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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

695–697

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lohse, Bernhard

Titel/Untertitel:

Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 378 S. gr. 8o. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525-52197-9.

Rezensent:

Eric W. Gritsch

Der seit 1992 emeritierte Hamburger Lutherforscher offeriert in diesem Buch eine gediegene, wohl temperierte und klare Darstellung von Luthers theologischem Denken. Die Darstellung wird in drei Teilen entfaltet: I. Eine ausführliche Einleitung befaßt sich mit Vorerwägungen und Voraussetzungen, die die Kriterien, die kirchlich-theologische Lage um 1500, Luthers persönlichen Lebensgang und die Eigenart seiner Theologie ins Auge fassen; 2. Das Kernstück des Buches ist eine in vierzehn Kurzkapiteln meisterhafte genetisch-historische Analyse der Theologie Luthers aufgrund aller wesentlichen Texte zwischen 1509 (Randbemerkungen zu Augustin und Lombardus) und 1539 (Streit mit den Antinomern); 3. Eine systematische Erfassung der theologischen Lebensarbeit Luthers im Rahmen traditioneller loci (Trinität, Anthropologie, Ekklesiologie, Ethik, Eschatologie) mit den Themen Schriftautorität, Vernunft und Glaube als Einstieg. Ein Exkurs behandelt Luthers Haltung zu den Juden als "Randfrage" seiner Theologie. Sekundäre Literaturangaben am Anfang eines jeden Kapitels, Namen- und Sachregister erleichtern Nichtspezialisten Zugang zu Luthers theologischem Denken.

Das Buch ist summarisch angelegt und geht nicht auf polemische Interpretationsargumente ein, obwohl konträre Positionen klar in Fußnoten angezeigt werden. Besonders hilfreich sind genaue Quellenangaben im Zusammenhang mit neuralgischen Themen. Zwei Beispiele mögen dies erhellen: Luthers Lehre von den zwei Reichen und seine Stellung zu den Juden.

Die "Zwei-Reiche-Lehre", so genannt durch Karl Barth, be-zeichne Luthers Gedanken über Evangelium und Obrigkeit nicht richtig, weil ein solcher Terminus eine Systematik und Konsequenz bei der Anwendung unterstellt, die sich bei Luther nicht belegen lassen. Seine Lehre von Regimenten sei zwar traditionsgeschichtlich bei Augustin verankert, habe jedoch stärker als Augustin die Problematik des christlichen Staates erkannt. Der Konflikt mit Rom habe Luther gezeigt, wie verwoben die beiden Reiche im mittelalterlichen Denken waren und wie das Papsttum an der Überordnung der geistlich-kirchlichen Gewalt überweltliche Obrigkeit festhielt. Luther war daher bedacht, die Unterscheidung beider Regimente als Grundlage des christlichen Lebens in der Welt zu postulieren, d.h. die Existenz des Menschen "coram Deo" und "coram mundo" zu unterscheiden. Die rechte Unterscheidung müsse daher im Leben der Christen als Bürger beider Reiche vollzogen werden. In diesem Sinne sei theologisch und auch für Luthers ethischen Ansatz seine Rede von den drei Ständen (Priesterstand, Ehestand und weltliche Obrigkeit) wichtig, weil er damit den Einsatz der Christen im gesamten Leben der Welt anzeigen will. Die komplementären "Hierarchien", ecclesiastica, politica und oeconomica deuteten dies noch klarer an. Es müsse davor gewarnt werden, Luther so zu verstehen, als hätte er eine Zwei-Reiche-Lehre zunächst prinzipiell entworfen und hätte sie dann jeweils auf bestimmte Situationen angewandt. Die Lehre sei von immer sich wandelnden Problemstellungen in den verschiedenen Auseinandersetzungen zwischen Luther und anderen geprägt worden. Daher sei die Unterscheidung der zwei Reiche immer von Luthers jeweiligem politischen Verhalten bestimmt, wobei er nicht immer die beste Distinktion zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit ausübte, wie sein Verhalten zu Schwärmern und Bauernrebellen zeige. Luther habe immer daran festgehalten, daß das Reich der Welt auf keinen Fall als "civitas diaboli" gewertet werden solle, sondern da Gottes Erhaltungs- und Liebeswille, selbst auch im göttlichen Zorn, überall gesehen werden müsse.

Luthers Stellung zu den Juden wird zum ersten Mal in einer deutschen Darstellung seiner Theologie behandelt - ein neuralgisches Thema nicht nur in der Lutherforschung, sondern auch in der politischen Geschichte und im gegenwärtigen Judentum, besonders in den Vereinigten Staaten, wo die zahlreichen und politisch sehr einflußreiche jüdische Bevölkerung schon lange darauf bestand, ein klares kritisches Wort von der Lutherforschung wie auch von lutherischen Kirchen hören. Seit dem
500- jährigen Jubiläum der Geburt Luthers, in geringerem Maße auch vorher, gab es solche Worte in der amerikanischen Lutherforschung und in lutherischen Kirchen.

In dieser Darstellung wird das kritische Wort im Zusammenhang einer genetisch-historischen Interpretation als Grundlage der systematisch-theologischen Erfassung Luthers gesprochen. Diese Methode verhindert, Luthers Position mit späteren Entwicklungen in Verbindung zu bringen, obwohl dabei die Wirkungsgeschichte seiner Judenkritik nicht ausgeschlossen wird Aufgrund dieser Methode wird Luthers radikale antijüdische Haltung in den Schriften von 1543 als Polemik gegen die jüdische Auslegung der messianischen Weissagungen des Alten Testamentes gesehen, wobei Luther sich auf das sachliche Recht der christlichen Deutung beruft. Damit seien die Juden wie die Schwärmer und Häretiker, die die Wahrheit der Heiligen Schrift wider besseres Wissen entstellten. Von daher gesehen seien Luthers Vorschlage für eine Judenverfolgung weder originell noch schärfer als das, was damals überall vertreten wurde. Denn nach Luthers Meinung würde die Tolerierung der Juden, das Nebeneinander von zwei Religionen auf einem Territorium, den Zorn Gottes hervorrufen. Eine kritische Rückfrage an Luther hinsichtlich seiner Stellung zu den Juden müsse einerseits die unbedingte Notwendigkeit zur religiösen Toleranz nennen und andrerseits fragen, ob Luther nicht Vorurteile beibehalten hat, die er im Zuge einer Selbstkritik hätte korrigieren müssen, weil er doch selbst ein Opfer kirchlicher Vorurteile war.

Man könnte auch fragen, ob Luthers Stellung zu den Juden mehr sei als eine "Randfrage" in seiner Theologie. Denn hatte Luther sich nicht von seinem eigenen systematisch-theologischen Prinzip abgekehrt, keine spekulative Aussage über den verborgenen Gott (deus absconditus) zu machen und sich nur auf den geoffenbarten Gott (deus revelatus) zu konzentrieren, als er sein Programm für eine Judenverfolgung schrieb? In seiner Stellung zu den Juden hatte er seinen eigenen Rat befolgen sollen, den er Erasmus und auch Studenten gab, daß ein guter Theologe nichts mit dem verborgenen Gott zu tun haben sollte. Luther hat es jedoch getan. Es sei unmöglich, so argumentierte er (Wider die Sabbather, 1538), da Gott sein Volk 1500 Jahre lang im Exil bleiben ließ, ohne Land, ohne Tempel, ohne Barmherzigkeit. Daher seien auch Christen aufgefordert, so wie Gott, nicht nur an den Juden zu verzagen, sondern sie wie Tiere aus dem Lande zu jagen. Hier hätte Luther auch von Paulus lernen können, daß Israel nicht von Gott verstoßen ist und da das "Wie" und "Wann" seiner Bekehrung zu Christus ein noch nicht geoffenbartes Geheimnis ist (Röm 11).

Dieses Buch zeigt, wie auch andere Arbeiten des Autors, wie man Luther als Theologen verstehen kann, ohne immer wieder in einer Vielzahl verwirrender Argumente zu versinken, weil Entstehungs- und Wirkungsgeschichte nicht gut unterschieden werden. Hier wird im speziellen Sinne des Wortes ein "Nach-Denken" der Eigenart von Luthers Theologie vollzogen, wie der Autor sie mit Luthers eigenen Worten charakterisiert: "Eine Theologie, die den Kern der Nuß erforscht", eine "theologia crucis", die wahre "Erkenntnis Gottes und des Menschen".

Das vorliegende Buch nimmt eine Brückenstellung ein zwischen einflußreichen historischen Darstellungen (z.B. Theodosius Harnack oder Reinhold Seeberg) und systematischen Zusammenfassungen z. B. Hans Joachim Iwand oder Philp J. Watson). Der Autor steht hier in der Tradition eines Julius Köstlin, der am Ende des 19. Jh.s eine historisch-systematische Darstellung vorlegte. Doch gibt es heute eine neue Welt der Lutherforschung, die der Autor meisterhaft benutzt, und seinen Lesern so den Theologen Luther vorstellt, wie er vielleicht wirklich war.