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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

570–572

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Strehle, Stephen

Titel/Untertitel:

The Catholic Roots of the Protestant Gospel. Encounter between the Middle Ages and the Reformation.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. XI, 146 S. gr. 8o = Studies in the History of Christian Thought, 60. Lw. hlg 95,-. ISBN 90-04-10203-5.

Rezensent:

Thomas Kaufmann

Der Titel des Buches verspricht eine Art Synthese der seit einigen Jahrzehnten intensivierten theologiehistorischen Forschungen zu dem Themenfeld "Spätmittelalter und Reformation". Daß eine solche Bestandsaufnahme, zumal im Horizont fortschreitender einzelwissenschaftlicher Forschungen, dringend erwünscht wäre, wird kein Kundiger bestreiten. Was das Buch aber faktisch bietet, ist eine Abrechnung mit dem Protestantismus im ganzen, ein im Gewand theologiegeschichtlicher Rekurse auf die gegenwärtige ökumenische Debatte abzielender Appell an den zeitgenössischen Protestantismus, davon abzusehen, einzelne doktrinale Positionen seiner konfessionellen Gegner, insbesondere dem Katholizismus, zu negieren. Der Nachweis, daß "Catholic theologians" - damit meint der Vf. neben den Scholastikern vor allem Erasmus (z. B. 66 u. ö.) - einen "enormen" ("enormous", 127) Einfluß auf Luther und die "early Protestants" (ebd.) ausübten, auch wenn diese sich dessen nicht bewußt waren (112), dient dazu, die anti,katholische' Polemik der ,Protestanten' als historisch kontingentes Selbstmißverständnis zu erweisen. Die "Truth", so weiß der Vf., sei nicht in "one location or certain bytes (!) of information" (129) zu finden, sondern in der Gemeinschaft ("communion", ebd.) "with our fellow man" (ebd.). Für die ,protestantischen' Kirchen und Denominationen unserer Tage ergebe sich aus dieser Einsicht die Konsequenz, ihre jeweiligen Traditionen zu überprüfen und etwaige geistige Agressionspotentiale abzubauen: die Baptisten sollen sich überlegen, welche Unruhe ihre Glaubensvorfahren im Züricher Gemeinwesen verursacht haben, die Lutheraner sollen sich klar machen, daß Luther die Ursache des Schismas geworden sei und die Katholiken, daß ihre verkommene Kirche ("their corrupt church", 127) den Anlaß für dieses Schisma geboten habe. Die zentrale Absicht der Studie, so faßt der Vf. dankenswerterweise selbst zusammen, sei es, die Fehler der Reformation zu bekennen und ihre Exzesse zuzugeben (127). Der Vf. nimmt also für eine ganze, höchst komplexe und bewegte, in ihrer Einheitlichkeit zutiefst strittige, unter den Begriff ,Protestantismus' subsumierte kirchengeschichtliche Tradition eine Bußübung auf sich. Der Rez. vermag ihm dies nicht zu danken.

Ein eigentlich historisches Interesse am Zeitalter des 16. Jh.s hat der Vf. nicht. Begriffe wie "catholic church" (2; 4) werden univok zur Bezeichnung der spätmittelalterlichen Kirche und des römisch-katholischen Konfessionssystems nach dem Tridentinum verwandt; Zwingli wird zum "founder" (30) der reformierten Kirche; die lutherische, wie die reformierte Orthodoxie (27 f.; 37; 40 f.) werden von der Reformatorengeneration her beurteilt und als durch Vereinseitigung geprägte Dekadenzphänomene beschrieben. Die Versöhnungslehre Luthers wird als Lösung einer durch ,rationalistische' Anfragen des Faustus Sozini (101) entstandenen Diskussionslage erörtert.

Das Buch ist in fünf Kap. eingeteilt. Die ersten beiden Kap. heben historisch an: Zunächst wird die Gewißheitsthematik in der Wittenberger Reformation vor ihrem mittelalterlichen Hintergrund erörtert (I, 5-29). Sodann folgt eine Darstellung des Evangeliums in der Zürcher und Genfer Reformation (II, 30-65). In drei systematischen Querschnitten werden schließlich nacheinander die Imputationslehre (III, 66-85), die Versöhnungslehre (IV, 86-110) und die Frage des göttlichen Willens im Kontext der Versöhnungslehre (V, 111-126) zusammengefaßt. Für jeden der Abschnitte ist die Ausgangsthese des Vf.s leitend, die gesamte protestantische Lehrentwicklung wurzele in ihren charakteristischen Lehrbildungen "within the Catholic Church and must be seen as a development of that tradition" (3). Die Weiterführung unbestreitbarer Kontinuitätsmomente der Reformation gegenüber der Theologie des Mittelalters im Sinne linear-genetischer Ableitungen ist als Charakteristikum dieses Buches zu werten. Die einseitige Verabsolutierung des Kontinuitätsparadigmas verniedlicht den globalen kirchengeschichtlichen Umbruch der Reformation zum Problem eines sich in historischen Legendenbildungen ausformenden historischen Selbstmißverständnisses des Protestantismus.

Das erste Kap. soll eine Destruktion der ,Legende' von Luthers eruptivem, durch das Paulusstudium geleiteten reformatorischen Umbruch bieten. Ausgehend von frühen Selbstzeugnissen Luthers sucht der Vf. zu zeigen, daß sich die Hinwendung des Wittenberger Reformators zum Evangelium als allmählicher Prozeß vollzog und daß der scotischen Bußtheologie und ihrer Reduktion der Vergebungsvoraussetzungen auf das "non ponere obicem" bei diesem Vorgang eine zentrale Rolle zufiel (26). Die scotistische Bußtheologie habe "genuine certainty in the penitent" (ebd.) erzeugt. Wie das lutherische Verständnis des Glaubens und der Gewißheit im Scotismus gründe, so die am Beispiel Zwinglis, Bucers, Calvins und Bullingers exemplifizierte Interpretationsgestalt des "Protestant Gospel" in der Lehre des Erasmus von Rotterdam (64), der - wie es scheint - vom Vf. in einer bruchlosen Kontinuität mit dem Thomismus gesehen wird. Die Grundthesen des dritten Kap.s lauten: Die Absage gegenüber dem durchaus zu Recht, freilich etwas einlinig, in große Nähe zu Luther gestellten Osiander und die Ausbildung der forensischen Rechtfertigungslehre durch Melanchthon habe die "justification" zu einem "pure figment of the divine imagination" gemacht, "unconnected to our regeneration or the life of God in us" (84). Einmal mehr erscheint also Melanchthon als der eigentliche ,Sündenfall' reformatorischer Lehrbildung. Das vierte Kap. rekonstruiert, anknüpfend an Aulén, verschiedene Typen der Versöhnungslehre. Melanchthon und Zwingli werden als Vertreter eines "cross-centered, juridical concept" (109) vorgestellt, Sozini als Exponent eines zweiten, die Freiheit des göttlichen Willens als Quelle der Vergebung betonenden Typus. Beza und Grotius hätten die Aporien der scotistischen und sozinianischen Zentrierung auf den göttlichen Willen als der eigentlichen Quelle der Versöhnung nicht überwunden, während Luther und Calvin ein an der Person Christi selbst orientiertes Versöhnungskonzept entwickelt hätten, das sein Zentrum in der Abendmahlslehre gehabt habe. Das Schlußkapitel analysiert die Lehre vom Willen des Vaters im Calvinismus im Horizont der Polarität von Notwendigkeit und Freiheit. Das Ziel des Protestantismus, absolute Gewißheit zu begründen, sei theologisch durchweg unbefriedigend geblieben; der Calvinismus habe sich durch seine Lehre vom syllogismus practicus aber am ehesten der Wirklichkeit des zweifelnden Glaubenden angenommen und damit eine particula veri seiner katholischen Gegner aufgenommen.

Das knappe Referat verdeutlicht: Das hier vorgelegte Buch des Professors für Religion am St. Leo College ist ein Thesenbuch. In denkar knappen Kapiteln werden grundsätzliche Behauptungen aufgestellt, die im Kern darauf hinauslaufen, daß die protestantische Begründung religiöser Gewißheit aporetisch sei und im gegenwärtigen Diskurs durch die Aufnahme der von ihnen bestrittenen katholischen Positionen zu ergänzen ist. Doch der bloße Appell genügt Strehle nicht; die von ihm geforderte diskursive und dialogische Wahrheit jenseits konfessioneller Identitäten gründet in seinem Gottesverständnis. Weil der Vater nicht in "isolation" (129), sondern in "dynamic relationsship" (ebd.) mit den anderen Personen der Trinität lebe, folge der Ökumenismus aus dem Gottesgedanken selbst. Autoritativer - und in bezug auf den Zusammenhang von Theologie und ökumenischer Praxis geurteilt - autoritärer kann man wohl das Gebot wechselseitigen Verstehens im ökumenischen Dialog nicht begründen.

Daß freilich der vom Vf. proponierte Begriff des Ökumenischen schlechterdings nicht imstande ist, die kirchengeschichtliche Realität der Frühen Neuzeit zu erfassen, sei immerhin angemerkt, zumal ja auch in der deutschen Reformationsgeschichtsforschung der Ökumenebegriff (z. B. in bezug auf den "Ökumeniker" Bucer) gelegentlich Anwendung findet. Die moderne "Ökumene" hat nicht nur die lebensweltlichen Bedingungen der ,Weltgesellschaft' zu ihrer historischen Voraussetzung, sondern doch wohl auch die Formierung konfessioneller Kirchentümer, deren Prozeß die frühneuzeitliche Kirchengeschichte prägt. Der Ökumenebegriff und das sich aus ihm ergebende Profil wechselseitiger Verständigung dürfte m. E. zur Bezeichnung von Sachverhalten des 16. und 17. Jh.s ungeeignet sein, weil er ein anachronistisches Modell interkonfessioneller Beziehungen und sich daraus ergebender Diskursstrukturen in Anwendung bringt.

Die vom Vf. geäußerte Behauptung, die Beschäftigung mit der Reformation werde ausschließlich in Gestalt konfessioneller Parteilichkeit geübt (z. B. 2 f.), stimmt, so sehr sie gegenüber jeder wirklichen historischen Verstehensbemühung befremden muß, nachdenklich. Sollte es wirklich unmöglich sein, etwa als Protestant Sachverhalte des Reformationszeitalters aus anderen denn konfessionsapologetischen Interessen zu behandeln, stünde die Würde der Kirchengeschichte als historischer Wissenschaft zur Disposition.

Strehles Buch beweist, daß sich ein ökumenisches Anliegen dem historischen Verstehen gegenüber durchaus indifferent verhält, wenn es nicht von historischer Methodik getragen ist. Heiko A. Oberman, den der Vf. in dem Vorwort des Buches als "the most important historical theologian of our time" bezeichnet, hat die Studie in die von ihm herausgegebene renommierte Reihe der "Studies of the History of Christian Thought" aufgenommen. Diese Entscheidung verwundert. Das wesentliche Anliegen dieser Reihe, "the world of ideas" nicht "in isolation", sondern "in its social setting and political context" (Klappentext zur Reihe) zu studieren, steht in diametralem Gegensatz zum Anliegen des Vf.s und zur ,Methode' seines Buches.