anzubahnen" (174). Nicht nur lieferte Markion den grundlegenden Anstoß zur Bildung des Neuen Testaments (202-205.210); entscheidende Bedeutung hat seine Theologie: Seine, des Ketzers Position, steht in einer Zeit, die dies nicht mehr begriff, "nahe bei Jesus und Paulus, indem er erkannt und ausgesprochen hat, daß der Mensch auf Gnade angewiesen ist und Gott ihm diese schenkt." (219). "Die Ketzerei ist der Versuch der lebendigen Auffassung der Religion..." (220). Insofern ist gerade die Linie - Jesus, der für das Judentum zum Ketzer geworden ist (215), Paulus und der Erzketzer Markion - eine Garantie für "die Abkehr vom Dogmatisch-Phraseologischen zum Wirklichen des uns geschenkten Lebens..." (222). Allerdings bewirkt nur eine auf historischer Wahrhaftigkeit aufbauende Theologie solche Erkenntnis, die auch auf die Fragwürdigkeit vieler Briefe aufmerksam macht, die nur "im Schlepptau dieses Ketzers (d. h. des Paulus)... ins Neue Testament kamen" (210). Damit ist die Kanonfrage berührt. "Die geschichtliche Betrachtung der Entstehung des ntl. Kanons läßt die Gemäuer von Kirche und Theologie, soweit sie auf dem Neuen Testament als Gotteswort gründen, wie ein Kartenhaus zusammenstürzen." (211). Diese ausgesprochene Lust an der Destruktion, die in diesen letzten Worten wie auch sonst zum Ausdruck kommt, wird jeden gutwilligen Leser, dem (wie auch L.) die Wahrhaftigkeit der historischen Nachfrage am Herzen liegt, veranlassen, dieses - wie viele Anzeigen dokumentieren - gut vermarktete Buch beiseite zu legen. Daran kann auch der Epilog "Zehn goldene Worte" (223) nichts ändern, der zum Schluß eine erbaulich-konstruktive Funktion haben soll und mit dem Verweis auf den Menschen Jesus den Maßstab des Christlichen einbringen will. Dies ist an sich zwar ganz sympathisch, bleibt aber rein thetisch und systematisch unbegründet (auch 214-216), zumal mit der Norm des Menschlichen bzw. des Menschen Jesus eine Art dogmatischer Autorität auftaucht, die ansonsten bekämpft wird.