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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

859–862

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Gerosa, Libero

Titel/Untertitel:

Das Recht der Kirche.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 1995. 384 S. 8 = AMATECA, 12. Pp. DM 62,-. ISBN 3-87088-897-0.

Rezensent:

Dietrich Pirson

Darstellungen des katholischen Kirchenrechts der Gegenwart können sich nicht auf die systematisch geordnete Wiedergabe und Interpretation des in Gestalt des CIC verfügbaren positiven Rechts beschränken. Die offenbare Tatsache, daß die Kirche Recht setzt und sich für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben in der Welt des Rechts bedient, wird nicht ohne weiteres als Ausgangspunkt hingenommen, wenn das Kirchenrecht zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht wird. Vielmehr wird das Bedürfnis empfunden, diese Voraussetzungen selbst zu problematisieren und mit dem Verständnis von Wesen und Aufgabe der Kirche in Beziehung zu bringen. Da die mit dem Be-griff des Rechts verbundenen Assoziationen im allgemeinen durch dessen Funktion als Ordnungsfaktor im irdischen Sozialleben geprägt sind, ist mit der Frage nach der Bedeutung und der Qualität des Rechts in der Kirche zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von weltlicher und überweltlicher Natur der Kirche aufgeworfen. Deswegen ist es unvermeidbar und auch sachgerecht, daß in dem Bemühen um eine Grundlegung des Kirchenrechts rechtstheoretische und theologische Aussagen miteinander verflochten sind.

G. hat im Rahmen seines als Gesamtdarstellung konzipierten Werks jener Grundsatzproblematik einen angemessenen Platz eingeräumt und hat die in diesem Zusammenhang gewonnenen Einsichten verwendet, um Kategorien für die Entfaltung des Untersuchungsgegenstandes Kirchenrecht zu gewinnen. Das geschieht im 1. Kapitel, das "Die theologische Grundlegung des kanonischen Recht" zum Gegenstand hat, wie auch im 2. Kapitel, in dem die Eigenart der Kanonistik als Wissenschaft eine Würdigung erfährt. Die Nachvollziehbarkeit seiner Gedankenführung wird dadurch erleichtert, daß er sich nicht auf die Darlegung der eigenen Position beschränkt. Er hat den Versuch gemacht, die seit der Mitte des Jahrhunderts angestellten ge-danklichen Konzepte einer Kirchenrechtsbegründung vor Augen zu führen, zu strukturieren und gewisse Entwicklungslinien in diesen - vielfach "Rechtstheologie" genannten Überlegungen - aufzuzeigen (19-65).

Dabei wird erkennbar, daß auf jener fundamentalen Ebene des Kirchenrechts eine interkonfessionelle Berührung stattgefunden hat, was vielleicht überraschen mag, wenn man bedenkt, daß die Bedeutung des juridischen Elements in der Kirche Gegenstand einer klassischen Kontroverse zwischen römisch-katholischen und reformatorischem Kirchenverständnis ist. An-gesichts des Umfanges der auf dem Gebiet der kirchenrechtlichen Grundlagenproblematik in der jüngeren Vergangenheit geführten Diskussion und angesichts der Vielfältigkeit der gedanklichen Ansätze mußte G. freilich auf eine detaillierte Darstellung und Würdigung der unterschiedlichen Positionen verzichten und sich damit begnügen, die jeweils ideelle Herkunft zu benennen und Querverbindungen erkennbar zu ma-chen. Auf diese Weise kann kein ganz vollständiges Bild vom Stand der wissenschaftlichen Forschung vermittelt werden. So bleiben etwa die kirchenrechtstheoretischen Bemühungen von Remigius Sobanski unerwähnt.

Es ist auch nicht ganz leicht, die Thematik in leicht überschaubarer Weise darzubieten. Das liegt vor allem daran, daß die von den einzelnen Autoren entwickelten Konzepte unter sich kaum kommensurabel sind und auf thematisch unterschiedlichen Ausgangspunkten beruhen und unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Man kann sich dem Problem des Kirchenrechts nähern, indem man etwa nach dem Geltungsgrund fragt, nach den juridischen Elementen im Handeln der Kirche, nach der besonderen Qualität der Kirche als Gemeinschaft, oder aber, indem man einen gleichsam übergeordneten Rechtsbegriff entwickelt, der sowohl kirchliches Recht als auch weltliches Recht erfaßt und eine entsprechende Verhältnisbestimmung ermöglicht.

Die protestantischen Beiträge zur Grundlagendiskussion aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg finden bei G. vor allem deshalb Beachtung, weil von ihnen jedenfalls insoweit Anstöße ausgegangen sind, als die Notwendigkeit einer spezifisch kirchlichen Begründung des Rechts bewußt gemacht worden ist. Die von G. erwähnten Untersuchungen von Erik Wolf, Hans Dombois und Johannes Heckel (26 f.), die seinerzeit als "Entwürfe" eine respektvolle Beachtung und Würdigung erfahren haben (vgl. insbesondere W. Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, 1968), haben in der kirchlichen Praxis keinen Widerhall gefunden, weil die Beziehungen zu den regelungsbedürftigen Materien einer kirchlichen Ordnung wenig erkennbar wurden. G., der diesen Nachteil registriert, versucht darzulegen, daß die kirchenrechtstheoretischen Bemühungen in der katholischen Theologie und Kanonistik einen stärkeren Realitätsbezug aufweisen, weil sie darauf abzielen, den neuen Impulsen, die das II. Vatikanische Konzil für das kirchliche Selbstverständnis gebracht hat, in einer neuzufassenden Kodifikation zur Geltung zu bringen.

G. wird weitgehend Zustimmung finden, soweit er unter den Methoden der Kirchenrechtsbegründung diejenigen favorisiert, die die der Kirche eigentümlichen Strukturelemente in die kirchliche Rechtsgründung einbeziehen. Die mit soziologischen Kategorien zu erfassende Erscheinungsweise der Kirche hält er als Anknüpfungspunkt weniger geeignet, was auch für die der societas-perfecta-Lehre entnommene Befähigung der Kirche zu originärer und selbständiger Rechtserzeugung gilt. Einen richtigen Ansatz sieht G. in der von Klaus Mörsdorf entwickelten These, nach welcher das juridische Element von den "Strukturelementen der Heilsökonomie" mit umfaßt sei, weshalb die Heilsmittel "Wort" und "Sakrament" für die Kirchenrechtsbegründung aktiviert werden müssen (41-44). Diese gedankliche Linie glaubt G. weiterführen zu können, indem er - insoweit einem durch das II. Vatikanischen Konzil nahegelegten methodischen Vorgehen folgend - den Begriff der "communio" für die Kirchenrechtsbegründung auswertet (50-65).

Denn dieser nimmt Bezug auf die der Kirche eigentümliche in Wort und Sakrament zu Tage tretende sakramentale Dimension. G. betont, daß auch dem Charisma eine für das Recht in der Kirche prägende Wirkung zukommt. Er legt besonderen Wert auf die Unterscheidung von Institution und Konstitution und ordnet das Charisma der Konstitution zu, weil erst dieses bewirkt, daß aus den institutionellen Elementen in der Kirche die "communio" entsteht. Deshalb hält es G. für richtig, die Entfaltung einer spezifischen kirchlichen Rechtsordnung anhand der Elemente Wort, Sakrament und Charisma vorzunehmen.

Mit der Hereinnahme des charismatischen Elements in die Ba-sis der kirchlichen Rechtsordnung sucht er einen weiterführenden Gesichtspunkt zu gewinnen, der die einseitige Orientierung des Rechts an den Amtsstrukturen überwindet, gleichzeitig aber die im Protestantismus überbetonte Antinomie von Amt und Charisma vermeidet. Das Charisma kann als integrierender Bestandteil des kirchlichen Rechtssystems begriffen werden, weil Wort und Sakrament sowohl eine rechtliche wie eine pneumatologische Dimension aufweisen, die einander zugeordnet sind. Das Charisma "in seiner Vollform", das "Urcharisma" oder "Gründungscharisma", kann rechtliche bindende Gemeinschaftsbeziehungen entstehen lassen, weshalb durchaus auch die Gewohnheit als Rechtsquelle wirksam werden kann (60 ff.).

Die rechtliche Ordnung der Verkündigung hat nach G. nicht allein vom Lehramt seinen Ausgangspunkt zu nehmen, sondern von dem weiteren Begriff des "munus nuntiandi", das der ge-samten Kirche, der Kirche als "communio", übertragen ist. Das Lehramt, an dem alle Inhaber des Weihesakraments teilhaben, ist nur eine besondere Erscheinungsweise des "ministerium verbi", erfordert aber, weil es auf den Beistand des Heiligen Geistes angewiesen ist, einen stark ausgeprägten formalen Charakter (122 ff.). Gerichtliche Verfahren im Rahmen des Lehramtes zielen nicht darauf ab, subjektive Rechte zu gestalten, sondern tragen feststellenden Charakter und stehen im Dienst der von der Kirche zu verkündigenden objektiven Wahrheit (149 f.).

Ein wesentlicher Teil des kirchlichen Rechts stellt sich als Sakramentenrecht dar. Auch das Eherecht gehört zu diesem Komplex (274-304). G. vermerkt freilich kritisch, "daß das kanonische Eherecht im Vergleich zum sonstigen Sakramentenrecht ein Rechtsbereich ist, der noch eng den Prinzipien seiner Tradition verhaftet geblieben ist" (278). Bei Behandlung des Sakramentenrechts ist G. auch auf verschiedene andere Materien des kirchlichen Rechts eingegangen, die herkömmlicherweise in anderem Zusammenhang behandelt werden, aber immerhin Sachbeziehungen zur sakramentalen Praxis der Kirchen aufweisen.

So wird das in früheren Darstellungen oft recht ausführlich behandelte Strafrecht in relativ knapper Form vorgeführt, wobei Qualität und Problematik der von der Kirche verhängten Strafen, das Verhältnis der auf kirchliche Sanktionen bezogenen Verfahrensarten, gerichtliches und administratives Verfahren, im Vordergrund des Interesses des Verfassers stehen. Dieser bedauert im CIC eine "Unklarheit der Antwort... auf die eindringliche Bitte, den ekklesiologischen Sinn von Strafbestimmungen in der Rechtsordnung der Kirche einsichtig zu machen" (232).

Von den rechtlichen Vorschriften, die sich auf die Eucharistie beziehen, spannt der Vf. den Bogen zum kirchlichen Vermögensrecht, wobei ihm das seiner Zweckbestimmung nach auf das eucharistische Handeln bezogene Meßstipendium als An-knüpfungspunkt dient. In Zusammenhang mit dem Sakrament der Firmung wird der Vorgang der Aufnahme nichtkatholischer Christen in die kirchliche Gemeinschaft rechtlich gewürdigt (216 ff.). Die spezifische Rechtsstellung der Laien aufgrund ihres "Weltcharakters" (218 ff.) wird betont, wobei G. freilich das Zurückbleiben des CIC gegenüber den Verlautbarungen des II. Vatikanischen Konzils rügt.

Sakramente sind nach herkömmlichem Verständnis Gegenstand der kirchlichen Rechtsordnung, weil die Bedingungen für das Spenden der Sa-kramente und deren Empfang mit normativer Eindeutigkeit festgelegt wer-

den müssen. Die diesbezüglichen Rechtsvorschriften sind freilich durch Wesen und Heilsbedeutung der Sakramente weitgehend inhaltlich festgelegt. Die Darstellung bei G. nimmt nicht von jenem normativen Zweck ihren Ausgangspunkt, sondern setzt die Akzente etwas anders. Man hat teilweise den Eindruck, es gehe ihm in erster Linie um die Interpretation der einschlägigen Lehren des II. Vatikanischen Konzils, die er unter dem Aspekt darlegt, wie weit sie im CIC ihren korrekten Niederschlag gefunden haben.

Die Kombination von Charisma und kirchlichem Recht illustriert G. an den kirchlichen Vereinigungen (307-328), einem wesentlichen Gegenstand der kirchlichen Rechtsordnung. Ihm liegt daran, dem Fehlverständnis entgegenzutreten, die kirchlichen Vereinigungen seien gegenüber den Institutionen des kirchlichen Verfassungsrechts abzugrenzen. Die Assoziationen der Gläubigen müssen vielmehr als notwendige Äußerungsform der Kirche als communio begriffen werden.

In einem abschließenden Kapitel "Die institutionellen Organe der Kirche" (331-368) verweist G. auf neue rechtliche Kategorien, die seit dem II. Vatikanischen Konzil in Erscheinung ge-treten sind, so auf die viel erörterte Erscheinung der Synodalität und auf eine neuartige Definition des Amtsbegriffes, nach welcher die Teilhabe an der potestas nicht notwendiges Element eines kirchlichen Amtes ist, so daß, obwohl die Weihe- und Ju-risdiktionsgewalt nach wie vor Klerikern vorbehalten bleibt, die Laien Inhaber kirchlicher Amter sein können. Ob hier wirklich eine prinzipielle Änderung im Amtsverständnis oder nur eine terminologische Konzession an eine "Laientheologie" erfolgt ist, wird freilich nicht näher ausgeführt.

G. hat die Behandlung des Kirchenrechts von der Systematik des positiven Rechts weitgehend gelöst und hat dabei den Versuch gemacht, eine eigenständige, von der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Kirchenrechts ausgehende Systematik zu entwickeln, womit das Kirchenrecht insgesamt stärker in die Theologie integriert wird. In der Behandlung des Stoffes hat er deutlich den Fragen Priorität eingeräumt, die in der nachkonziliaren innerkirchlichen Diskussion in den Vordergrund getreten sind, wie etwa Partizipation von Laien an der Amtsausübung oder Teilhabe geschiedener und nichtkatholischer Christen an der eucharistischen Gemeinschaft. G.s Darstellung ist sicher nicht so sehr in der Absicht konzipiert, für die kirchenrechtliche Praxis eine Handreichung zu geben. Sie ist aber sehr anregend für alle, die an der prinzipiellen Problematik des kirchlichen Rechts und an den spezifischen Gegenwartsfragen des Rechts der katholischen Kirche interessiert sind.