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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

663–665

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klein, Martin

Titel/Untertitel:

"Ein vollkommenes Werk". Vollkommenheit, Gesetz und Gericht als theologische Themen des Jakobusbriefes.

Verlag:

Stuttgart- Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 256 S. gr. 8o = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 139. Kart. DM 89,-. ISBN 3-17-013697-6.

Rezensent:

Martin Karrer

Seit Luther den Jak in seiner Vorrede dafür lobte, daß er Gottes Gesetz mit viel guten Sprüchen hart treibe, ihn aber wegen seiner Differenz zu Paulus für keines Apostels Schrift erachten mochte, begegnet der Jak überwiegend skeptischen Urteilen (trotz der Aufwertung durch die anderen Reformatoren). Zugleich blieb er in seiner Eigenart nicht ohne Faszination. Gewichtig erschloß M. Dibelius diese von den Gesetzessprüchen - dem inhaltlichen Schwerpunkt, mit dem die Reformation rang - aus. Er entdeckte ein wesentliches Zeugnis urchristlicher Paränese, die sittliche Mahnungen ohne einen direkten Blick auf die Situation reihe (im Kommentar 1921). Etwas später schlug A. Schlatter vor, im Autor des Jak doch Jakobus, dem Bruder des Herrn, mit einer wichtigen Adresse an Juden und Judenchristen zu begegnen (1932). Seine Wirkung war begrenzter. Am wichtigsten würdigte ihn der Katholik F. Mußner (1964), dem daran lag, daß der Jak Anliegen der Verkündigung Jesu fortführe. Im Protestantismus dagegen provozierte die Aufwertung des Autors manchmal eine noch verschärfte antipaulinische Einordnung (bis M. Hengel, FS E. E. Ellis, 1987, 248-278). Seit Anfang der 70er Jahre öffnete sich zugleich die Formbetrachtung. Züge einer Weisheitsschrift wurden entdeckt (Luck, Hoppe), und Situationsbezüge, die Dibelius vernachlässigte, traten hervor (Popkes). Der Jak ließ sich als Brief (s.1,1), der handlungsorientiert Weisheit (insbesondere Sir) rezipiere, neu bewerten (H. Frankemölle im jüngsten wichtigen Kommentar: Der Brief des Jakobus, ÖTK 17, 1/2, Gütersloh 1994).

K.s Studie, eine Bochumer Dissertation (bei H. R. Balz, angenommen 1994), entstand unabhängig von Frankemölles Kommentar, arbeitete ihn zum Druck aber erfreulicherweise noch ein. Die Berührungen in den Einleitungsfragen (Aufwertung der Briefform, Pseudonymität, Datierung spät im 1.Jh., Adresse an die ganze zerstreute Christenheit aus Juden- und Heidenchristen etc.; K. 185-190) zeigen den Forschungstrend. Im allgemeinen ist dieser Trend gut begründet, bei der Autorfrage vielleicht weiterzuentwickeln (der Jakobus von 1,1 könnte auch eine nichtpseudonyme dritte Person des frühen Christentums sein). Das Gewicht der Weisheitstraditionen stuft K. geringer ein als Frankemölle (bis 195, allerdings mit nur zum Teil überzeugender Argumentation, so daß ein mittlerer Weg näher liegt). Mit der Situationsbezogenheit tut er sich, angesichts der Schwierigkeit des Textes zu Recht, nicht leicht (bis 207).

Unter Zugriff auf die allgemeine Rhetorik der Antike versteht K. den Jak näherhin als symbouleutischen Text mit kirchlicher Funktion. Brief- und Argumentationsrhetorik bestimmen seine Gliederung: 1,1 Präskript; 1,2-27 doppelte propositio (Einführung der Themen); 2,1-5,6 argumentatio in sechs Mahnreden; 5,7-11 peroratio; 5,12-20 Briefschluß. Das führt weit vom einstigen Urteil, der Jak reihe nur, ab. Zwischen erster propositio (1,2-18) und Reprise in der peroratio erwächst die theologische Linie des Jak (und K.s Titel der Arbeit): es gehe ihm um "ein vollkommenes Werk" (33-41, 209-214 u.ö.).

Das Leitmotiv verdichtet sich 1,4. Damit berührt K. wieder Frankemölle. Diffizil, doch mit Folgen, unterscheidet sich sein Verständnis von "vollkommen". Frankemölle nuancierte die ethische und religiöse Integrität des Menschen, seine ungebrochene, im Sein und Handeln Gottes gegründete Ganzheit, was mit Mt (5,48; 19,21) übereinstimme (I 204-207, vgl. II 495-499 u.ö.). K. verweist auf die Schwierigkeit weisheitlicher Deutung (gerade unser Zentralbegriff des Jak ist weisheitlich selten) und setzt beim Unterschied zwischen griechischer und biblisch-jüdischer Begriffsfassung an (56 ff. innerhalb 43-81; Belege im wesentlichen nach Literatur, ohne Erweiterung nach dem Thesaurus linguae Graecae): Erstere dominiere ein dynamischer Akzent, die Entwicklung zu einem Ziel; letztere assoziiere nach dem hebräischen "tamim" die Vorstellung von Ganzheit/Ungeteiltheit ohne dynamischen Unterton. Für den Jak ausschlaggebend sei erstere, so daß der Jak sich wesentlich vor griechischem Denken verankert (dafür könnte es vom Briefformular mit dem griechischen "chairein" an noch zusätzliche Indizien geben). Die Vollkommenheit wird zum Ziel der Bewährung des Glaubens in einem Weg über Versuchung und Standhaftigkeit (vgl. noch bes. 1,17.25; 3,2). Ganz gilt es zu sein und darum, in keinem Lebensbereich das ethische Vollmaß zu verfehlen (ein quantitatives Moment, das Frankemölle zurückstuft). Das Mt dagegen stehe primär in der Tradition des hebräischen "tamim"; dort sei das Sein Gottes die Vorgabe (vgl. Mt 5,48 mit Dtn 18,13 und Lev 19,2; S.64 f.,197). Mt und Jak treten deutlicher auseinander. Den Jak kennzeichnet bei aller Klarheit der Gliederung und theologischen Linie weiterhin ein immenses Interesse an der Menge ethischer Normen.

Eine prononcierte theologische Verortung des Jak ergibt sich: Aus dem hellenistischen Judenchristentum erwachsen, führe er das Gesetzesverständnis des hellenistischen Judentums ungebrochen fort. Er verstehe die zwölf Stämme (1,1) der Christenheit (im späten 1.Jh. schon vornehmlich Heidenchristenheit) im Sinne eines entschränkten Diasporajudentums. Vom urchristlichen Missionskerygma (erschlossen aus Apg 17,22-31; 1Thess 1,9 f. etc.) seien ihm der Glaube an den einen Gott und die rechte Lebensführung vor der richtenden Parusie Christi wesentlich, nicht aber der Tod Jesu (der in den knappen christologischen Passagen des Jak, bes. 2,1 und 5,7 f., nicht vorkommt). Ungefähr zur Zeit der Deuteropaulinen zeigt der Jak eine Konzeption der Heidenmission, die mit der Zentrierung des Paulus auf den Tod Jesu und dessen Glaubensverständnis nicht kommensurabel sei (194, 203 nach 163-184 u. ö.). Das Gericht erhalte höchste Bedeutung. Denn beim Gericht finde das vollkommene Werk seine Anerkennung, und umgekehrt verfalle ihm, wer sich auch nur an einem Gebot verfehlt (2,10 ff.). Vor dem Gerichtsgedanken entwickle der Jak auch die eigentümliche, enge Verbindung von Monotheismus und Kyrioschristologie, die ihm seinen eigenen hoheitlich christologischen Ton gibt (163-184).

Trotzdem gibt es auch nach K. viele neutrale Berührungen mit Paulus (vgl. Jak 1,2 ff. mit Röm 5,3 ff. etc.; S. 50 ff. u.ö.). Was von Paulus trennt, bezeugt daher zunächst das eigene Denkgefälle des Jak. Der Rez. würde das auch bei Jak 2,14-26 in Anschlag bringen. K. versteht diese Passage, die das Verständnis des Glaubens ganz auf das Tun richtet, schärfer - und mit der Hauptlinie des jüngeren Protestantismus - als antipaulinisch (197-204 nach 69-78 und 119-161; Jak 2,18 wird dabei S. 71 f. mit Neitzel interpunktiert: "... es wird jemand sagen ,hast du Glauben?', und ich ,Werke habe ich'").

Die Differenzierung regt zu eigener Exegese an. K.s Vortrag ist im ganzen stringent. Seine These beeindruckt. So gibt K. dem Jak mit guten Gründen, eingebettet in die jüngsten Forschungstendenzen, Profil.

Folgen wir ihm, müssen wir Christinnen und Christen einem Anspruch der Vollkommenheit aussetzen, der bis in die Quantität der Normen reicht. Unversehens gelangen wir zur Hermeneutik: Wie soll sich auf die kirchliche Ethik auswirken, daß die Forschung mit dem Jak so gewichtig eine ethische Schrift im Neuen Testament entdeckt? Leitlinie und Normen des Jak werden zur aktuellen Herausforderung.