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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

667–669

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

deSilva, David Arthur

Titel/Untertitel:

Despising Shame. Honor Discourse and Community Maintenance in the Epistle to the Hebrews.

Verlag:

Atlanta: Scholars Press 1995. 371 S. 8 = Society of Biblical Literature, Dissertation Series, 152. Kart $ 24,95. ISBN 0-7885-0201-8.

Rezensent:

Hans-Friedrich Weiß

Nach einer Reihe vorbereitender Studien, von denen hier besonders die Studien "Despising Shame: A Cultural-Anthropological Investigation of the Epistle to the Hebrews" (JBL 113, 1994, 439-461) und "The Noble Context: Honor, Shame, and the Rhetorical Strategy of 4 Maccabees" (JSP 15, 1995, 31-57) genannt seien, legt der Vf. mit diesem Buch nunmehr seine Dissertation an der Emory University vom Jahre 1995 vor. Es handelt sich dabei um eine für eine Dissertation erstaunlich ausgereifte Studie, bei der der Rez. gleich zu Beginn betonen möchte, daß er im Verlauf der eigenen Arbeit am Hebräerbrief (Hebr) - was die umfangreiche Sekundärliteratur zum Hebr betrifft - nur selten eine Arbeit mit so großer Spannung und dementsprechend auch mit so großem Gewinn gelesen hat wie diese.

Ausgangspunkt bzw. Voraussetzung für dieses Buch ist dabei die inzwischen wohl zum Gemeingut der Hebr-Forschung ge-wordene Erkenntnis, daß der Autor des Hebr mit seiner "oratio" (Hebr 13,22! ) seinerseits tief in den Gepflogenheiten der antiken Rhetorik verwurzelt bzw. - genauer - auf seine Weise an dem in der spätantiken Literatur weit verbreiteten Diskurs um "Honor" and "Shame" beteiligt ist, dies eine Erkenntnis, die als solche weit über alle formalen Feststellungen zu Charakter und Aufbau des Hebr hinausführt und weitreichende Konsequenzen für das sachlich-inhaltliche Verständnis des Hebr, nicht zuletzt in diesem Zusammenhang auch für die Frage nach den ur-sprünglichen Adressaten des Hebr in ihrer Zeit und Welt hat. Mit des Vf.s eigenen Worten gesagt: "Honor Discourse" und "Community Maintenance" sind hier nur die zwei Seiten ein und derselben Sache - und dies nun eben unter dem (im An-schluß an Hebr 12,2 formulierten und bereits das eigene Grundanliegen des Autors des Hebr in den Blick nehmenden) Thema "Despising Shame".

Konkret bzw. forschungsgeschichtlich gesehen bedeutet dies, daß sich in der vorliegenden Arbeit rhetorische Analyse (vgl. dazu bes. 30 ff.) organisch mit einer bestimmten durch (J. G. Peristiany, B. Malina, J. H. Neyrey u. a inspirierten) anthropo-logischen Methodik verbindet und in diesem Sinne eine "socio-rhetorical strategy" auch - und gerade - im Hebr auszumachen versucht. Von diesen methodologischen Voraussetzungen her gesehen bringt der Autor des Hebr sich mit seiner "oratio" gezielt in den die antike Mittelmeerwelt, ihre Kultur und damit auch die "Mediterranean society" bestimmenden Diskurs um die Wertordnung ("value") von "Honor" und "Shame" ein bzw. verfolgt seinerseits eine "socio-rhetorical strategy" (27), indem er dem "what the dominant culture evaluated as honorable" seinerseits das entgegensetzt, "what the Christian minority group held up as honorable" (18 ff.). Um es wiederum mit des Vf.s eigenen Worten zu sagen: "As in texts which promote adherence to the values and commitments of other minority cultures, whether Jewish communities or Greco-Roman philosophical schools, so the Letter to the Hebrews urges the Christians to 'despise shame' before the eyes of the dominant culture whose values differ from or op-pose those of the minority culture" (314).

Noch konkreter formuliert: Der Autor des Hebr ist in seiner "Trost- und Mahnrede" (13,22) durch die Absicht bestimmt, seinen (durch die in der "dominant culture" geltenden Wertmaßstäbe verunsicherten) Adressaten eine aus spezifisch christlichen Prämissen - und d. h. letztlich: aus dem urchristlichen christologischen Kerygma - entfaltete "Wertordnung" zu vermitteln. Diese spezifisch christliche "Wertordnung" will bzw. soll den Adressaten - nicht zuletzt auch angesichts dessen, daß die traditionellen Werte der dominierenden antiken Kultur durch das (Judentum und) Christentum in Frage gestellt werden (146 ff.), wie auch angesichts der Ausgrenzung der Christen aus dem dominierenden Wertesystem (156 ff.) - zu einer neuen Identität und Integrität verhelfen und sie zugleich als eine Art "counter-society" konstituieren - eben im Gegenüber zu einer durch die traditionelle Wertordnung "Ho-nor" und "Shame" bestimmten Kultur und Gesellschaft (150 ff.) Auf diesem Wege und auf diese Weise kommt es im Hebr folgerichtig zu "Counter-definitions of the Honorable and Disgraceful in Hebrews" (so die Kapitelüberschrift 145 ff.), auf diesem Wege und auf diese Weise aber auch zu Beobachtungen zum "subversiven" Charakter der neuen Frömmigkeit (150 ff.) im Gegenüber zur "Dominant Cultural Rhetoric" (28 ff.).

Es versteht sich von selbst, daß in diesem Zusammenhang die, zugegebenermaßen relativ wenigen aussagekräftigen Be-zugnahmen des Hebr auf den gegenwärtigen Status der Adressaten, so vor allem Hebr l0,32-34, besondere Berücksichtigung finden (154 ff. sowie 200 ff.); das Bemühen des Vf.s ist indes darüber hinaus durchweg darauf gerichtet, die eigentliche, für den Hebr charakteristische Begründung für die den Adressaten erneut zu vermittelnde Identität und Integrität nirgendwo anders als im zentralen christologischen (und soteriologischen) Kerygma zu sehen. Dementsprechend wird im 5. Kapitel (209 ff.) ausführlich (unter der Überschrift "The Honor of Christ") die chri-stologisch-soteriologische Position des Hebr dargelegt; charakteristisch für die Argumentationsweise des Autors ist es aber auch hier wieder, daß im selben Kapitel (244 ff.) die Konsequenzen eines "Exchanging Favor for Wrath: The Violation of the Patron", konkret also die akute Gefährdung der Adressaten des Hebr, erörtert werden, hier dann u. a. auch mit besonderer Berücksichtigung der überaus scharfen Warnungen des Hebr (260 ff., zu Hebr 6,4-8 und 10,26-31). Am Ende steht hier im Hebr in der Tat die "Construction of an Alternative Court of Reputation" (so die Überschrift des 6. Kapitels, 276 ff.) wobei die "Community of Faith" durchaus den "Visible Court of Re-putation" darstellt (284 ff.), "The Basis of the Christian's Ho-nor" freilich ihrerseits wiederum christologisch-soteriologisch begründet ist (289 ff.).

Nicht zuletzt macht es die Eigenart und - zugleich - den Vorzug dieses Buches aus, daß sein Autor im Zusammenhang der Einbeziehung des Hebr in den gemein-antiken Diskurs um "Ehre" und "Schande", vor allem in den einleitenden Kapiteln 2 und 3 (28 ff. "Honor, Shame, and Dominant Cultural Rhetoric " und 80 ff: "Honor, Shame, and the Rhetoric of Minority Cultures") ausführlich die analogen Phänomene in der antiken Mittelmeerwelt erörtert, und zwar nicht nur - was im Falle des Hebr ohnehin naheliegt - in der jüdischen bzw. jüdisch-hellenistischen Literatur (vgl. 99 ff. zum Sirachbuch, zur "Weisheit Salomos" und insbesondere zum 4. Makkabäerbuch), sondern auch im griechischen und römischen philosophischen Schrifttum (vgl. 80 ff. zu Plato, Seneca und Epiktet). Auf diese Weise wird einmal mehr die eigenartige Zwischenstellung des Hebr in der Philosophie- und Religionsgeschichte der Spätantike deutlich, zugleich aber auch sein Verwurzeltsein in der antiken Kultur und Gesellschaft.

Die Hauptsache ist jedoch bei alledem: Mit diesem Buch ist - ausgehend von einer "sozio-rhetorischen" Betrachtungsweise des Hebr - ein nach Meinung des Rez. maßgeblicher Durchbruch zu einer konsequent Adressaten- und Leser-orientierten Lesart des Hebr gelungen, die die von vornherein auf Kommunikation mit den Adressaten angelegten tröstenden, ermahnenden und warnenden Textsegmente des Hebr ebenso berücksichtigt wie seine eher "dogmatisch" ausgerichteten christologischen und soteriologischen Partien (insbesondere Hebr 7,1-10,18!). So gesehen leistet die vorliegende Studie - um es wiederum mit dem Vf. selbst zu sagen - nicht nur einen gewichtigen Beitrag zur Interpretation des Hebr, "but also to the understanding of how minority groups in the Hellenistic world could use the language of honor and dishonor to maintain their group cohesion and commitment" (27).

Daß der Vf. im Verlauf seiner Darlegungen und insbesondere dann noch einmal im 6. Kapitel (314 ff.: "Conclusions") den Blick über den Hebr hinaus auch auf das gleichzeitige neutestamentliche Schrifttum, so insbesondere auf den 1. Petrusbrief, ausweitet, ist nichts weniger als angemessen. Denn was speziell für den Hebr und seine Adressaten gilt - nämlich: "These networks of honor and shame... serve now to preserve the integrity of the minority group, enabling its members to maintain their commitment to its counter-ideals in the face of a dominant culture eager to assert the ultimacy of its own" (320) - genau dies hat unmittelbare Bedeutung für das gesamte neutestamentliche Schrifttum der sogenannten nach-apostolischen Zeit. Nicht zu-letzt von daher gesehen, primär aber gewiß im Blick auf das Grundverständnis von Eigenart und Anliegen des Hebräerbriefes selbst, sollte dieses mit Bibliographie und Registern (321-371) reich ausgestattete Buch für jeden, der nach wie vor mit der "dogmatisch-christologischen" Position des Hebr seine Schwierigkeiten hat, zur Pflichtlektüre gehören. Denn wenn überhaupt, dann ist solcherlei Vorbehalten gegenüber dem Hebr nur dadurch zu begegnen, daß auch dieses Buch des Neuen Testaments in seinem "Rede"-, und d. h. ja immer zugleich: in seinem Anrede-Charakter an konkrete Hörer bzw. Leser verstanden wird. Auf diesem Wege zum Verständnis des Hebr hat das vorliegende Buch einen entscheidenden Schritt getan.