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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

660–663

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kee, Howard Clark

Titel/Untertitel:

Who Are the People of God? Early Christian Models of Community.

Verlag:

New Haven-London: Yale University Press 1995. VII, 280 S. gr.8o. Lw. £ 22.50. ISBN 0-300-05952-3.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Bemerkenswert an dieser Studie zur urchristlichen Ekklesiologie ist vor allem ihr methodischer Ansatz. In bewußter Abkehr von fragwürdig gewordenen traditionellen Klassifizierungsschemata - wie palästinisches und hellenistisches Judentum, jüdisches und hellenistisches Christentum - bemüht sie sich um die Gewinnung eines Paradigmas, das dem Selbstverständnis der Texte bzw. der hinter ihnen stehenden urchristlichen Gruppen Raum geben soll. Kee läßt sich dabei von den Ergebnissen soziokultureller und wissenssoziologischer Forschungen leiten. Seine Hauptgesprächspartner sind, neben L. Wittgenstein, unter den Neueren P. L. Berger (The Sacred Canopy. Elements of a Social Theory of Religion, Garden City, N.Y. 1969) und C. Geertz (The Interpretation of Culture, New York 1973). Vor allem Geertz folgend, versteht er Kultur als ein geschichtlich vermitteltes Geflecht von in Symbolen gefaßten Bedeutungen, durch welches Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellung zum Leben weitergeben und entwickeln (12). Eine historische Analyse, die sich auf ökonomische Faktoren, archäologische Reste, soziale Strukturen und literarische Zeugnisse beschränkt, greift zu kurz, wenn es ihr nicht gelingt, in das "symbolische Universum" der Gruppe einzudringen, die das in Frage stehende Material hervorgebracht hat, und deren bestimmende Vorstellungen, Ansprüche, Normen und institutionelle Formen zu erschließen (11). Ein das Ergebnis dieser Vorüberlegungen konkretisierender Fragenkatalog umfaßt folgende (hier nur stichwortartig zu benennende) Komplexe: Abgrenzung der Gruppe nach außen; Autorität und Machtstrukturen im Innern der Gruppe; Status und Rollenverteilung der Gruppenmitglieder; für das Selbstverständnis der Gruppe maßgebliche Rituale; Kommunikationsformen und (literarische) Kommunikationsmittel nach innen und außen; Ziele und Funktionen der Gruppe sowie deren Realisierung be-drohende Faktoren; gemeinsame Werte, Hoffnungen, Befürchtungen und ethische Normen.

Ausgehend von diesen Fragen werden zunächst (Kap.1) in knappen, skizzenhaften Strichen fünf verschiedene Gruppenmodelle vorgestellt, die sich aus der Literatur des nachexilischen Judentums erschließen lassen. Es sind dies: (1.) das Modell der Stadt, wo Gott inmitten seines Volkes wohnt (Jes 40-66), bzw. des Tempels und seines Kultes als der einigenden Mitte des Volkes (Ez 45-48; Lev 18-26); (2.) das Modell der rituellen Reinheit der dem Gesetz gehorsamen Gemeinschaft (Esr; Neh; Tob; Jdt; Pharisäer, Sadduzäer und Qumran-Gemeinschaft); (3.) das Modell einer sich auf die Erfahrung der Gegenwart der von Gott gesandten Weisheit gründenden Ge-meinschaft (Sir; Weish; frühe [Dan; äthHen] und spätere Apokalyptik [Bar 4Esr]); (4.) das Modell der mystischen Partizipation im Sinne einer sich auf Kontemplation gründenden Erfahrung und Erkenntnis Gottes (Weish 8; Hld; Philo; Merkaba-Mystik); (5.) das Modell der ethnisch inklusiven, für kulturelle Adaption offenen Gemeinschaften (Jes 60,10; Rut; Est; Jon; 4Makk; Josephus, Contra Apionem).

Das so gewonnene Grundraster wird im Hauptteil des Buches als heuristischer Rahmen für die Erfassung des Urchristentums herangezogen. Der Verf. bemüht sich hier um den Nachweis, daß die genannten fünf Modelle im Neuen Testament ihre Entsprechungen finden, dies freilich in unterschiedlicher Dichte und mit charakteristischen Abweichungen.

Den zeitlichen und sachlichen Anfang markiert das Modell der sich auf die Gegenwart der Weisheit gründenden Gemeinschaft. Es wird vertreten durch die Logienquelle, das Markusevangelium, die echten Paulinen sowie - als späten Zeugen - durch den Jakobus- und 2. Petrusbrief. Jesus erscheint hier als Offenbarer Gottes und als autorisierter Vertreter der kommenden Gottesherrschaft. Kriterium für die Zugehörigkeit zum Heil ist die Anerkennung Jesu als des von Gott Gesandten, deren sichtbares Zeichen die Taufe ist. Bei Markus wird darüber hinaus die Aufgabe der Gruppenmitglieder, Jesu Aktivitäten zu imitieren und ihm auf seinem Weg zum Leiden nachzufolgen, hervorgehoben. Paulus entfaltet den christologischen Ansatz, demzufolge Jesus die Erscheinung der göttlichen Weisheit in menschlicher Gestalt ist, indem er ihn als den darstellt, der von Gott her Versöhnung und Erneuerung bewirkt. Weisheitlich bestimmt ist auch die Offenheit der paulinischen Gemeinden für Menschen unterschiedlicher Herkunft, Befähigung und Lebenshaltung: Die Einheit der Kirche gibt der Vielfalt von Charismen Raum (1Kor 12-14).

Das Modell der gesetzestreuen Gemeinschaft wird (naheliegenderweise) als durch Matthäus repräsentiert gesehen. Leitendes Thema des Matthäus ist die Konstituierung des neuen Gottesvolkes durch Jesus, der als Gesandter Gottes die abschließende Interpretation der Tora bringt. Die für das Leben der Gemeinschaft konstitutive Bergpredigt, enthält eine Mischung von Kontinuität und scharfen Gegensätzen gegenüber der Auslegung des mosaischen Gesetzes in der gegen Ende des 1. Jh.s entstandenden rabbinischen Bewegung. Sie wendet sich nicht gegen "das Gesetz und die Profeten", sondern gegen die Unfähigkeit der selbsternannten offiziellen Interpreten des Gesetzes, den vollen Gehalt von Gesetz und Profeten zur Geltung zu bringen (100).

Als Zeugnisse für das Modell der Gemeinschaft als Stadt, wo Gott inmitten seines Volkes wohnt, werden benannt: der 1. Pe-trusbrief, der paulinische Tradition mit ihrer Mischung von apokalpytischer Erwartung und Anpassung an grieschich-römische Kultur weiterentwickelt, die Offenbarung, die auf apokalyptischer Tradition aufbaut, aber spezielles Gewicht auf die Stadt und den Tempel legt, sowie der Hebräerbrief, der auf mittelplatonische Ontologie zurückgreift, um die zentrale Stellung Jesu als archetypischer Priester und Eröffner des Zugangs zu Gott für das neue Gottesvolk herauszustellen (123). Speziell im Blick auf die Offb kann der Verf. manches Erhellende hinsichtlich der Gewichtung des Stadt-Symbols beitragen. So ist der Hinweis darauf, daß die 7 Sendschreiben die angeschriebenen Gemeinden in besonderer Weise mit den jeweiligen Städten verbinden (132), immerhin bedenkenswert. Sehr viel weniger überzeugend erscheint mir die Durchführung der These beim 1Petr und vor allem beim Hebr gelungen zu sein. Die Behauptung: "The imagery of the city of God is central for the Letter to the Hebrews" (137) setzt nämlich einen unmittelbaren Bezug der Hohepriester- und Opferaussagen des Briefes auf die Vorstellung des Tempels Gottes als der gestaltenden Mitte des Gottesvolkes voraus, der keineswegs als gesichert gelten kann.

Das Modell der durch mystische Partizipation konstituierten Gemeinschaft findet der Vf. im johanneischen Schrifttum ausgeprägt. Er begründet diese Sicht, indem er das JohEv in die Nähe der hellenistisch-römischen mystischen, philosophischen und religiösen Literatur zu rücken sucht. Dabei spielt insbesondere eine platonisierende, sich auf Origenes berufende Interpretation des Johannesprologs (Joh 1,1-18) mit seinem Logosbegriff eine Schlüsselrolle (157-159). Von ihr ausgehend, werden nämlich die zentralen johanneischen christologischen Symbole wie Brot, Licht, Hirt und Herde, Weinstock im Sinne mystischer Anteilhabe an Christus gedeutet. Hier wären einige kritische Rückfragen zu stellen.

Das lukanische Geschichtswerk wird als Zeugnis für das Modell der ethnisch und kulturell inklusiven Gemeinschaft herangezogen. Das hat zumindest darin sein Recht, daß Lukas vom Beginn seines Evangeliums an gleichermaßen die durch Jesu Kommen für Israel eingetretene Erfüllungssituation und die Ausrichtung des Heils auf die Heiden sowie dessen universale Bedeutung betont. Die differenzierte Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Gottesvolk Israel und der Kirche aus Juden und Heiden durch Lukas wird zwar nur ansatzweise erfaßt. Immerhin aber gelingt es dem Vf. zu verdeutlichen, daß der lukanische Ansatz bereits im Judentum vorhandene Motive aufgreift und weiterführt. Die (hier freilich nicht diskutierte) Frage einer möglichen judenchristlichen Herkunft des Lukas gewinnt von da her zusätzliche Brisanz.

K. weist in seiner Studie auf Zusammenhänge hin, die zwar im einzelnen noch einer genaueren Überprüfung bedürftig sind, denen weiter nachzugehen sich aber auf alle Fälle lohnen dürfte. Die von ihm dargestellten Modelle tragen in der vorliegenden Form allerdings nur bedingt zur Erweiterung unserer Kenntnis des Urchristentums und dessen Gemeinschaftsstrukturen bei. Und zwar aus mehreren Gründen.

Zum einen handelt es sich bei diesen Modellen lediglich um idealtypische Konstrukte, die in keinem einzigen Fall restlos mit konkreten urchristlichen Gemeinschaftsstrukturen zu Deckung gebracht werden können. Noch am ehesten entspricht die hinter dem MtEv stehende Gemeinschaftsstruktur dem vorausgesetzten Modell der Gemeinschaft der Gesetzestreuen. Doch selbst hier bleiben auffällige Differenzen. So fällt es schwer, die für dieses Modell vorausgesetzte Dominanz von Verfassungsstrukturen und Ämtern (99 f.) für die Kirche des Matthäus wahrscheinlich zu machen. Der Augenschein spricht eher für das Gegenteil! Daß Paulus dem Modell der auf die Gegenwart der Weisheit gegründeten Gemeinschaft wenn überhaupt, dann nur höchst bedingt zugeordnet werden kann, sollte deutlich sein. Der Vf. selbst räumt ein, "that Paul used other models as well in his depictions of both Jesus and the new community" (251). Aber er blendet diese prinzipiell zugestandenen Bezüge des Paulus auf andere "Modelle" konsequent aus, mit der Folge, daß die Vielfalt der Faktoren, welche das Selbstverständnis der paulinischen Gemeinden bestimmen, zugunsten einer schematischen Eindimensionalität verkürzt wird. Ähnliches gilt kaum weniger für die übrigen Modelle.

Ein gewisses Defizit sehe ich ferner darin, daß die traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht hinreichend zur Sprache gebracht werden. Die Frage nach dem Woher der für die einzelnen Modelle maßgeblichen Traditionen und Motive, nach den Überlieferungsträgern und den die Überlieferung prägenden Milieus bleibt durchweg offen. Das bedeutet einen Verzicht auf jene Konkretion, wie sie speziell im Rahmen einer soziologisch orientierten Fragestellung erwünscht wäre.

Schade finde ich es auch, daß Kee neuere nicht-englischsprachige Literatur nahezu durchweg unberücksichtigt läßt. Es liegt zwar in der Natur der Sache, daß sich bei einem so weitgespannten Thema Literatur nur in eng begrenzter Auswahl anführen und heranziehen läßt. Aber die Diskussion mit wenigstens einigen neueren Ansätzen der internationalen Paulus- und Johannesforschung hätte sich zweifellos klärend und bereichernd ausgewirkt.