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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

669 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Finsterbusch, Karin

Titel/Untertitel:

Die Thora als Lebensweisung für Heidenchristen. Studien zur Bedeutung der Thora für die paulinische Ethik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 221 S. gr.8 = Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 20. Geb. DM 68,-. ISBN 3-525-53375-6.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Die Arbeit hat sich zum Ziel gestellt, "einen Beitrag zu der Frage zu leisten, ob und wie die Thora in den paulinischen Briefen für die überwiegend heidenchristlichen Gemeinden Lebensweisung ist" (185; nach den ,Loccumer Richtlinien' ist die Schreibweise ,Tora' zu empfehlen). Damit ist eine Doppelfrage formuliert, die in der gegenwärtigen Forschungssituation mit einigem Interesse rechnen kann. Insbesondere ihr zweiter Teil ist einer allgemein anerkannten Gesamtlösung noch kaum zugeführt. Leider muß festgestellt werden, daß eine solche mit dem vorliegenden Buch nicht wesentlich nähergerückt ist.

Die Arbeit ist nach einer kurzen Einleitung (11-13) in vier Kapitel von ganz unterschiedlicher Länge gegliedert ("2. Die Thora als Maßstab für gerechtes Handeln von Juden und Heiden: Röm 2,12-16", 15-21; "3. Zum Zusammenspiel von Sünde und Thora im alten Äon", 39-55; "4. Was die Thora im neuen Äon nicht leistet", 57-96; "5. Die bleibende Verbindlichkeit der Thora als Maßstab ethischen Handelns: Thora für Heidenchristen", 97-184). Sie enthält drei Exkurse ("Zum Problem der Verleihung der Thora an Israel und ihrer Gültigkeit für die Völker im Spiegel jüdischer Literatur der tannaitischen Zeit", 22-30; "Die Thora für die Heiden im Spiegel jüdischer Literatur der tannaitischen Zeit", 31-38; "Der Teil und das Ganze: Die ,ganze Thora' als Topos in der rabbinischen Literatur der tannaitischen Zeit", 103-106); ein kurzer Schlußteil (185-187) und ein Literaturverzeichnis (189-221) schließen das Buch ab.

Die für die Problemstellung der Arbeit grundlegende Analyse von Röm 2,12-16 führt u. a. zu der Folgerung, daß einerseits die Tora mit universaler Gültigkeit für Heiden und Juden vorauszusetzen ist, daß aber andererseits "Heiden neben Israel einen Sonderweg in bezug auf thoragemäßes Verhalten gehen können" (21), der durchaus inhaltlich und in Differenz zur "Sinaithora" (20 und passim) bestimmt werden kann. Es erfolgt freilich weder hier noch an anderer Stelle eine am Text aufgewiesene Begründung für eine von der Tora unterschiedene "Thora für Heidenchristen" (186 und passim); eine entsprechende Herleitung für die These, "daß Heiden neben Israel einen Sonderweg in bezug auf thoragemäßes Verhalten gehen können" (21), aus frühjüdischen Texten kann weder in theologischer noch genetischer Hinsicht überzeugen. Es bleibt vielmehr die Frage offen, wie die universale Gültigkeit der Tora mit ihrer Geltung auch für Heidenchristen so zusammenzudenken ist, daß die von Paulus vorausgesetzte Unteilbarkeit der Tora gewahrt bleibt.

Um diese Fragestellung voranzutreiben, hätten vorliegende Ergebnisse und Vorarbeiten stärker berücksichtigt werden müssen, insbesondere zum frühjüdischen Gesetzesverständnis und seiner Paränese (das gilt keineswegs nur für die nach der Annahme der Dissertation im Wintersemester 1993/94 nicht mehr berücksichtigte Literatur; die oftmals pauschalen und z. T. fehlerhaften - vgl. z. B. 73 Anm. 72, 181 Anm. 442 - Verweise auf weit über 500 Titel der Sekundärliteratur lassen wichtige Fragen offen). Man erwartet vergeblich Hinweise auf die Frage, wie der Brückenschlag von frühjüdischer Paränese als aktualisierender Tora-Interpretation zu der des Paulus vorzustellen ist. In dieser Hinsicht wäre der christologisch begründete Perspektivenwechsel in seiner auch die Substanz der Tora betreffenden Bedeutung für das paulinische Gesetzesverständnis zu berücksichtigen und z. B. zu fragen, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang etwa die kulttypologische Interpretation des Kreuzestodes Jesu hat - immer unter Berücksichtigung des frühjüdischen Wurzelgrundes, auf dem die theologische Arbeit des Paulus erfolgt. Das erfordert freilich einen behutsamen, methodisch gesicherten Umgang mit den entsprechenden Texten. Besonders irritierend wirkt in diesem Zusammenhang die Auswahl und der Gebrauch frühjüdischer Literatur. Einerseits wird - neben spärlichen ,zwischentestamentlichen' Texten - eine Vielzahl rabbinischer Texte ausführlich angeführt, ohne daß jeweils eine einleitungswissenschaftliche Verortung vorgenommen wird, andererseits stellt die Autorin fest: "Die rabbinische Literatur ist Fachliteratur, die vor allem die internen Fachdiskussionen der Rabbinen enthält. Für einen Vergleich mit der paulinischen ,Thoraethik' ist sie deshalb kaum geeignet" (183, Anm. 445).

Indessen war der Arbeit offenbar nicht das Ziel gesetzt, die Genese der Geltung der Tora weiter aufzuhellen und auf diesem Wege nach ihrem vorausgesetzten Umfang zu fragen. Das mag die merkwürdige Auswahl frühjüdischer Texte erklären. Welche heuristische Funktion die Vielzahl rabbinischer Texte für die bearbeitete Fragestellung hat, wird freilich nicht erklärt. Der Eindruck liegt nahe, daß auf diese Weise eine synchrone Perspektive genuin diachronen Fragestellungen oktroyiert wird.

Die Rede von einem Sonderweg der Heidenchristen im Blick auf die Gesetzeserfüllung ist m. E. mißverständlich und historisch unangemessen. Die annähernd die Hälfte des Buches einnehmende Frage nach der bleibenden Verbindlichkeit der Tora für Heidenchristen (Kap. 5) thematisiert freilich diese inhaltliche Frage nicht; hier geht es lediglich darum, mit Hilfe der Methode des ,semantischen Feldes im Sinne von Berger' (13.108.186 u. ö.) bereits weitgehend anerkannte Ergebnisse zu bestätigen. So wird kaum sichtbar, wo etwas die neutestamentliche Forschung Bereicherndes als Ergebnis der Arbeit festgehalten werden kann.

Immerhin ist aber dem allgemein formulierten Fazit zuzustimmen, die Arbeit habe wahrscheinlich gemacht, "daß Paulus seine ethischen Ausführungen als Auslegungen von Weisungen der Thora verstanden wissen wollte" (187). Was das bedeutet, ist weiter zu fragen.