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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

828–831

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baker, William R.

Titel/Untertitel:

Personal Speech-Ethics in the Epistle of James.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. XVI, 364 S. gr. 8o = Wissenschaftl. Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 68. Kart. DM 128,-. ISBN 3-16-145958-X.

Rezensent:

Martin Karrer

Der Mensch ist ein sprechendes Wesen. Das beschäftigt nicht erst in unserem Jh. Philosophie und Theologie. Schon in der Antike war dies ein breit behandelter Gegenstand. Von der Weisheit bis zur Philosophie beobachtete man den redenden Menschen, und das hieß in der Regel: den laut redenden. Denn das ausgesprochene Wort dominierte. Laut wurde meist auch dort gesprochen, wo wir uns heute leise gebärden, vom Suchen nach Gedanken und Plänen angefangen bis hin zum persönlichen Gebet. So war zu hören, wie jemand mit den Menschen und Gott (den Göttern) verkehrte, was er/sie bekannte, dachte und wünschte. Der Jak setzt das zu hörende Wort voraus (vom Bitten nach 1,5 f. über das Übel der Zunge 3,6 bis zu den Rufen der Arbeiter vor Gott, die um ihren Lohn betrogen sind, in 5,4).

Der Jak greift damit einen umfangreichen Gegenstand antiker Philosophie und Ethik auf. Von Ägypten über Israel bis Rom wurde reflektiert, wo und wann man sprechen solle, was sich mit Sprache sagen lasse, wie das Gesagte sich zu den Gegenständen verhalte, welche Elemente die Syntax der Sprache ausmachten etc. (vgl. nur Philo, somn. 2,159 ff. u. ö.). Plato (Kratylos u. ö.) und Aristoteles (Peri hermeneias, Poetik u. ö.) legten die bis heute wichtigen Grundlagen der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft etc. Diese Grundlagen sind inzwischen gut erschlossen. Die Ethik des Sprechens ist es weniger.

B. erkennt die Lücke. Einzigartig ("uniquely") suche seine Studie - eine in Aberdeen entstandene, zum Druck am St. Louis Christian College überarbeitete Dissertation -, sie zu schließen, verweist der Klappentext den Leser. Den Ausdruck "Sprachethik" - oder besser "Ethik des (persönlichen) Sprechens" ("personal speech ethics") - prägt B. dazu (nach S. 2 im wesentlichen neu). Als Ausgangspunkt wählt er die These, Sprachethik übergreife den antiken Raum ohne wesentliche Kulturdifferenzen. Auf den Jak konzentriert er sich, da dieser den neutestamentlichen Höhepunkt der Sprachethik biete (1 ff.). Umgebende Antike und Jak will er darstellen. Sein Programm erweckt hohe Erwartungen.

In der Einlösung stellt B. die ethischen Implikationen der antiken Sprachphilosophie zurück, ohne das zu thematisieren (die genannten Schriften Platos und Aristoteles' erscheinen in seiner Studie nicht). Er beschränkt sich auf Themen der konkreten Ethik, die er aus dem Jak abstrahiert. Die Teile seiner Arbeit ordnet er dementsprechend. Kapitelweise behandelt er die Topoi, die er im Jak - dessen Aufbau grob folgend - behandelt sieht. Zuerst sucht er die Parallelen in altorientalischer Weisheit (Ägypten etc.), Judentum (Altem Testament, Apokryphen, Qumran, Rabbinen), griechisch-römischer Literatur, bei Philo (offenbar als Brückenschlag zwischen den Teilen verstanden) und im Neuen Testament. Dann kehrt er zum Jak zurück - oder, um genauer zu sein, kommt erst eigentlich zu ihm -, legt dessen s. E. zugehörige Abschnitte aus und analysiert an ihnen die Position des Jak zu den behandelten Topoi.

Die Teile der Arbeit behandeln: I "Anfangsgründe" ("rudiments") der Sprachethik (kontrolliertes Sprechen; Hören; Worte und Taten; die Macht der Worte) und Jak 1,19-27 (23-104), II das Übel der Zunge und Jak 3,1-12; 4,1-2b (105-138), III Sprache in zwischenmenschlichen Beziehungen (Klatsch, Verleumdung, Spott, Fluch, Hitzköpfigkeit, Schmeichelei, Taktlosigkeit, Meineid, Parteilichkeit und Tadel) und Jak 3,18; 4,1-2b.11-12; 5,9 (139-185), IV Sprechen in der Mensch-Gott-Beziehung (Lobpreis, Gebet und Blasphemie) und Jak 4,2c-10.13-17; 5,13-18; 1,5-8 (187-248), zuletzt V die Beziehung des Sprechens zur Wahrheit und Jak 5,12 (249-282).

Die Möglichkeit, im Arbeitsteil I die Grundlagen der Sprach-ethik je nach Eigenarten der Kulturkreise aufzuspüren, stellt B. zugunsten seiner motivlichen Gliederung zurück. Daher ergeht es der altorientalischen Weisheit etc. letztlich ähnlich wie der angesprochenen griechischen Philosophie. Jeder antike Bereich kommt nicht in seinem eigenen Gefüge zur Behandlung, sondern zerteilt nach den von B. entworfenen Teilaspekten. Die Nähe der Normen über Kulturen und Zeiten hinweg (B. geht gern weit ins alte Ägypten etc. zurück; 23 u. ö.) ergibt sich zum Teil durch diese Eigenart des Sammlungsverfahrens. Die Gegenprobe, ob sich die weitgehend einheitliche antike Sprach-ethik auch bei gesonderter Behandlung Ägyptens, Mesopotamiens etc. bis Rom ergibt, bleibt zu liefern. Differenzen, die B. natürlich auch erkennt (bis ins Ergebnis 284 ff.), ergeben dann vielleicht einen größeren Zusammenhang, signifikante Entwicklungen stellen sich heraus (hellenistische Vereinheitlichungen etc.).

Was den Jak angeht, erkennt B. mit einem breiten Strom gegenwärtiger internationaler Forschung die primäre Einbettung in die Weisheit und bestätigt sie durch sein Material. Er ergänzt u. a. die Bedeutung prophetischer Tradition und den Einfluß von Jesusüberlieferung (11 f., 17 u. ö.). Der sprachethische Zugang gerät primär in das Bezugsfeld zwischen israelitischer Weisheit, Prophetie (von B. am wenigsten weiterverfolgt) und dem frühen Christentum nach Anstößen des irdischen Jesus. Die Weisheitsparallelen aus Sir etc. erscheinen in großem Umfang (manchmal im Kommentar H. Frankemölles, Der Brief des Jakobus I/II, ÖTK 17, 1994 zu den Einzelstellen des Jak deutlicher ausgewertet). Die für die Einordnung des Jak im Urchristentum wichtige Fortführung von Jesusgut wäre zu vertiefen. Denn die Eigenart von B.s Sammlungsverfahren führt zu einer gewissen Isolierung der Bezugnahmen (Mt 12,36 f. z. B. ist S. 75 mit Gewicht behandelt; hohen Rang erhalten daneben Mt 5,33-37; 7,1 f.; 12,33-35 und 23,16-22). Eine mögliche Schlüsselstelle für den Zusammenhang von Hören und Tun im Jak, Mt 7,21 - "Herr" zu sagen (!), genüge nicht, es komme aufs Tun an - übergeht B. (trotz Exegese von Jak 1,22 u. ö.; das Herrenprädikat ist im Jak durch 1,1 und 2,1 hervorgehoben).

Beeindruckend ist die Geschlossenheit, mit der B. die Reflexion über das Sprechen zum großen Thema des Jak macht (über 80% der Verse des Jak verbindet er nach der Zusammenfassung 283 direkt oder indirekt damit). Die Forschung hat die Gewichte bislang anders gesetzt (auf ethische Vollkommenheit, auf Arm und Reich etc.) und kann insofern dankbar durch B. dazulernen. Andererseits verleitet der Sog der Entdeckung B. gelegentlich, Texte stärker als nötig an die Sprachethik zu binden. Ich nenne dafür 4,1-2b ("Woher kommen Kriege und woher Schlachten bei euch?..."). Diese Verse übertragen zu lesen, ist in der Theologie seit jeher (und bis zum genannten Frankemölle II 580 ff. ) beliebt. B. führt die figurative Lektüre in sein Thema: Die Kriege und Schlachten meinten verletzende Sprechweisen; der Jak geißele das Feld der verbalen Beschädigungen (135f., 177). Der Text bedarf solcher Figurierung nicht und liest sich gut auch ohne jede Übertragung. Dann nämlich bietet er, durch das Motiv des Friedens in 3,18 vorbereitet, einen im Neuen Testament einzigartigen Impuls politischer Ethik: die markanteste urchristliche Kriegskritik, begründet mit einer kritischen Analyse der Kriegsmotive. Der Kern der Analyse, daß Kriege und Schlachten auf menschliche Begierden zurückgingen (4,2), eignet klassische antike Ethik an (s. Plato, Phaidon 66c; vgl. Cicero, fin. I 44). Der Jak vertieft sein Profil als hellenistisch-judenchristliche Schrift, die den Brückenschlag zur antiken Ethik wagt (ein Anliegen B.s), bis in die politische Ethik.

Weder in der Traditions- und Religionsgeschichte noch in den Einzelexegesen ist also durch B.s Studie schon das letzte Wort gesprochen. B. bietet aber bedeutsame Anregungen und eine Fülle von bislang wenig erschlossenem Material zur materialen Ethik des Sprechens in der Antike und zum Jak. Auch wenn sich das ethische Gesamtfeld des Jak weiter aus einer großen Bandbreite von Themen mit dem Ziel der Vollkommenheit der Christen unter ihrem Herrn Jesus Christus erschließt, macht B. zu Recht auf das Gewicht aufmerksam, das der Ethik des Sprechens im Gefüge zukommt. Für das Sprechen unter den Menschen partizipiert der Jak nach seinen Ergebnissen weithin an den Normen seiner Zeit. Er vertieft sie in vielen Einzelzügen (Reflexion über das Fluchen etc.). Die Kritik an der Zunge radikalisiert er (3,1-12). Sein entschiedenstes Anliegen gilt der Verbindung der spirituellen und zwischenmenschlichen Aspekte des Redens. Daher erhält das Gebet herausragenden Rang (und die meisten Besonderheiten gegenüber der umgebenden Literatur; zusammengefaßt 288). Das Zuhören wird zu einem springenden Punkt (1,19). In der Ethik des Sprechens steht über Zwischenmenschliches hinaus am Ende die Rettung des Menschen vor Gott auf dem Spiel (283 ff.).

B. macht in seinem Vorwort aufmerksam, daß all das in unserer vielredenden Zeit ungewöhnlich, wenn nicht fremd wirkt. Daß Sprechen mit Moral zu tun hat, muß sie wiederentdecken (V). Der Jak könnte ihr manche gar nicht unmoderne Anregung bieten.