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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

761–765

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

(1) Rau, Gerhard, Reuter, Hans-Richard u. Klaus Schlaich [Hg.] (2) [Schambeck, Herbert]

Titel/Untertitel:

(1) Das Recht der Kirche. III: Zur Praxis des Kirchenrechts.
(2) Für Staat und Recht. Festschrift für Herbert Schambeck, hg. von J. Hengstschläger, H. F. Köck, K. Korinek, K. Stern, A. Truyol y Serra.

Verlag:

(1) Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1994. 743 S. 8o = Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, 51. Lw. DM 175,-. ISBN 3-579-02020-X.
(2) Berlin: Dunker & Humblot 1994. XVI, 1096 S. 1 Porträt gr. 8o. Lw. DM 298,-. ISBN 3-428-07945-0.

Rezensent:

Ulrich Nembach

Diese beiden Bände gemeinsam besprechen zu können, ist ein Glücksfall - präsentieren sie doch jeder auf seine Weise die Wirklichkeit kirchlichen Rechts und zwar für eine gemeinsame Zeit, nämlich nachdem sich das kirchliche Leben nach dem II. Weltkrieg wieder eingerichtet hatte, und für die beiden Länder, die an diesem Krieg gemeinsam beteiligt waren, Deutschland und Österreich. Auch geht es beiden Bänden weitgehend um die Praxis des kirchlichen Rechts, wenn auch der Anlaß jeweils ein verschiedener ist. Ferner werden evangelisches und katholisches Kirchenrecht sichtbar und beide gemeinsam in ihrer Relation zum staatlichen.

I. Der von Gerhard Rau u. a. hg. Band zum evangelischen Kirchenrecht ist der Dritte in einer Reihe von vier Bänden mit dem gemeinsamen Titel "das Recht der Kirche" und ist deren "Praxis" gewidmet. Er ist der zuerst erschienene. Die Bände II und I folgen. Ein Registerband soll das ganze Werk abschließen. Das Werk verdankt sich nicht zuletzt Dr. Johann Frank, dem früheren Präsidenten des Landeskirchenamtes der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, und Dr. Hans-Gernot Jung, dem früheren Bischof von Kurhessen-Waldeck, die Anregungen des Rezensenten aufgriffen. Beide erlebten den Abschluß des Werkes nicht mehr, dennoch haben sie mit ihrer Arbeit das Werk geprägt. Für den Fortgang der Arbeiten sei den Hgg. der Evangelischen Studiengemeinschaft sowie allen Autoren gedankt. Sie legen das Ergebnis einer gemeinsamen 10jährigen Arbeit vor - ganz im Geist der beiden Genannten, die als Praktiker der theoretischen Arbeit eng verbunden waren, der eine als Jurist und der andere als Theologe. Ganz in diesem Sinne ist das Gesamtwerk und insbesondere dessen dritter Band aufgebaut. Sein Inhalt sind einzelne Darlegungen zu heutigen Fragen in der Praxis des Kirchenrechts. Jede Frage wird in der Regel von einem Theologen und einem Juristen behandelt.

Gemeinsame Ausgangspunkte aller Überlegungen sind einmal, das Gespräch zwischen evangelischer Theologie und Rechtswissenschaft wiederaufzunehmen, nachdem es nach einer Zeit lebhafter Kontakte direkt nach dem II. Weltkrieg längere Zeit geruht hatte, und zweitens die Frage, welchen Beitrag das evangelische Kirchenrecht zu Sachproblemen leisten kann. Das alles geschieht auf der Basis heutiger wissenschaftlicher Diskussion, der Barmer theologischen Erklärung und den drei großen Entwürfen des evangelischen Kirchenrechts nach 1945, nämlich denen von Hans Dombois, Johannes Heckel und Erik Wolf. Wenn so die Theorie mit der Praxis verbunden wird, ist es verständlich, wenn der Band zur Praxis des Kirchenrechts als erster erscheint. Zu fragen ist nur, warum er nicht auch zum ersten innerhalb der Zählung des Werkes gemacht wurde.

Der Band entfaltet die Praxis anhand von 6 Arbeitsgebieten kirchlichen Lebens und Handelns, nämlich in der Reihenfolge ihrer Bearbeitung: die Ortsgemeinde; das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin; die kirchlichen Werke und Gruppen: Leitungsprobleme der Kirche; Kirche, Staat, Gesellschaft; Ökumene. Zwei Bereiche, die hier vermißt werden - Taufe und Kirchenzugehörigkeit sowie die Finanzen der Kirche - wurden nicht aufgenommen, weil sie separat in schon erschienenen Veröffentlichungen behandelt wurden. Unbehandelt bleibt - hier und woanders - der weite Bereich kirchlicher Gerichtsbarkeit mit einer Ausnahme, der der Lehrbeantstandung, die aber nur im Rahmen des Pfarramtes, also nicht als Teil kirchlichen Prozeßrechtes, dargestellt wird. Das ist erstaunlich für einen Band, der der kirchlichen Rechtspraxis gewidmet ist. Zugleich ist das Fehlen signifikant für die heutige Situation des evangelischen Kirchenrechts. Der Prozeß, der in früheren Jahrhunderten einen breiten Raum kirchlicher Rechtspraxis einnahm und im katholischen und staatlichen Recht nach wie vor einnimmt, ist im evangelischen Kirchenrecht an dessen Rand gerückt. Diese Entwicklung spiegelt auch die Auswahl der Mitarbeiter an dem Band. Es sind neben Hochschullehrern zu einem großen Teil Theologen und Juristen aus der kirchlichen Verwaltung, konkret den Landeskirchenämtern. Daß sie sich dieser Mühe unterzogen haben, ist dankenswert und kommt sicherlich ihrer täglichen Praxis zugute, aber verkürzt andrerseits die Breite der Praxis. Der Grund dafür ist letztlich ein theologischer. Er wird gleich im ersten Beitrag sichtbar.

Günter Wendt, langjähriger Rechtsreferent und geschäftsleitender Vorsitzender des Evangelischen Oberkirchenrats der Evangelischen Landeskirche in Baden und später auch apl. Professor in Freiburg und Lehrbeauftragter für Evangelisches Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät in Heidelberg, stellt die Ortsgemeinde vor anhand der "Rechtsstellung des Gemeindeglieds" (21-48). "Die Frage nach der Rechtsstellung des Gemeindeglieds führt in das Zentrum rechtstheologischen Verständnisses der Gemeinde Christi, auf das alle Bereiche kirchlicher Wirksamkeit und ihrer rechtlichen Gestaltung bezogen sind". Dieser programmatische Satz - es ist zugleich der erste des Beitrages von Günter Wendt - eröffnet dessen Beitrag und zugleich den ganzen Band. Hier wird von dem Gemeindeglied in bezug auf die Gemeinde gedacht und geschrieben. Es ist der Barthsche Ansatz in der Barmer Erklärung. Auf sie kommt Wendt nur wenige Zeilen später selbst zu sprechen und zitiert direkt Barmen 3 (21). Dieses Rechtsverständnis und seine Konsequenzen auf die Praxis des kirchlichen Rechts bezogen, prägen den ganzen Band, ohne ihn zu normieren. Das ist auch angesichts der Wirklichkeit mit ihren unterschiedlichen Rechtsausffassungen innerhalb der EKD zu erwarten.

Günter Linnenbrink, Geistlicher Vizepräsident im Landeskirchenamt der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, kommt auf dieses Problem direkt in seinem Beitrag zu sprechen. Sein Thema "zur Verbindlichkeit kirchlicher Beschlüsse und Verlautbarungen" innerhalb des Themenkomplexes "Leitungsprobleme" fordert geradezu das Beziehen einer anderen Position heraus. Linnenbrink verweist ebenfalls auf Barmen 3 und führt dann im Hinblick auf seine Landeskirche aus, daß sie sich in ihrer Verfassung am ius civile orientiere und ein Regelwerk biete, das die Verkündigung des Evangeliums sicherstellen solle und Auskunft über die in ihr wirksamen Mechanismen und Strukturen gebe (371).

Damit zeigen sich einmal mehr die Konsequenzen der Rechtszersplitterung des kirchlichen Rechts bis in die Praxis des Rechts hinein. Das Kirchenrecht ist noch nicht so weit, wie es zum Beispiel die Gemeinsamkeit der singenden Gemeinde ist, die ein gemeinsames Buch nun schon in der zweiten Generation hat. Für den Leser von Band III des Gesamtwerkes bedeutet das, daß er sich hier über grundlegende Fragen umfassend informieren kann. Dasselbe gilt aber nur eingeschränkt, wenn es um konkrete Fragen geht, wie sie im Alltag eines Gemeindemitgliedes, einer Gemeinde, eines Kirchenkreises, einer Synode, eines Kirchengerichtes begegnen. Aber auch dann ermöglichen die grundlegend gegebenen Antworten eine qualifizierte Weiterarbeit. Deshalb ist die Anschaffung dieses Bandes allen kirchlichen Bibliotheken trotz des Zwanges zum Sparen und des hohen Preises dringend zu empfehlen.

II. Der zweite hier zu besprechende Band ist im Vergleich mit dem eben besprochenen nicht minder interessant, wenn auch für die Praxis in Deutschland etwas am Rande liegend, obwohl die Ökumene und das Zusammenwachsen Europas deutsche evangelische Gemeinden geradezu zwingen, über ihre engen Grenzen hinauszublicken. Der Band bietet dafür eine ebenso anschauliche wie auf seine Weise umfassende Rundblick über das Verhältnis von Kirche und Staat, Recht und Politik im weitgehend katholischen Österreich.

Der Band ist Herbert Schambeck, dem langjährigen Professor für Öffentliches Recht, Politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an der Universität in Linz, als Festschrift gewidmet. Obwohl der Band sich damit einer Person in besonderer Weise zuwendet, zeigt er zugleich die allgemeinen Verhältnisse in diesem Land und gewinnt an Interesse selbst dort, wo der Geehrte weniger oder gar nicht bekannt ist. Das liegt nicht zuletzt an der Person des zu Ehrenden. Er stand - und steht - über Jahrzehnte im Brennpunkt kirchlich-römischen Rechts, des österreichischen und des vatikanischen Staates. Auf alle diese Bereiche nahm und nimmt er Einfluß.

Seine Bedeutung unter kirchen- wie rechtspolitischen Gesichtspunkten zeigt sich u.a. äußerlich in dem für eine Festschrift erheblichen Umfang des Bandes von 1097 Seiten und in der Tatsache, daß nicht weniger als 4 Staatspräsidenten Österreichs und Deutschlands zur Feder gegriffen haben, um Schambeck zu ehren. Ihre große Zahl erklärt sich auch dadurch, daß Schambeck seit fast 40 Jahren zunächst in der Wissenschaft und später auch im Staat, u.a. seit 1969 im österreichischen Bundesrat, dessen Präsident er zweimal war, aktiv ist.

Diese Vorstellung der in Deutschland weniger bekannten Person führt mitten in die Besprechung des Bandes hinein. Er enthält insgesamt 61 Beiträge von ebensovielen Autoren. Die Vielzahl der Themen macht eine wenigstens grobe Gliederung erforderlich. Vier Teile (I. Rechts-philosophie, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, II. allgemeine Staatslehre, III. Verfassungsrecht, IV. internationales Recht) mit zwei oder drei Unterpunkten gliedern die Festschrift. Eine kurze Biographie und ein Publikationsverzeichnis runden den Band ab. Aus dieser Fülle kann nur ein kleiner Teil konkret vorgestellt werden. Jede Auswahl muß dabei letztlich willkürlich bleiben. Herausgegriffen seien je ein Beitrag zu Europa und zur Frage der Subsidiarität. Einmal sind sie aktuell und zweitens zeigt sich hier, quasi im Schnittpunkt der Arbeit von Herbert Schambeck, das Recht von Staat und Kirche in einem katholischen Land in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit. Das gilt auch für das Aufgreifen und die Behandlung eines geschichtlichen Themas im Rahmen der Rechtsphilosophie durch Peter Fischer. Er stellt William Penn als "Visionär einer Europäischen Union" vor (13-28). Ausgehend von dem Hinweis auf den grausamen Krieg im ehemaligen Jugoslawien, einen weiten Bogen zurückschlagend zu Dante Aligheri und dessen 1308 erschienene "de monarchia" kommt er schnell auf William Penn, den Jüngeren zu sprechen. Dessen Lebenslauf wird skizziert. Anschließend stellt Fischer detailliert Penns 1693 in London anonym veröffentlichten Essay "zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden" vor, um ihn anschließend etwas knapp zu bewerten.

Um Penns Werk einzuordnen, verweist Fischer auf den pfälzischen Krieg hin, der während des Entstehens der Niederschrift des Essays in Europa tobte und nach Fischer in der "Zerstörung jahrhundertealten Kulturgutes nicht weit hinter dem derzeitigen Konflikt" im ehemaligen Jugoslawien "zurückstand" (17). Der Friede, den Penn meint und den Fischer bei ihm entdeckt und herausstellt, ist ein visionärer. Im Vordergrund des Interesses stehen bei Fischer und Penn die Vorteile des Friedens. Dazu gehören insbesondere das "persönliche Wohlergehen" und der "wirtschaftliche Wohlstand". Sie werden durch Recht und Gerechtigkeit gesichert. Fischer schreibt: "Die Überlegenheit des Rechts gegenüber dem Krieg sieht Penn schon allein darin, daß es diplomatischen Gesandtschaften sehr häufig gelingt,... auf dem Verhandlungswege Kriege... zu verhüten" (19). Ferner stellt Fischer heraus: "Das zentrale Konzept des Rechts und der Gerechtigkeit gilt auch nach Penn im Bürgerkrieg" (19). Bei der Realisierung eines Friedens in Europa kommt einem europäischen Parlament nach Penn und Fischer eine große Rolle zu, weshalb sein Status, seine Struktur und Arbeitsweise herausgestellt werden. Daraus zu ziehende Konsequenzen für die Gegenwart einschließlich einer Bewertung des gegenwärtigen Erscheinungsbildes von EU und UNO werden von Fischer bereits bei der Darstellung des Pennschen Essays herausgearbeitet und in der abschließenden "Wertung" zusammengefaßt.

Die Frage der Subsidiarität wird gleich in mehreren Beiträgen aufgegriffen. Johannes Schasching behandelt sie im Rahmen der Rechtsphilosophie auf der Basis von Quadragesimo anno (107-115), Brigitte Gutknecht im Rahmen des internationalen Rechts, speziell bei der Frage der europäischen Integration (921-946) und Manfred Rotter in demselben Zusammenhang (981-1001). Dabei geht es Brigitte Gutknecht um das Subsidiaritätsprinzip im Allgemeinen, nämlich "als Grundsatz des Europarechts", und Manfred Rotter speziell um die Regionen nach dem Maastrichter Vertrag. In der Reihe der Beiträge zum Subsidiaritätsprinzip wird vielleicht einer vermißt - und zwar aus der Feeder von Josef Isensee, der bereits 1968 eine einschlägige Arbeit ("Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht") veröffentlicht hat, in der Festschrift auch mit einem Beitrag vertreten ist, der nur indirekt auf die Frage eingeht, indem Isensee das Problem "die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung" relativ ausführlich behandelt (213-246).

Wie die wenigen Proben aus einem umfangreichen Band zeigen, liegt hier mehr als eine Festschrift im üblichen Sinn vor. Das Buch ist eine Fundgrube für Einzelfragen des Rechts und der Zeitgeschichte Österreichs und Europas. Wer Österreich und seine jüngere Geschichte verstehen will, kommt an diesem Band ebensowenig vorbei wie der, der eine Anschauung der Verflechtung des Rechts von Staat und Kirche im heutigen Europa und deren geschichtlichen Implikationen bekommen möchte. Dabei enthält diese wahrlich nicht alltägliche Festschrift für Kenner neue Einblicke bereit, und für Anfänger läßt sie Zusammenhänge deutlich werden.