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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

670–673

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frankemölle, Hubert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sünde und Erlösung im Neuen Testament.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. 223 S. 8 = Quaestiones Disputatae, 161. Kart. DM 48,-. ISBN 3-451-02161-7.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Der Titel des Bandes, der Beiträge einer Tagung der "Arbeitsgemeinschaft der Deutschsprachigen Katholischen Neutestamentler" im April 1995 in Straßburg vereint, überrascht, insofern die Opposition "Sünde - Erlösung" für das Neue Testament nicht signifikant ist (so nur Kol 1,14 [vgl. Hebr 9,15; Apk 1,5; 1Joh 3,8]). Die Themenformulierung der Tagung lautete demgegen-über: "Sünde und Befreiung von der Sünde" (7,11). Sachlich wä-re für den neutestamentlichen Befund die umgekehrte Anordnung adäquater (vgl. die exegetischen Beiträge: A. Stimpfle, 122; H. Merklein, 144). H. Frankemölle fordert einführend (9-17), daß die exegetische Rede von Sünde/Befreiung von der Sünde "weit mehr" zu sein habe als ein "Sprechen im Elfenbeinturm der Wissenschaft..." (11), sie vielmehr "nur im Kontext konkreter Lebenssituationen..." unter Einbeziehung einer Reflexion der Rezeptionsbedingungen geführt werden könne (17).

Auf der Linie der so gekennzeichneten Desiderate liegen die fundamentaltheologischen, befreiungstheologischen und "bibelpsychologischen" An-stöße der drei letzten Beiträge, die hier nicht näher vorgestellt werden können. Instruktiv schreiben T. Schmeller über "Sünde und Befreiung von der Sünde im NT - befreiungstheologisch gelesen" (185-201) und A. Bu-cher über ",Es liegt an jedem einzelnen zu verzeihen'. Psychologische Anmerkungen zur Rezeption biblischer Texte über Vergebung" (202-218). Nur angemerkt sei, daß die fundamentaltheologische, von philosophischen Fragestellungen her angegangene Konzeption der Sünde als Bestreitung der guten Geschöpflichkeit bei J. Werbick ("Die biblische Rede von Sünde und Erlösung im Horizont der Grunderfahrungen des modernen Menschen": 164-184; vgl. 176 f.; 182: Jesus Christus als ",Auslöser'", der "für den verlorenen, ,eliminierten' Schöpfungssinn" stehe) z. T. in erheblicher Spannung zu den Resultaten der exegetischen Beiträge steht.

H.-J. Klauck arbeitet unter der Fragestellung "Heil ohne Heilung?" die Rückkoppelung metaphorischer Rede von "Sünde und Vergebung" im Neuen Testament mit ihren primären le-bensweltlichen Erfahrungshorizonten heraus (18-52). Unter Einbeziehung der kleinasiatischen Beicht- und Sühneinschriften aus dem 2./3. Jh. n. Chr. werden medizinische, soziale, finanzielle, forensische, rituelle, kommunikative, theologisch-fachsprachliche, existentielle u. a. "Paradigmata" auf die ihnen zu-grundeliegenden lebendigen Erfahrungswerte befragt.

Die Durchführung des Ansatzes gelingt in überaus einleuchtender und stimulierender Weise. Zur ,Anreicherung' der einzelnen Paradigmen wird man eingeladen (vgl. noch Lk 16,1-13 zum monetären Paradigma [31]; Lk 13,1-5 zum ,fachsprachlichen Paradigma' [42]; die Vorstellung ,himmlischer Bü-cher', von Gerichtsszenarien oder auch Mk 3,29; 14,64 par; Mt 5,21 f.; 1Kor 11,27; Hebr 2,15; Jak 2,10 zum ,forensischen Paradigma' [32-34]). K. markiert das hermeneutische Problem, daß Metaphern auch gefährlich sein bzw. "in schwer auflösbare Aporien führen" können (47), möchte hierhin aber nicht ohne weiteres die kultische Sühne-Metaphorik rechnen (versagt aber z. B. für den Hebr in "Gänze" "...jede Abwehrtaktik" gegen eine opfertheologische Deutung [37], wenn dieser, wie K. selbst feststellt, auf eine "zutiefst unkultische Aussage" abzielt [38; vgl. Hebr 10,4.11.18]?). Für Lk 15,11-32 wird konstatiert, daß Sündenerkenntnis als Einsicht in die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen erst retrospektiv von der Wiederaufnahme in die Lebensgemeinschaft des Vaters her möglich sei (45). Wäre von hier aus der grundsätzlichen Aussage der Schlußüberlegungen: "Initium est salutis notitia peccati" (50) eine Aussage über das ,principium salutis' vorzuordnen?

J. Maier macht in seinem voraussetzungsreichen Beitrag über "Jüdisches Grundempfinden von Sünde und Erlösung in frühjüdischer Zeit" (53-75) die Realisierung einer überindividuellen bedrückenden Sündenschuld in Stimmen des Frühjudentums (vor allem für Qumran; das hellenistische Judentum bleibt ausgeklammert; vgl. Merklein, 139 ff.), welcher ein "tief empfundenes Abhängigkeitsverhältnis von den Sühnefunktionen des Kults und zugleich ein erwählungstheologisch begründetes, individuelles Verantwortungsbewußtsein im Rahmen der Gesamtheit ,Israel' bzw. der Gruppe..." korrespondiere (63), gegenüber einer exklusiv an der Problematik von sühnbaren Einzelvergehen bzw. forensischen Gesichtspunkten orientierten Perspektive geltend (54, 56 f., 59 Anm.17, 69). Hierbei kommt die Frage in den Blick, inwieweit der Majorität frühjüdischer Volksfrömmigkeit kulttheologische Lösungen überhaupt er-schwinglich waren (64 f., 71).

Anders benennt P. Fiedler ("Sünde und Sündenvergebung in der Jesustradition": 76-91) traditionsgeschichtliche Voraussetzungen der "Vergebungsbotschaft Jesu" (81) und insistiert auf dem Vorzeichen der an keine Bedingung geknüpften göttlichen Vergebungsbereitschaft, die zwischen Jesus und seinen jüdischen Zeitgenossen unstrittig gewesen sei (79). Die Verkündigung Jesu kommt in enger Korrelation zur Heilsbotschaft schon des Täufers zu stehen (82 mit Verweis auf Lk 1,76-79).

Der Beitrag läßt sich als eine Untermauerung des durch H. Frankemölle zitierten Satzes von J. B. Metz verstehen, nach dem "Jesu erster Blick... nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen" gegolten habe (10). Für diese Sicht spricht die relativ geringe Anzahl von ,Sünde'-Belegen bei den Synoptikern. Die Kriterien der Rekonstruktion bleiben bei F. jedoch z. T. unklar, wenn beispielsweise die Sünder-Mahlgemeinschaft Jesu "ins Reich ,wissenschaftlicher Legende'" verbannt (83, unter Berufung auf H. Schürmann) und Mk 2,5b aufgrund seiner Singularität als nachösterliche Bildung qualifiziert werden (86 f. - auf dem gleichen Weg wäre etwa Lk 10,18 Jesus abzusprechen, wofür ,Echtheit' vorausgesetzt ist [83]; vgl. anders auch Klauck, 22-26, 52).

Dem Befund im Joh-Evangelium nähern sich auf unterschiedlichem Weg M. Hasitschka ("Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium": 92-107), der eine sychrone Textanalyse von Joh 1,29-34; 8,21-30.31-59; 9,1-41 bietet, und A. Stimpfle ("Ihr seid schon rein durch das Wort [Joh 15,3a]": 108-122), dessen Beitrag mit einer - m. E. in vielen Punkten diskussionsbedürftigen - Methodenreflexion anhebt (108-112), um in der Durchführung vor allem an die den semantischen Umkreis der joh ,Sünde'-Belege prägende "ausgesprochen antithetische und dualisierende Terminologie" zu erinnern (118).

Eine umfassend ausgearbeitete differenzierte These stellt schließlich H. Merklein unter dem Titel "Paulus und die Sünde" zur Diskussion (123-184). M. analysiert unter Einbeziehung weiterer paulinischer Aussagen den Röm als das "einzige Schreiben, in dem Paulus eine Art Hamartiologie" entwerfe (123), wobei es ihm im Kern um die Frage des paulinischen Gesetzesverständnisses geht.

Sünde ist nach M. für Paulus auf der Basis eines traditionell jüdischen Verständnisses (139 ff., 159 ff.) durchweg als Gesetzesübertretung qualifiziert (vgl. zu Gal 3,12b/Lev 18,5LXX; Röm 2,13: 124 f.; zu Röm 2,15: 127; zur "Sünde der Glaubenden": 154 ff.) und hat ihre Realität als "übersummative Größe" (130, 134) einzig in dem das ,Rühmen' ausschließenden (vgl. 126, Anm. 8 gegen R. Bultmann; aber 160 f.) konkreten Sündigen des Menschen (Röm 5,12 [130, 136, 145 ff. gegen die Auffassung der Sünde als "Verhängnis" bzw. ,mythologische' Größe]).

Das ,Gesetz' führe die Erkenntnis der Sünde herbei (129), ermögliche und teile ihre eschatologische ,Anrechnung' mit (131 f.), stürze "die Sünder in die eschatologische Perspektivlosigkeit" (135 f. zu Gal 3,19; Röm 5,20; 7,5), werde darin aber gerade als positiver "Antagonist der Sünde" bzw. gegenüber dem Tod als die "Metaebene" bestätigt (135, 137). Der soteriologische "Paradigmenwechsel" "von den Werken des Gesetzes zum Glauben" (142 f.) hängt nach M. maßgeblich an der Prämisse der traditionellen Sühnetodaussage (1Kor 15,3; Gal 1,4; Röm 4,25; 3,25 f. [149 ff.]).

M.s Ausführungen, die unter dem Eindruck des im deutschsprachigen Raum mit dem Römerbriefkommentar von U. Wilckens, im angelsächsischen Bereich vor allem mit den Arbeiten E. P. Sanders' verknüpften Perspektivenwechsels stehen (vgl. 124 f. mit Anm. 4, wo M. sich zugleich von Sanders abgrenzt), sind durch seine bekannten Beiträge zur Paulusforschung auf breiter Basis abgestützt und bedürften in ihren vielen weiterführenden Anstößen (vgl. z. B. 129 Anm.19; 142 f. zu den biographischen Hintergründen; 159 ff. die hermeneutischen Überlegungen) einer ausführlicheren Würdigung und Diskussion, als sie hier möglich sind. Zu beachten ist durchgängig, daß M.s Beitrag sich in vielerlei Hinsicht überzeugend gegen eine traditionelle Auffassung richtet, nach der paulinisch das ,Gesetz' eine der ,Sünde' äquivalente todesträchtige "Macht" darbiete. Um gleichwohl wenigstens ein paar Fragen zu stellen: Die Rede von der Sünde in Röm 7 impliziert auch den Aspekt der Tatsünde. Aber ist sie darauf zu beschränken und ist sie von mythologisch-dämonologischen Aspekten ganz frei? Inwieweit läßt sich für Röm 7 "die Freiheit des menschlichen Willens" (146) geltend machen? Ist das ,Gesetz' so bestechend glatt von einer aktiven Rolle in bezug auf die Sünde fernzuhalten (136, 144)? Läßt sich z. B. Röm 7,5 (,durch das Gesetz') auf das ,Ausweisen' der Leidenschaften der Sünden beschränken (136), und wie paßt 1Kor 15,56b in die Rekonstruktion (vgl. 148, 154 Anm. 86)? Läßt sich die paulinische Argumentation so exklusiv von der traditionellen Sühneaussage her entwickeln (vgl. auch die Erwägungen zur ,Ableitbarkeit' des Liebesgebotes: 159)?

Insgesamt enthält gemäß der ehrwürdigen Tradition der von H. Schlier und K. Rahner begründeten Reihe "Quaestiones Disputatae" auch dieser sehr anregende Band quaestiones disputandae et in partes contrarias disputabiles multae.