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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

566–568

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hodler, Beat

Titel/Untertitel:

Das "Ärgernis" der Reformation. Begriffsgeschichtlicher Zugang zu einer biblisch legitimierten politischen Ethik.

Verlag:

Mainz: von Zabern 1995. VII, 298 S. 8o = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 158. Lw. DM 68,-. ISBN 3-8053-1653-4.

Rezensent:

Holsten Fagerberg

,Skandale' sind heute ein Thema des politischen Alltags. Seine Wurzeln hat das Wort im ntl. skandalon, das seinerseits atl. Hintergrund hat und in der Bibel in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht wird. In der Regel wird es mit ,Ärgernis' ins Deutsche übersetzt, welches deswegen billigerweise dieselbe Vieldeutigkeit übernommen hat. Einige Beispiele der Übersetzung des Neuen Testaments Luthers vom Jahre 1522 können den Sachverhalt beleuchten.

Im Anschluß an Jes 8,14 ("ein Stein des anstossens und ein Fels des ergernis") bezeichnet Paulus (Röm 9,3) Christus als einen "stein des anlauffens, und eyn felß des ergernis" und nach 1 Pet 2,8 ist Christus ein "steyn des anstossens" und ein "Felß des ergernis".

Ebenso gewöhnlich ist die Bedeutung ,Verführung'. Als Verb kommt sie in der Bergpredigt vor: "Ergert dich aber deyn rechtes aug, so reyß es auß und wirfs von dir" (Mt 5,29) und als Substantiv in Mt 13,41: "Des menschen Sohn wird seyne Engel senden, und sie werden samlenn aus seynem reych alle ergernisse, und die da unrecht thun". Eine dritte ntl. Bedeutung des Verbs ist "zu Falle kommen" (Mt 24,10: "Denn werden sich viel ergern, und werden sich unternander verrhaten").

In den Auseinandersetzungen zwischen den Altgläubigen und den verschiedenen Richtungen der Reformation wurde der Begriff des ,Ergernis' oft gebraucht. Die Katholiken klagten die Evangelischen dessen an, ,Ergernise' zu verursachen; mit der Hilfe der vieldeutigen ,Ergernis' und ,ergern' richteten diese ihrerseits entsprechende Vorwürfe gegen ihre Gegner.

In seiner vorliegenden Dissertation hat H. die Aufgabe übernommen, die Bedeutung des Begriffes und seine sozialen und politischen Implikationen während der Reformationszeit zu untersuchen. Dies geschieht unter der Voraussetzung, daß das gesprochene und geschriebene Wort damals das Geschehen stark beeinflußt und zu den gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen wesentlich beigetragen hat. In seiner Untersuchung macht H. von den Schriften Luthers ausführlichen Gebrauch, aber auch Zwingli und eine große Anzahl anderer schweizerischer, deutscher und französischer Texte werden als Quellen benutzt. Der Vf. blickt sowohl zurück als auch nach vorn, um die Herkunft des Begriffes und seine spätere Verwendung zu beleuchten.

Der Gang der Darstellung ist wie folgt: In Kap. 2 wird der sprachliche Hintergrund des Ärgernisbegriffes untersucht. Er sei aus dem Adjektiv ,arg' abgeleitet. ,Ergern' und ,Ergernis' hätten bei Luther die Hauptbedeutung von ,schlechter machen/werden' und ,Verschlechterung' (42). Dieselbe Grundbedeutung begegne uns in nichtlutherischen Texten der Reformationszeit, in vorlutherischen deutschsprachigen Bibelübersetzungen und in der profanen Sprache neben und vor Luther. Die Übersetzung von skandalon mit ,Ergernis' vermittele diesem zentralen biblischen Konzept einen sozialethischen und rechtlichen Hintergrund. Ein weiteres Ergebnis der philologischen Untersuchung besteht darin, daß das Wort ,Ärgernis' schon vor Luther in Gebrauch gewesen sei und er folglich nicht der Urheber dieses Begriffes gewesen sein könne.

In demselben zweiten Kap. wird auch die politische und die theologische Dimension des Begriffes untersucht. Als politischer Fachausdruck sei er zur Verteidigung der verschiedensten katholischen, reformierten und täuferischen Positionen gebraucht. Dabei lassen sich zwei Argumentationsrichtungen unterscheiden: jene der Minderheit, die das vermeinte Ärgernis der Etablierten verachtete, und jene der institutionalisierten Kirchen, die jedes sündige Ärgernis verfolgten.

In Anknüpfung an einige Bibelstellen, vorwiegend Mt 18, meint der Vf. die politische Verwendung von ,Ergernis' behaupten zu können. Seine Schlußfolgerung ist, "daß die unterschiedlichen Teilnehmer an der reformatorischen Ärgernisdebatte auf eine gemeinsame Lehre von Ärgernis" rekurrierten (113).

Das dritte Kap. handelt nicht von dieser gemeinsamen Lehre, sondern von expliziten Lehren "de scandalo". Hier werden sowohl die Lehren von Ärgernis bei Luther, Melanchthon, Karlstadt, Zwingli, Gottschalk Kruse und Schatzgeyer als auch die Äquivalente in anderen Sprachen, u. a. bei Calvin und Viret, beleuchtet. Das Ergebnis seiner Untersuchung faßt Hodler auf folgende Weise zusammen:

"Biblisch fundierte, in Volkssprachen formulierte Ärgernislehren mit sozialethischem Inhalt sind in der Reformationszeit häufig. Ausgehend vom Begriff ,Ergernis' wurden sie als ein wichtiges Element der politischen Sprache jener Zeit freigelegt" (146).

"Gemeinsam ist in den meisten dieser Lehren das Bestreben, die Freiheit des Christenmenschen konkret zu beschreiben" (147).

Im zweiten Teil des dritten Kap.s wird der Sinn des lateinischen scandalum bei Thomas von Aquin untersucht. Es geht hervor, daß seine Konzepte, obwohl mit geringem Verständnis für das biblische skandalon, mehrere Jahrhunderte überlebten.

Die Stärke der Abhandlung liegt in der Zusammenstellung eines umfassenden Materials, das die Jahrhunderte vor und nach der Reformation umspannt. Nicht nur die Texte der Reformatoren in Deutschland, der Schweiz und Frankreich sind benutzt worden, sondern auch die ihrer Gegner und der Flugschriften, was eine bedeutende Arbeit erfordert hat.

Die Hauptkritik richtet sich gegen die Vorstellung des Vf.s von einer gemeinsamen reformatorischen Ärgernislehre. H. kann erwidern, er spreche in Kap. 3 explizit von Lehren de scandalo und verwahre sich selbst gegen eine solche Vereinfachung. "Selbstverständlich handelt es sich bei den betrachteten Lehren keineswegs um eine uniforme Doktrin" (146).

Zwei Umstände stützen aber den Eindruck, daß H. doch das Vorhandensein einer übergreifenden Ärgernislehre vertritt: teils die Behauptung, daß ,Ärgernis' eine einzige Grundbedeutung hätte, teils die Betonung seiner übergreifenden politischen Dimension.

Daß ,Ergernis', wie das biblische skandalon, mehrere Bedeutungen hat, ist schon durch die obigen, einleitenden Beispiele hervorgegangen. Als weiteres Beispiel können Luthers Predigten über Mt 18 angeführt werden, wo er der Erklärung des ,Ergernis' einen großen Raum gibt. In gewöhnlichem Sprachgebrauch, sagt er, meint ,Ergernis' "ein böß exempel" (WA 47, 252:4), im Neuen Testament aber ist sein Sinn eine "falsche lehre, die do stracks verderbet und verfhuret vom rechten wege" (260:16 f.). "Das rechte ergerniss ist, dadurch man mit unrechter lehre und leben wider Gott und sein Wortt ist und mit einem schein oder deckel des Gottlichen namens einfeltige leuthe verfhuret und unter diesem schein den Teuffel verkeuffet" (252:23-26). ,Ärgernis' bezieht sich auf das Vergehen gegen die erste Tafel des Dekalogs; es bedeutet die falsche Lehre, die die Glaubensgerechtigkeit verneint und die Werkgerechtigkeit in der Gestalt der Wallfahrten, der Messen und der Mönchsfrömmigkeit befördert. Diesen Tatsachen gegenüber ist die Behauptung des Vf.s schwer verständlich, daß ,Ergernis' bei Luther selten zusammen mit falscher Lehre und Fall begegne (37).

Das Wort ,politisch' bedeutet in der Abhandlung sowohl ,politisch' im gewöhnlichen Sinne als auch ,kirchenpolitisch'. Aus seiner Kritik zieht aber Luther keine anderen politischen Konsequenzen, als die Aufforderung, daß der Christgläubige denjenigen den Gehorsam verweigern solle, die den rechten Gottesdienst verhindern. In seiner Polemik richtet er sich gleichermaßen an den Papst, die "Sacramentirer, Widderteuffer und andere Rottengeister" (WA 47, 255:344 f.). Das Gegenmittel sind nicht politische Maßnahmen, sondern ein Glaube, der sich auf das Wort der Hl. Schrift stützt und das Gebet und die gute Erziehung der Kinder befördert.

Auf eine ganz andere Weise verhielt es sich in Zürich, wo Zwingli von Mt 18,8 her in seinen Schlußreden von 1523 Bann, Todesstrafe und Absetzung der Gegner befürwortete. Dort wurde Hans Büelmann zum Tode verurteilt, weil er den Zürcher Reformator als Schelm, Dieb und Seelenmörder beschimpft hatte. Die politische Dimension der Ärgernislehre tritt in einem ganz anderen Licht auf dem linkel Flügel der Reformation hervor als bei Luther. Darum ist es dem Vf. nicht überzeugend gelungen, das Vorkommen "einer biblisch legitimierten politischen Ethik" (Untertitel des Buches) nachzuweisen und noch weniger, ihre Tragweite zu erklären.