Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

758–761

Kategorie:

Kirchenrecht

Titel/Untertitel:

Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics. Band 1 (1993). Hg. von B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka, Jan C. Joerden. X ,422 S.; Bd. 2 (1994). Themenschwerpunkt: Zurechnung von Verhalten. Imputation of Conduct. Hg. von B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka, Jan C. Joerden. X, 582 S.; Bd. 3 (1995) Hg. von B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka, Jan C. Joerden. X, 540 S.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1993/94. gr. 8o. Kart. DM 148,-, Kart. DM 198,- u. geb. DM 168,-. ISBN 3-428-07770-9, 3-428-08038-6 u. ISBN 0944-4610.

Rezensent:

Hasso Hofmann

Der Erlanger Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie Hruschka, sein dortiger Strafrechtskollege Joerden und die an der Augsburger Universität tätige Rechtsphilosophin Byrd von der Columbia University haben 1992 in Jena mit Juristen und Philosophen aus verschiedenen Nationen ein Symposion zum Thema "Vorpositives Recht als Orientierungshilfe in Zeiten politischen Umbruchs" veranstaltet. Die Dokumentation der Tagungsbeiträge bildet den Hauptteil dieses neuen Jahrbuchs. Es folgen eine größere Abhandlung (Philosophic Governance of Norms von F. L. Will - ein eindrucksvolles Beispiel des kritischen Pragmatismus made in USA: Normen als socio-psychological entities), danach ein kleines "Diskussionsforum" (eher für Frankfurter: Stellen K. Günthers Anwendungsdiskurse einen eigenen Diskurstyp oder nur einen Unterfall der Begründungsdiskurse dar?) und drei Rezensionen. Den teils englischen, teils deutschen Haupt-Texten sind Zusammenfassungen in der jeweils anderen Sprache angefügt. Von der Feststellung ausgehend, daß Rechtswissenschaft "zu einem wesentlichen Teil angewandte Ethik (ist)", wollen die Herausgeber "die Diskussionen über das Zusammenwirken von rechtlichen und ethischen Kategorien bündeln" und international ein interdisziplinäres Gespräch anregen (VI).

Die abgedruckten Tagungsbeiträge sind von sehr unterschiedlicher Qualität und nehmen kaum konkreten Bezug auf das Generalthema. Lediglich M. P. Golding beschäftigt sich mit der hier naheliegenden Frage nach dem rechtsstaatlichen Umgang mit vorangegangener Regierungskriminalität: Retroactive Legislation and Restoration of the Rule of Law. In Auseinandersetzung v.a. mit Fullers Lehre von der immanenten Moralität des (rechtsstaatlichen) Rechts und Harts strenger analytischer Trennung von Recht und Moral (aber - anders als Hart und fast möchte man sagen: selbstverständlich - ohne von der hierzulande in Theorie und Rechtsprechung herrschenden "Radbruchschen Formel" Notiz zu nehmen) vertritt G. die Meinung, ein rückwirkendes Strafgesetz sei der beste Weg für den Nachfolgestaat, seine Vergangenheit moralisch zu verurteilen. Läßt man die auf weit abliegende Felder führenden Texte beiseite (wie den von A. Navas aus Pamplona über Luhmanns Moralbegriff, den von Ch. Schnoor über eine Entdeckung des Sprechakts vor J. L. Austin oder den von K. Seelmann über die Rechtfertigung der Strafe aus dem selbstwidersprüchlichen Verhalten des Straftäters v.a. bei Hegel), so handelt es sich um rund ein Dutzend Interpretationen der Rechts- und Staatsphilosophie Kants. Mit einiger Mühe sind dabei drei thematische Schwerpunkte auszumachen. Beziehen sich die Beiträge von H. E. Allision (Kant's Doctrine of Obligatory Ends), Th. Nenon (Freedom, Responsibility, Charakter) und E.-M. Tschurenev (Die Rezeption von Kants politischem Denken im Liberalismus und in der Jenaer Frühromantik) auf Kants Philosophie der Freiheit, so betrachten diejenigen von K. E. Kaehler (Die Asymmetrie von apriorischer Rechtslehre und positivem Recht bei Kant) und L. A. Mulholland (The Difference between Private and Public Law) aus unterschiedlichem Blickwinkel das bekannte Problem von Kants doppeltem Rechtsbegriff. Hauptsächlich aber steht in Annäherung an das Tagungsthema Kants freiheitlicher Rechtsstaat zur Diskussion. In hervorragenden Beiträgen zeigen R. Brandt (Gerechtigkeit bei Kant) und B. Ludwig (Kants Verabschiedung der Vertragstheorie - Konsequenzen für eine Theorie sozialer Gerechtigkeit) gewissermaßen dessen Kehrseite: Weder erscheint in Kants Ethik die Tugend der Gerechtigkeit noch hat Gerechtigkeit in seiner Rechtslehre einen materialen Gehalt; vielmehr macht es die Prävalenz des Freiheitsprinzips in Kants Begründung des Staates aus dem Rechtsprinzip unmöglich, aus Verfassungsprinzipien irgendwelche Forderungen sozialer Gerechtigkeit zu deduzieren. Korrespondierend dazu zeigt J. Hruschka (Rechtsstaat, Freiheitsrecht und das "Recht auf Achtung von seinen Nebenmenschen"), daß die erste wirkungsmächtige Ausarbeitung des Rechtsstaatsbegriffs bei dem jungen C. Th. Welcker - später bekanntlich einer der Führer der liberalen badischen Opposition - ganz in Kants Freiheitsgedanken wurzelt. J. C. Joerdens Versuch, "Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens" im Medium der Kantischen Staatsphilosophie zu demonstrieren, leidet daran, daß er die tradierte Gewaltenteilungslehre unreflektiert als einfaches Organisationsschema und Kants Differenzierung von Funktionen schlicht als Institutionenlehre nimmt. Näher kommt dem Problem - dem Übergangscharakter von Kants Philosophie der republikanischen Reform absoluter Monarchien - da schon K. R. Westphal (Republicanism, Despotism, and Obedience to the State: The Inadequacy of Kant's Division of Powers), auch wenn er aus der amerikanischen Tradition heraus keinen Sinn für die Herrschaft des Gesetzes als Pointe der Gewaltenteilung in dem republikanischen Sinn Rousseaus und Kants hat.

Einen wesentlich geschlosseneren Eindruck bietet der 2. Bd. des Jahrbuchs, da dessen Themenschwerpunkt "Zurechnung von Verhalten" weitaus griffiger ist und sich darin handlungstheoretische, ethische und juristische Kategorien in augenfälliger Weise schneiden. Den Hauptteil macht wiederum die Dokumentation einer Tagung aus, eben über "Zurechnung von Verhalten in Recht und Moral", diesmal - 1993 - in Erlangen. Die Beiträge sind unter drei Aspekten gegliedert: Grundlagen der Zurechnung, Zurechnung und Verantwortung, Regeln der Zurechnung. Dieser letzte Abschnitt enthält - von der handlungstheoretischen Untersuchung der Fahrlässigkeit durch G. Seebaß abgesehen - spezielle juristische Erörterungen traditioneller strafrechtsdogmatischer Figuren (besonders eindringlich: J. C. Joerden: Wesentliche und unwesentliche Abweichungen zurechnungsrelevanter Urteile des Täters von denen des Richters). Im zweiten Abschnitt - herausragend K. Günther, Individuelle Zurechnung im demokratischen Verfassungsstaat; originell auch L. Katz, Evading Responsibility: The Ethics of Ingenuity - behandeln gleich zwei amerikanische Philosophen Kants Zurechnungslehre: Th. E. Hill, Jr.: Kant on Responsibility for Consequences, und A. Reath: Agency and the Imputation of Consequences in Kant's Ethics. Allgemeinere Kant-Interpretationen erscheinen auch im ersten grundlegenden Abschnitt der Tagungsreferate. So handelt N. Potter über "Kant on Obligation and Motivation in Law and Ethics" und M. Timmons über "Evil and Imputation in Kant's Ethics". Durch ihre systematische bzw. philosophiehistorische Originalität ragen hier die Beiträge von H.-U. Hoche (Zur Komplementarität von Freiheit und Notwendigkeit des menschlichen Handelns) und von M. Kaufmann (imputabilitas als Merkmal des Moralischen. Die Diskussion bei Duns Scotus und Wilhelm von Ockham) heraus. Auch zwei der drei folgenden "Abhandlungen" nehmen das Schwerpunktthema auf: U. Meixner mit einer analytischen "Explikation des Begriffes der Zurechnung" und J.-M. Silva-Sánchez mit: "Probleme der Zurechnung bei impulsivem Handeln". Die dritte der Abhandlungen von K. Herb u. B. Ludwig (Kants kritisches Staatsrecht) setzt dagegen die Thematik des 1. Bd. in glänzender Weise fort: derzeit das Beste zu diesem Gegenstand!

Wiederum schließen sich hier ein "Diskussionsforum" (u. a. mit einer Stellungnahme von Joerden zum Erscheinen der dt. Ausg. von H. Kuhse u. P. Singer: Should the Baby Live?) sowie - diesmal fünf - Rezensionen an und runden diesen gelungenen Band ab.

Der Themenschwerpunkt des 3. Bd. ist durch das Ta-gungsthema eines wiederum multidisziplinär und international besetzten Symposions in Buckow/Märk. Schweiz aus dem Sommer 1994 bestimmt: "Rechtsstaat und Menschenrechte". Der einleitende Tagungsbeitrag (Natural Right or Natural Law?) von Mary Gregor - der kürzlich verstorbenen und in diesem Bande respektvoll und mit großer Wärme gewürdigten Kant-Interpretin und verdienstvollen Kant-Übersetzerin - nimmt den zentralen Punkt der im 1. Bd. von Ludwig behandelten Thematik wieder auf. G. Geismann (Menschenrecht, Staat und materiale Gerechtigkeit) unterstreicht ihn auf seine temperamentvolle Weise gegen neuere materiale Rechtsstaatsdeutungen fragwürdiger Art, wendet sich aber auch gegen P. Kollers abgewogenen Versuch (Menschen- und Bürgerrechte aus ethischer Perspektive), die Menschenrechte mit Hilfe einer rationalen Universalmoral zu begründen. In der Tat verweist der "konsequentialistische" Zusatz, den Koller dem Habermasschen Kriterium kommunikativer Vernunft anhängt (wonach die Diskursergebnisse für jede Person aus "unparteiischer Perspektive" "günstiger" sein müssen als alle anderen realisierbaren Regelungsmöglichkeiten) auf materiale Maßstäbe, über die allenfalls zufällig Übereinstimmung besteht. Zudem wäre über die fundamentale Voraussetzung der Gleichberechtigung aller Individuen zu reden. Gleichwohl bleibt dieser Versuch wertvoll. Das gilt auch für Kollers Thematisierung der meist vernachlässigten Differenz von Menschen- und Bürgerrechten. Doch wird deren paradoxale Struktur zu wenig deutlich, die sich daraus ergibt, daß partikuläre Rechtsgemeinschaften ihre partikuläre Existenz auf universale Prinzipien gründen.

Der Rechtfertigungsansatz von Th. W. Pogge (How Should Human Rights be Conceived?) zielt mit dem Aspekt einer grundlegenden Pflicht zur Unterlassung der Organisation von Unterdrückung auf eine institutionelle Freiheitssicherung, die indes - wie schon bei Montesquieu zu lernen ist - nicht unbedingt individualistisch radiziert sein muß. In dem Beitrag "Das Menschenbild der Menschenrechte" er-neuert W. Brugger seinen Versuch, die kulturspezifisch unterschiedlichen Auffassungen von den fundamentalen Rechten des Menschen als bloße Variationen eines im Grunde einheitlichen Menschenbildes darzustellen und damit harmonisierbar zu machen. Ähnlich denkt auch H. Bielefeldt: Human Rights in a Multicultural World. Den Vorzug größerer Konkretheit hat, was der Taiwanese Gau-jeng Ju (The Institutionalized Guarantee of Human Rights. An Inevitable Challenge for China at the Turn of the Century) und der Südafrikaner L. M. du Plessis (The Genesis of a Bill of Rights in a Divided Society. Observations on the Ideological Dialectic Reflected in the Chapter on Fundamental Rights in South Africa's Transitional Constitution) beisteuern. M. Kaufmann führt seine philosophiehistorischen Studien weiter und wartet mit interessanten Einsichten in die mittelalterliche Genese der Vorstellung subjektiver Rechte auf; in der Sache "Menschenrechte und Demokratie" führt das indes nicht erkennbar weiter. Was Hruschkas Beitrag (Rechtsstaat und Friedenshoffnung) betrifft, so ist die Diskussion inzwischen durch die Publikationen zum Jubiläum von Kants Friedensschrift fortgeschritten. Anschließend bemüht sich Joerden, dem politischen Schlagwort "Unrechtsstaat" mit Hilfe von Kants Staatstypologie zur Qualität eines Begriffs zu verhelfen. Vier amerikanische Beiträge regen zu Vergleichen unserer verschiedenen Rechtskulturen an: In der Theorie des Minderheitenproblems ist man dort aus vielfältigen Erfahrungen weiter, wie der Beitrag von Th. W. Merrill (Toward a General Theory of Minority Groups: Outsider Groups, Adversity Groups, and Transfer Groups) belegt. Die papers von G. P. Fletscher (Democracy in Jury Selection) und M. F. Grady (Legal Evolution and Precedent) - mit dem Tagungsthema allenfalls lose verbunden - stellen dem Case Law verpflichtete rechtstheoretische Äquivalente für das dar, was auf der Grundlage kodifizierten Rechts die Dogmatik als Meta-Recht leistet. In G. Marshalls Text schließlich (What is Protected by the Right to Privacy?) wird der deutsche Jurist kaum ein Problem finden, das in Theorie und Praxis des sog. Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht schon reichlich traktiert ist.

Abermals umfangreicher und reichhaltiger sind in diesem 3. Bd. die Abteilungen "Abhandlungen" und "Diskussionsforum" geworden. Neben den offenbar unvermeidlichen Untersuchungen zur Rechtfertigung staatlicher Strafgewalt - mal mit, mal ohne Kant - findet sich auch eine ganz aktuelle Besinnung eines ostdeutschen Politikers: "Die ostdeutsche Revolution - Fortsetzung mit rechtsstaatlichen Mitteln?" von Steffen Heitmann. In diesem Abschnitt wird (endlich) auch die eindimensionale und einschichtige Betrachtungsweise der Menschenrechte aufgebrochen: Xiaorong Li, Human Rights: Priority Ranking, Conflict & Trade-Offs. Der Rezensionsteil hingegen weist nur noch zwei Nummern auf. Da fragt sich, ob es nicht vielleicht besser wäre, auf diesen Teil ganz zu verzichten und stattdessen das jetzt erfreulich vielfältige und anregende "Diskussionsform" gelegentlich um eine Rezensionsabhandlung oder eine Sammelbesprechung zu erweitern.

Insgesamt dürfte sich dieses verdienstvolle, vom Verlag sehr ansprechend präsentierte Unternehmen mit dem 3. Bd. jedoch konsolidiert und sein Profil gefunden haben.