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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

548–550

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Davidsen, Ole

Titel/Untertitel:

The Narrative Jesus. A Semiotic Reading of Mark's Gospel.

Verlag:

Aarhus: Aarhus University Press 1993. X, 404 S. gr. 8° Lw. dKr 198.-. ISBN 87-7288-423-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Diese theologische Dissertation von O. Davidsen (Aarhus 1992) will seine Lektüre des Markusevangeliums mit Hilfe der Semiotik dokumentieren. Einleitend (Introduction, 3-21) verweist der Vf. auf den methodischen Neuansatz, der vor rund 25 Jahren durch die seinerzeit neu eingeführten Zeitschriften Linguistica Biblica (Bonn), Semeia (Missoula) und Sémiotique et Bible (Lyon) signalisiert worden war. Seine eigene Analyse basiert im Wesentlichen auf den Kategorien und der Methodik von A. J. Greimas und C. Bremond, die er im einzelnen differenziert und verfeinert. Er beansprucht damit, die semiotische Theorie in eine angewandte Semiotik zu überführen (18). Sein Ziel ist es, die grundlegende semiotische Struktur des Markusevangeliums zu bestimmen (14). Damit grenzt er sich ab von einer auf die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu zielenden historischen Evangelienexegese.

Teil I (Narrative Exegesis, 25-53) erläutert die von D. angewandte Terminologie und Methodik und ihre theoretischen Grundlagen. Dabei wird klar, daß seine Analyse nichts mit dem zu tun hat, was inzwischen als "narrative criticism" einen festen Platz unter den Methoden der Evangelienexegese bekommen hat (vgl. z. B. ThLZ 117, 1992, 587f.). Bei der narrativen Exegese im Sinne des Vf.s geht es nicht um die Wahrnehmung und Auswertung sprachlicher Signale und Strukturen an der Text-oberfläche der Erzählung, sondern um eine Rekonstruktion der narrativen Prozesse, die der Erzählung zugrunde liegen. Solche narrativen Prozesse sollen sich aus der semiotischen Bestimmung von Rollen und "narrative acts" ergeben. Von den drei Hauptrollen, die nach solcher Bestimmung im Evangelium Jesus zukommen, leiten sich die folgenden drei Hauptteile des Buches ab.

Teil II (The Wonder-Worker, 57-102) will anhand der thematischen Rollen Jesu in den Wundererzählungen (Heiler, Exorzist, Hirte) seine narrative Rolle als Protektor herausarbeiten. Dazu wird ein Inventar aller Wundererzählungen des Markus-evangeliums erstellt, aus dem anschließend die einzelnen Er-zählfiguren nach semiotischen Kategorien zu thematischen Rollen gruppiert werden. Als letztlich allen Wundererzählungen zugrundeliegenden "narrativen Prozeß" filtert D. die Sequenz heraus, die Markus in dem Summarium 1,34 zur Sprache bringt: Jesus heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten.

In Teil III (The Proclaimer, 105-217) und IV (The Savior, 221-328) unterscheidet D. zwischen zwei "sub-narratives", einer über die Beziehung zwischen Gott und Jesus und einer über die Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern (vgl. 19). Die erste wird gebildet durch die Folge von Taufe, Kreuzigung und Auferweckung und zeigt Jesus in der Rolle des Retters. In die zweite sind alle die Figuren und Vorgänge einbezogen, die etwas mit der Verkündigung des Evangeliums zu tun haben (z. B. die Aussendung der Jünger, die Frauen am Grab Jesu, aber auch das Evangelium selbst als Verkündigung an seine Leser). Hier erscheint Jesus in der Rolle des Lehrers. Bei der Analyse des Inhalts der Verkündigung verwendet D. mit Vorliebe eine Terminologie, die er vom biblischen Bundesgedanken abgeleitet hat (covenantal lord, covenantal servant, gift, take etc.), um so im Evangelium "the covenant's structure of exchange" (301) nachzuweisen. Das gesamte christologisch-soteriologische Ge-schehen wird in dieses Schema gezwängt. Teil V (The Christ Myth, 331-372), zieht einige theologische Schlußfolgerungen und stellt erneut den Unterschied der angewandten Methodik zur "historischen Exegese" heraus.

Die Ergebnisse sind für den, der an einem besseren Verständnis des Textes des Markusevangeliums interessiert ist, bescheiden. Wenn z. B. bei dem aufwendigen Verfahren, mit dem D. die Wundererzählungen behandelt, nicht mehr herauskommt als das Summarium Mk 1,34, dann fragt man sich, wozu wohl entweder die vielen Erzählungen des Evangeliums oder aber die ganze semiotische Analyse gut sind. Und das Ergebnis: "The Markan narrative is basically a christological gospel composition". (356, Hervorhebung von D.), ist auch nicht gerade eine Überraschung.

Die Lektüre des in sehr gut verständlichem Englisch ge-schriebenen Buches wird dadurch erschwert, daß beinahe in jedem Kap. eine neue Fachterminologie eingeführt wird. Längst nicht alle dieser Kategorien sind im Teil I erläutert worden. Das Sachregister ist gerade wegen seiner Ausführlichkeit (z. B. 41 Einträge unter "story" oder 47 unter "subject of being", meist auf mehrere Seiten verweisend) wenig hilfreich. Die zahlreichen Tabellen, Grafiken und Übersichten sind eher ermüdend als erhellend, die Formalisierung der Erzählungen grenzt oft ans Banale. Die erzählerische Vielfalt und Lebendigkeit des Evangeliums erstickt in einem engmaschigen Netz von Begriffen, Kategorien und Formeln.

Die Abgrenzung, die D. gegenüber der "historischen Exegese" vornimmt, ist alles andere als überzeugend. Bezugspunkt seiner Kritik ist eine Exegese, die einseitig an der historischen Rekonstruktion des Wirkens Jesu interessiert ist. Als ihre Repräsentanten begegnen fürs Grundsätzliche Bultmanns "Geschichte der synoptischen Tradition", für die Markusexegese R. Peschs Kommentar und für die Wundergeschichten G. Theißens Monographie von 1974. Einige weitere Arbeiten werden lediglich in ein oder zwei Anmerkungen erwähnt und abgefertigt. Im Grunde wird allen diesen Autoren aber nichts anderes vorgeworfen, als daß sie nicht D.s Methode angewandt haben. Gegenüber der gegenwärtigen Markusexegese erscheint eine solche Sicht vollends als Karikatur. Sie wird aber offenbar von D. überhaupt nicht wahrgenommen (z. B. der Sammelband "Der Erzähler des Evangeliums", hg. v. F. Hahn, oder die Bücher von W. Kelber, J. D. Kingsbury, B. M. F. van Iersel u. a.). Ignoriert werden nicht nur Arbeiten zur Erzählungsanalyse, sondern ebenso solche zur literarischen Gattung oder zur Gleichnisinterpretation, alles Themen einer gegenwärtig sehr lebendigen Diskussion, die keineswegs einseitig an der historischen Rekonstruktion orientiert ist.

Es mag sein, daß D. einen Forschungsbeitrag zur biblischen Semiotik geleistet hat. Das mögen die Spezialisten auf diesem Gebiet beurteilen. Wer aber an der Integration neuer Ansätze in die Methodenvielfalt der biblischen Exegese interessiert ist, wird das Buch enttäuscht zur Seite legen. Wer seinen eigenen Ansatz derart verabsolutiert und dabei alle anderen gegenwärtigen Bemühungen um eine bessere Wahrnehmung des Textes des Markusevangeliums ignoriert, gerade auch solche, die verstärkt sprachwissenschaftliche Methoden einbeziehen, der kann nicht erwarten, in die exegetische Diskussion einbezogen zu werden.