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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

665–667

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bloomquist, L. Gregory

Titel/Untertitel:

The Function of Suffering in Philippians.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1993. 235 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 78. Lw. £ 35,-. ISBN 1-85075-383-0.

Rezensent:

Nikolaus Walter

Bloomquists Arbeit, für deren verspätete Besprechung ich um Entschuldigung bitten muß, hat sich das Motiv des "Leidens" im Philipperbrief zum Thema gesetzt. Es wird in den drei ersten und den vier letzten Kapiteln des Buches behandelt; in der Mitte stehen drei Kapitel zur rhetorisch-strukturalen Analyse des Briefes mit einer grundsätzlichen Einführung zur Methodik - für B. von großem Gewicht.

Zunächst aber (Teil I = Kap. 1-3, 17-80) wird die Auslegungsgeschichte des Philipperbriefs, von Ignatius und anderen frühchristlichen Autoren an bis zur Gegenwart, in instruktiver und anregender Weise dargestellt, wobei sich B. durchaus nicht auf das Thema Leiden im engsten Sinne beschränkt, sondern immer auch weitere Grundfragen des Verständnisses bzw. Vorverständnisses einbezieht. Ist der Verstehens-Ansatz in der frühesten Periode geprägt vom Bedrohtsein durch staatlich auferlegtes Martyrium, so vergeistigt sich später der Begriff des Leidens, unabhängig von der politischen Situation, und wird auf das durch Leiden (im Kampf gegen die Sünde) bewirkte Vereinigt-Sein mit Christus bezogen. Das führt seit etwa 1870 bis hin zu Albert Schweitzer zum Ausbau des Konzepts der "Christusmystik", die nicht mehr nur im willentlichen, sondern in übernatürlich-naturhaftem Sinne als Vereinigung mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen schon im irdischen Leben (unter der Wirkung des Geistes) gedeutet wird, in einer Art "re-aler präsentischer Eschatologie" (A. Deißmann).

Erst A. Schweitzer bringt dann auch stärker das futurische Element sowie eine überindividuell-kosmische Sicht zur Geltung. Unter Schweitzers Einfluß wird dann der eschatologische Vorbehalt stärker unterstrichen; jetzt werden eher die "Gegner" im Phil als Vertreter des theios-aner-Konzepts verstanden, die sich selbst als Verkörperungen Christi sehen (H. Windisch verstand Paulus selbst in diesem Sinne!). Lohmeyer explizierte in seinem Kommentar dann die Martyriumsmystik, die den Absender und die Empfänger untereinander und so mit Christus verbinde, wobei das Martyrium pneuma-spendende und somit offenbarende Kraft und Wirkung habe. E. Käsemann sieht die Manifestation des Christus im Leiden, in der Schwachheit des Apostels, so daß Leiden zur "angemessenen Erscheinungsform des apostolischen Christusdienstes" wird (H. D. Wendland). Dagegen steht dann Güttgemanns' These, daß von der Teilhabe an Christi Leiden nicht in ontologischem, sondern in funktionalem Sinne die Rede sei. In gleiche Richtung, gegen ein ontologisches oder "mystisches" Verständnis, weist auch Karl Barths Auslegung, nach der Paulus in seinem Leiden die notwendige Voraussetzung für das Voranbringen der Verkündigung sieht. In dieser Linie sieht B. auch die interessante Exegese von J. F. Collange sowie die Auslegung G. Friedrichs. Schließlich ist Daniel Patte für B. von besonderer Bedeutung (66-69, vgl. noch 193 f); sein semiotischer Strukturalismus ist der Ansatz, den B. in Verbindung mit epistolarisch-rhetorischer Analyse weiterführen will.

So spricht nun Teil II (Kap. 4-6, 71-138) über "Briefstruktur und rhetorische Funktion". Gegen Deißmanns Annahme, die Paulusbriefe seien den nichtliterarischen Briefen (und deren Regeln) zuzuordnen, bezieht sich B. auf J. Sykutris, der für die Einordnung als "Lehrbriefe" plädiert und sie neben Epikurs oder Senecas Briefe stellt. Damit sieht nun B. - mit vielen anderen Exegeten in der Gegenwart - die Schemata der rhetorischen Handbücher der (Spät-)Antike als geeignet für die Erfassung der Briefstruktur an, ohne zunächst einmal zu fragen, ob es das paulinische Briefmuster überhaupt gibt, ob nicht vielmehr der Röm ganz anders (nämlich im wesentlichen tatsächlich als lehrbriefartiger Traktat) einzuordnen wäre als z. B. der 1Kor und dieser wieder anders als der Phil (um von Phlm ganz zu schweigen).

Sofern rhetorische Handbücher überhaupt Briefe im Blick haben, können sie nur gegebene Texte auf bestimmte Strukturen hin analysieren; aber der umgekehrte Schluß - vom rhetorischen Schema auf den konkreten Brief - ist m. E. apriori verfehlt. Auch sollte man zuerst überlegen, in welcher Art von "Schule" Paulus seine hellenistische Bildung bezogen hat und ob in ihr "Rhetorik" vorkam. Er schrieb die Briefe, die die Situation von ihm forderte und die er daraufhin schreiben wollte. Auch der Satz, ein Brief sei nur der Ersatz für persönliche Präsenz, der natürlich sein Richtiges hat, sollte nicht übersehen lassen, daß es auch für persönliche Präsenz sehr verschiedene Möglichkeiten (Besuchszwecke u. a.) gibt und daß mancher Brief sogar trotz persönlicher Präsenz nötig ist, wie jeder vom Beispiel des "Offenen Briefes" her weiß; auch der Autor möchte in wichtigen Anliegen erst einmal bis zu Ende aussprechen, woran ihm liegt, ehe der Faden durch ein lebhaftes Gespräch verloren gehen kann.

B. blättert das Arsenal der rhetorischen Terminologie auf (Kap. 4; 72-96), und trotz einiger nachträglicher Bemerkungen zur grundsätzlichen Relativierung dieser Weise, mit gegebenen Briefen umzugehen (95, mit beherzigenswertem Zitat von D. Aune), überwiegt die Versuchung, den Phil von vorgegebenen literarisch-rhetorischen Schemata her zu analysieren (Kap. 6; 119-138), auch da, wo das offensichtlich gegen den Strich geht.

Vorher war aber noch die Frage der Einheitlichkeit des Phil zu klären (Kap. 5; 97-118). Die Argumente für eine Aufteilung des Briefes werden ausgesprochen überzeugend dargestellt, die für seine Einheitlichkeit (ohne diese These ist man ja zur Zeit schon ausgesprochen "altmodisch") dagegen weniger, zumal sogar in einer Vergleichstabelle für Phil 1,18b-2,18/3,1-21 (+4,1)/4,10-20 (102 f) der mittlere Teil gerade nicht so abgegrenzt wird, wie es alle "Briefteiler" tun (die 3,1a noch zu Phil 2 rechnen), so daß nun das Motiv "Freut euch" zum verbindenden Motiv beider Briefteile wird, ja dann sogar auch 2,20 der mittleren Spalte (Phil 3) zugeordnet wird.

Andererseits hatte B. zunächst (107) Phil 1,12-4,20 als das Briefkorpus ("body") bezeichnet, während er dann (110 f) feststellt, daß bereits in 2,19-30 ein regelrechter Korpusschluß vorliegt und daß auch weiterhin Korpusbeginn ("body opening"), eigentliches Korpus ("body middle") und Korpusschluß ("body closing") mehrfach abwechseln; in der Tabelle auf S. 117 scheinen die weit deutlicheren Befunde der vorangehenden Analyse (104-116, vgl. z. B. 111 Mitte) zu einem Teil wieder vergessen zu sein. Schließlich hat der Phil nach B. eben drei Briefkorpora - gerade das hatten ja auch die "Briefteiler" behauptet; und daß jeweils auch Briefschluß-Wendungen begegnen (besonders eindeutig in 2,25-30, s. S. 109-111, aber auch in 4,7 und 4,19-20, s. S. 112 und 116), ist für die Einheitsthese kaum günstig. Da erscheint die Rede von einer "scientifically ascertained foundation" für die Einheitsthese (117) doch als reichlich kühn.

Teil III (Kap. 7-10 und Conclusion, 139-197) kommt nun wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen und untersucht den Phil im exegetischen Durchgan auf die Funktion des Themas "Leiden" hin; die Teile des Briefes heißen nun Praeparatio (1,1-1,18a), Argumentatio I (1,18b-2,18) und Argumentatio II (2,19-4,7, also in kühnem Schwung über die vorher eindeutig festgestellte conclusio 2,25-30 - s. oben - hinweg), jeweils mit Unterabschnitten. Der für B. entscheidende thematische Ge-sichtspunkt ist durchaus bedenkenswert (ganz abgesehen da-von, ob man ihn in Phil 3 und 4 noch als Thema erkennt oder nicht): Paulus zeigt den "Christus-Typ" des in Erniedrigung Leidenden als einen auch für ihn selbst und (freilich nur als rhetorische Motivation, nicht als Reflex wirklicher Erfahrungen der Glaubenden in Philippi) für die angeredete Gemeinde vorbildhaften Typ auf. Wie Christus ein leidender Knecht Gottes war, so ist es auch Paulus - und so sollen es die Philipper auch sein (194 f). So weit, so gut. Was ich zum Thema "Leiden" in B.s Arbeit vermisse, ist - trotz aller Beteuerung der Situationsbezogenheit der paulinischen Rhetorik - ein wirkliches Eingehen auf den Verstehenshorizont der Leser.

In einem Beitrag zum Thema hatte ich diese Frage gestellt (in der Schürmann-Festschrift "Kirche des Anfangs", 1977, 417-434), aber B. hat diesen Punkt offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen; er verweist nur bei ganz nebensächlichen Details auf diesen Aufsatz. Welche Gedanken dürften bzw. mußten einem griechischen (bzw. für Philippi: römisch-hellenistischen) Leser zum Thema "Leiden um des Gottes/der Gottheit willen" gekommen sein? Ich bin sicher, daß Paulus darüber angesichts mancher Erfahrungen nach seinem ersten Aufenthalt in Philippi in "seinen" Gemeinden nachgedacht hat und daß er darüber gerade in Phil mit seinen Lesern reflektieren wollte, um ihre inzwischen gemachten, für sie bestürzenden Erfahrungen zu deuten (das geschieht grundlegend in 1,27-30; aber auch die Einbeziehung des sogenannten Christus-Hymnus in 2,6-11 hat gewiß damit zu tun; für B. dagegen bleibt die Funktion von 2,6-11 "primarily rhetorical" [195]).

Aber sonst kann ich seinem Satz im Schlußabschnitt gern zustimmen: es sei der "Christ type" zu sehen "as a dynamic motor that does not allow believers the complacency of a static existence, but moves them, as Christ was moved, by God's grace towards future fulfilment" (197).