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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

835–837

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kahl, Werner

Titel/Untertitel:

New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 259 S. gr. 8o = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 163. Lw. DM 88,-. ISBN 3-525-53845-6.

Rezensent:

Bernd Kollmann

Das vorliegende Werk ist die unter Betreuung von H. Boers an der Emory University in Atlanta (USA) entstandene Dissertation von K., der inzwischen in Deutschland im Pfarramt tätig ist. K. geht es darum, den Vergleich ntl. Wundergeschichten mit religionsgeschichtlichen Parallelen unter Struktur- und Form-aspekten methodologisch abzusichern und zu präzisieren. Er konzentriert sich dabei auf diejenigen Wundergeschichten, die von Wiederherstellung der Gesundheit einschließlich Wiederbelebung handeln. K. liefert mit seiner Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur formkritischen Erforschung antiker Wundererzählungen. Getrübt wird die Lesefreude lediglich durch zahlreiche ungebräuchliche oder allenfalls dem eingeweihten Textlinguistiker geläufige Kürzel, die immer wieder zum Zurückblättern in das Abkürzungsverzeichnis nötigen.

In seiner kritischen Bilanzaufnahme des erreichten Forschungsstandes (13-36) konstatiert K. ein zweifaches Defizit. G. Theißen, der ansatzweise strukturalistische Aspekte in die religions- und formgeschichtliche Untersuchung ntl. Wundergeschichten miteinbezieht, befinde sich auf dem richtigen Weg. Er lasse aber eine abgesicherte methodologische Grundlegung vermissen, wie sie von der nicht-theologischen Textwissenschaft entwickelt wurde. Umgekehrt sei bei den wenigen, hauptsächlich französischsprachigen Versuchen, strukturale Analyse auf Wundergeschichten anzuwenden, die Bedeutung des religionsgeschichtlichen Vergleichs nicht erkannt worden. K. will nunmehr beides unter einen Hut bringen, indem er die Gestalt ntl. Wunderheilungsberichte und ihrer Parallelen aus der Umwelt mit Hilfe der Textwissenschaft als der angemessenen Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs analysiert. Zugrundegelegt werden die strukturalistischen oder semiotischen Arbeiten von V. J. Propp, A. Dundes und A. J. Greimas, wobei zwischen strukturalen narrativen Einheiten (Motifeme) und ihren Realisationen (Motife, Allomotife) unterschieden wird. Vorrangiges Ziel von K. ist es, die rund 150 einbezogenen Wundergeschichten aus dem NT und seiner Umwelt in ihre Komponenten (Motifeme) zu zerbrechen, deren wechselseitige Beziehung zu erfassen und schließlich die Realisation der Motifeme auf der Stufe der Motife oder Allomotife zu vergleichen.

Die Ergebnisse des strukturalistischen religionsgeschichtlichen Vergleichs können sich sehen lassen. Aufgrund einer Fülle wichtiger Einzelbeobachtungen gelingt K. der Nachweis, daß sich das von A. J. Greimas entwickelte, von E. Güttgemanns und H. Boers ansatzweise in die ntl. Forschung eingeführte Erzählschema tatsächlich auf ntl. Wundergeschichten und ihre antiken Parallelen anwenden läßt. Wiederherstellungserzählungen seien durch eine Dynamik gekennzeichnet, die von einem Mangel an Gesundheit oder Leben zur Überwindung dieses Mangels führe. Diese Überwindung (lack liquitated) geschehe durch die mirakulöse Handlung eines aktiven Subjekts, das für seine Aufgabe besonders vorbereitet sei, so daß sich letztlich ein viergliedriges Strukturschema mit den Komponenten lack, preparedness, performance, sanction ergibt. Diese narrativen Einheiten (Motifeme), die über disparate Kulturkreise hinweg konstant bleiben, können nun durch variable Motife oder Allomotife in unterschiedlicher Weise gefüllt werden.

Besonders bedeutungsvoll erscheint mir in diesem Zusammenhang K.s differenzierte Betrachtung des gleichermaßen dehnbaren wie vielstrapazierten Begriffes Wundertäter. K. unterscheidet hier zwischen den Funktionen eines Trägers, Vermittlers und Bittstellers numinoser Macht (bearer, mediator, petitioner of numinous power). Der Träger numinoser Macht kann das Wunder völlig selbständig bewirken. Der Vermittler numinoser Macht hingegen lenkt durch magische Praktiken oder physischen Kontakt (z. B. Handauflegung) göttliche Kraft auf den Hilfsbedürftigen. Die Tätigkeit des Bittstellers numinoser Macht schließlich beschränkt sich auf die Anrufung und Aktivierung einer transzendenten Größe, die das Wunder ohne sein Zutun bewirkt. Diese Unterscheidung wirft nicht nur Licht auf die disparaten wunderchristologischen Konzeptionen der Evangelisten (216-232), sondern ermöglicht nach K. zudem eine Präzisierung des traditionsgeschichtlichen Milieus einer Wundergeschichte. Denn die Auswahl von Allomotifen sei nicht ausschließlich durch individuelle Gestaltungsabsicht und Kreativität, sondern auch durch kulturelle Beschränkungen des Erzählers bestimmt. Im Judentum schließe das Konzept von Gott als demjenigen, der alle Wunder bewirkt, menschliche Träger numinoser Macht aus. Wenn Jesus in den ntl. Heilungswunderberichten in Analogie zu Apollonius von Tyana als innerweltlicher Träger numinoser Macht begegnet, repräsentiert er in idealtypischer Weise den hellenistischen Theios Aner.

Kaum zutreffend ist freilich K.s These, eine Doppelfunktion des Wundertäters als Vermittler und gleichzeitiger Bittsteller numinoser Macht sei "almost non existent in the pagan Greco-Roman world", jedenfalls vor dem 2. Jh. n. Chr. nicht nachweisbar und daher genuin jüdisch (84.235). Hier sei allein an die unzähligen antiken Magier erinnert, die durch Gebete, Opfer und Beschwörungen die Kraft transzendenter Gottheiten oder Dämonen wirksam zu machen suchten und damit numinose Macht nicht nur aktiv vermittelt, sondern auch erbeten haben. Nicht zuletzt verdienen diesbezüglich solche von K. unberücksichtigten Gestalten wie Pythagoras oder Empedokles Erwähnung, die als Heiler und Entsühner Kontakt zum Jenseits herstellten. Die von K. ausgemachten "Ökotypen jüdischer und heidnischer griechisch-römischer Milieus" (239) halten somit, zumindest was die scharfe Abgrenzung voneinander angeht, kritischer religionsgeschichtlicher Prüfung nur bedingt stand.

Eine weitere wichtige Beobachtung K.s besteht darin, daß die grundlegenden Motifeme einer jeden Wundergeschichte in unterschiedlicher Weise betont sein können und dies Rückschlüsse auf die Funktion einer Erzählung zuläßt, "the function of a miracle story can usually be identified by noting on which motifeme a story is focused" (173). In kritischer Abgrenzung gegen jene Formgeschichte, wie sie von Bultmann und Dibelius ohne klare Kriterien der Klassifizierung entwickelt worden sei, geht es K. um die strukturale innernarrative Funktionsbestimmung von Wundergeschichten. Es gebe zwei Grundtypen, mit dem Fokus entweder auf der Vorbereitetheit des Trägers numinoser Macht oder auf der Aktivität um Hilfe flehender Subjekte. Da die von der klassischen Formgeschichte aufgeworfene Frage nach einem der Form korrespondierenden soziologischen "Sitz im Leben" gänzlich aus dem Blick gerät, droht K. hier freilich in das zu verfallen, was Bultmann einst als ein nur "ästhetisches Betrachten" der Formen für zu wenig befand.

Insgesamt zeigt die Untersuchung K.s, wie eine behutsame Anwendung strukturalistischer oder semiotischer Methodik zu einem besseren Verständnis und einem präziseren Erfassen der Gestaltwerdung antiker Wundergeschichten beitragen kann. Sowohl der kulturkreisübergreifend konstante Erzählrahmen als auch dessen durch Kreativität wie Milieugebundenheit zustandekommende variable Füllung werden anschaulich erhellt. Für das vorliterarische Stadium ntl. Wundergeschichten ist der Ertrag von K.s Untersuchung wegen ihrer Ausklammerung der Frage nach dem "Sitz im Leben" und nach historischen Motiven eher gering. Ohne Zweifel lesenswert macht sie der Erkenntnisgewinn, der sich hinsichtlich der individuellen wie milieugebundenen Bearbeitung der Wundergeschichten durch die Evangelienschreiber ergibt.