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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1076 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Huizing, Klaas, Körtner, Ulrich H. J. u. Peter Müller

Titel/Untertitel:

Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1997. 135 S. gr.8. Kart. DM 36,-. ISBN 3-7858-0392-3.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die drei Autoren haben sich vorgenommen, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen im Medienbereich und in Revision der Kerygmatheologie von Barth und Bultmann eine neue "Skriptologie" (7) zu entwerfen. Dabei leitet sie - im Gegensatz zur traditionellen Literar- und Formkritik mit ihrem Interesse an der Intention des Autors - eine "an der Textintention orientierte Hermeneutik" (8). Die praktische Relevanz dieses Vorhabens geht auch aus dem Hinweis auf die Adressaten einer solchen "ästhetischen Lesetheologie" hervor: "Im Blick stehen sowohl die Gebildeten unter den Verächtern der biblischen Texte als auch diejenigen Leserinnen und Leser, die im religiösen Kontext, in Kirche oder Schule, immer resigniert das Fehlen einer Hermeneutik feststellen mußten, die die Abständigkeit der biblischen Texte zu überbrücken erlaubt" (9).

Huizings Beitrag "Das Gesicht der Schrift. Grundzüge einer bibelliterarischen Anthropologie" (13-51) entwickelt unter z. T. äußerst knappen Bezügen auf anthropologische und ästhetische Theoriebildungen eine im Begriff der "Inszenierung" (Wolfgang Iser) gegründete postmoderne "Lese-Theologie". Sie soll zum einen weder die Wahrheit des Textes vorab sicherstellen noch auf die Unmittelbarkeit innerer Erfahrungen verweisen. Vielmehr gilt: "Im Akt der Lektüre geht es ... um eine leibhaft erfahrbare Beziehungswirklichkeit." Dabei fühlt sich H. in der Tradition des Christus "vor-Augen-malenden" Paulus (Gal 3,1).

Während Huizing die praktische Anwendung dieses Ansatzes nur auf zwei Seiten anhand einer Auslegung der Zachäus-Geschichte andeutet, steht im Mittelpunkt von Müllers "Wie werdet ihr alle Gleichnisse verstehen? Die Gleichnisse vom Säen, Wachsen und Fruchtbringen in Markus 4" (53-97) konkrete exegetische Arbeit. Das Hören auf "Textsignale", die Rekonstruktion des in den Gleichnissen vorausgesetzten Erfahrungshintergrundes und das Wahrnehmen der Metaphorik der Texte führt zu einem Verstehen, das "die Leser/innen am Anfang der Rede in die Menge hinein(stellt), die Jesus am See Genezareth hört," und sie "am Ende mit der Aufgabe der Interpretation in die eigene Gegenwart" entläßt (95). Dabei kommt es zu einem "Prozeß des Hinundhergehens zwischen Text und Interpret" (97), die die traditionelle Unterscheidung von historisch-literarischer und theologisch-existentieller Auslegung hinter sich läßt.

Körtner führt abschließend an einen traditionellen Schnittpunkt dogmatischer und exegetischer Arbeit: "Historischer Jesus - geschichtlicher Christus. Zum Ansatz einer rezeptionsästhetischen Christologie" (99-135). Unter Aufnahme der Unterscheidung von "story" und "history" fragt er - entsprechend den Evangelien und altkirchlichen Glaubensbekenntnissen - zuerst nach dem "Jesus der neutestamentlichen story". Vorläufer dieses rezeptionsästhetischen Ansatzes findet K. bei M. Kähler und (dessen Schüler) P. Tillich. Unter weiterem Rückgriff auf P. Ricurs Symboltheorie, die das Verstehen eines Textes als ein Hervorbringen eines Neuen erweist, kommt Körtner zum Schluß: "Die Texte des Neuen Testamentes illustrieren nicht einen Gedanken, sondern entwerfen eine Welt, einen Raum, in den wir eintreten und in dem wir leben können. Im Zentrum dieses Raumes aber steht das Bild Christi als das Bild eines personhaften Lebens" (130).

Die Verfasser geben mit ihren Skizzen nicht zuletzt für eine praktisch-theologische Hermeneutik interessante Anregungen. Leider sind manche Argumentationen durch das Ineinander von metaphorischer und diskursiver Sprache belastet. Zudem wäre es schön, wenn die eingangs angesprochenen Veränderungen im Medienbereich (Stichwort: "Ende der Gutenberg-Ära") im weiteren - unter Einbeziehung der vorliegenden empirisch Daten - inhaltlich bedacht würden. Angesichts der großen Zahl von Menschen, die keine Bücher lesen, wären erst dann die praktisch-theologisch relevanten Grundfragen eines Umgangs mit der Bibel in der Gegenwart erreicht