Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/1997

Spalte:

802–804

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Eck, Ernest van

Titel/Untertitel:

Galilee and Jerusalem in Mark's Story of Jesus. A Narratological and Social Scientific Reading.

Verlag:

Pretoria: Faculty of Theology (Section A), University 1995. VIII, 455 S. 8 = Hervormde Teologiese Studies, Supplementum 7. ISBN 0-9583208-5-3.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Das anzuzeigende Buch hat sich die Integration verschiedener, in der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung weithin divergierender Methodologien zum Ziel gesetzt. Dieses Ziel ist angesichts der Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit der Forschungslandschaft grundsätzlich zu begrüßen, vor allem dann, wenn integrative Verfahren zu grundsätzlichen Klärungen, Mo-dellen und exemplarischen Anwendungen führen. Van Ecks Buch gehört zu den Versuchen, vor allem literaturtheoretische (speziell narratologische) und historisch-soziologische Ansätze miteinander zu verbinden. In diesem Sinne geht es nicht um einen historischen Jesus, sondern um einen markinischen - hier nun aber nicht lediglich um entsprechende literarisch-narrative Aspekte, sondern um deren historischen Sozialbezug: Wie wird das soziale Bezugsfeld des Markus und seiner intendierten Adressaten zu der sozialen Konstellation, in der Jesus als Protagonist auftritt, und welchen Niederschlag findet das im Text - wie also ist das Markusevangelium als Medium einer entsprechenden Kommunika-tion zu begreifen?

Van Eck gelingt eine Forschungsorientierung, die in der Historik seit einiger Zeit in verstärktem Maße angemahnt wird, und in der es um Fragen solcher Art geht: Wie wurden soziale Erfahrungen den literarischen Texten eingeschrieben; wie kann die Eigenart eines historischen Textes als literarisches Produkt gewahrt und zugleich seine historische Referenz erfaßt werden?

Van Eck führt eine exemplarische Anwendung dieser Fragerichtung vor, indem er die das Markusevangelium prägende geographische Opposition von Jerusalem und Galiläa untersucht. Jerusalem und Galiläa werden als Interessenssphären, als Symbole, die bestimmte Interessen versinnbildlichen, im Aufriß der Markus-Erzählung erfaßt und auf sozialwissenschaftliche Kenntnisse der Mittelmeerwelt des ersten Jahrhunderts bezogen. Die Verbindung von narratologischer und soziologischer Analyse er-möglicht es, den Text in seiner sozialen Programmatik - bezogen auf die intendierte Kommunikation - zu lesen, und auf diese Weise der Pragmatik des Markusevangeliums nachzuspüren.

Van Eck schildert wichtige Stationen der gegenwärtigen Ga-liläa-Jerusalem-Debatte; sie nahm ihren Ausgangspunkt bei Ernst Lohmeyer, dessen Ermordung sich 1996 zum 50. Mal jährte, und dessen Buch ,Galiläa und Jerusalem' 1936 erschien. Sein Anliegen wurde aufgenommen von Lightfoot (Locality and Doctrine in the Gospels, 1938), Marxsen (Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, (2)1959) und Kelber (The Kingdom of Mark. A New Place and a New Time, 1974). Mit diesen Veröffentlichungen gelang es erstmals, die theologische Codierung der im Markusevangelium erzählerisch gestalteten geographischen Opposition zwischen Galiläa und Jerusalem und zugleich den historischen Bezug dieser Codierung zu befragen. Der historische Bezug führte zu theologischen Folgerungen, insbesondere zu der eschatologischen Akzentuierung, die ein schlüssiges Verständnis der fraglichen Opposition ermöglichte. Die literarkritische Analyse (van Iersel, Rhoads und Michie, Petersen, Malbon, Kingsbury) erfaßte die Galiläa-Jerusalem-Opposition unter Bezug auf die Darstellung des Weges Jesu im Markusevangelium. Ihr gelang es, den literarischen Charakter des Textes stärker zu berücksichtigen. Anhand des geographischen Weges Jesu kann sein Weg ins Leiden als Konflikt zwischen seinem Handeln in Galiläa und der entsprechenden negativen Bewertung und Feindschaft in Jerusalem dargestellt werden. Die ideologiekritische Analyse (Belo, Myers, Waetjen) versteht den geographischen Gegensatz in politischem Sinne. Diese politische Opposition determiniert Jesu Weg ins Leiden.

Daraus ergab sich die Folgerung, daß sein Handeln selber politisch-ökonomisch orientiert war. Van Eck versucht, auf diesen Linien weiterzugehen, indem er das Markusevangelium nicht le-diglich als historisches Dokument (Referenz der erzählten Zeit), sondern als historische Erzählung (Referenz der Erzählzeit) wahrnimmt und entsprechend befragt. Das impliziert eine vertiefte Berücksichtigung sowohl der literarischen Form als auch der soziologischen Analyse. Van Eck drängt in diesem Sinne auf eine stärkere Grundierung der Interpretation in den sozio-ökonomischen, kulturellen, politischen und religiösen Realitäten des geschichtlichen Kontextes. Zugleich ist vermehrt darauf zu achten, wie welche Interessen bei der narrativen Gestaltung realisiert wurden, und wie diese auf die Kontexte der intendierten Adressaten zu beziehen sind.

Das führt zu einer Skizze der gegenwärtigen literatur-soziologischen Debatte. Hier wird daran gearbeitet, die Kontextu-alität historischer Texte methodisch zu erfassen. Narrative Welten können wie andere ,Welten' als Konstrukte symbolischer Formen und sozialer Bezüge analysiert werden. Es geht darum, die Schnittstellen zwischen narrativer und referenzieller Welt bzw. die wechselseitigen Bezüge von literarischen, theologischen und soziologischen Aspekten im Text zu erblicken (Petersen, Elliott). Die Geschichte Jesu wird im Markusevangelium einer symbolischen Welt eingeschrieben, die es historisch zu erschließen gilt. Es gelingt van Eck, die Vielfalt der soziologischen Facetten (z. B. im Blick auf Ehre und Scham, Schirmherrschaft und Abhängigkeit, dyadische Persönlichkeitsstruktur, Ritus, Krankheit und Heilung, Reinheit und Befleckung, Verwandtschaft und Tischgenossenschaft, soziale Etikettierung und abweichendes Verhalten) aufzuzeigen und auf diese Weise die Botschaft des markinischen Jesus historisch zu kontextualisieren. Das Gottesverständnis des markinischen Jesus unterschied sich tiefgreifend von dem vorherrschenden seiner Umwelt - re-präsentiert durch den Symbolnamen Jerusalem. Er vermittelte Gottes Hinwendung zu allen Menschen, insbesondere denen, die sozial (rituell, kulturell, religiös usw.) diskriminiert und ausgegrenzt waren. Kerninhalt der markinischen Jesus-Botschaft ist die rettende Gegenwart Gottes, die - durch Jesus vermittelt - jedem offensteht. Diese Botschaft wird nach van Eck (er unterstreicht die pragmatische Dimension der vorgeführten Methode) auch zu einer Anfrage an die christlichen Kirchen heute.

Mir scheinen besonders die ausholenden methodologischen Überlegungen des Buches wert, in der laufenden Debatte Gehör zu finden. Über weite Strecken wirkt der Bezug auf die gewählte markinische Thematik wie eine exemplarische Veranschaulichung des methodisch Erschlossenen. In dieser Hinsicht ist der kommunikative Stil, der eingehende Referate und ausführliche Zitate nicht scheut, hervorzuheben (deutschsprachige Beiträge werden freilich weitgehend nur in forschungsgeschichtlicher Hinsicht referiert). Demgegenüber verwundert die relativ summierende Arbeit am Markustext; sie beruht weitgehend auf Referaten entsprechender Sekundärliteratur. Die Register bedürfen dringend der Durchsicht. Van Ecks Buch zeigt, daß die konstruktive Integration bisheriger Forschungsansätze manche Engführung und Ausblendung überwinden helfen kann. Sein Beitrag bereichert nicht nur die Forschung am Markusevangelium, sondern erweitert auch die Debatte um die neutestamentliche Methodologie und ihre Grundlagen.