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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

693–695

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Grane, Leif

Titel/Untertitel:

Martinus Noster. Luther in the German Reform Movement 1518–1521.

Verlag:

Mainz: von Zabern 1994. XII. 326 S. gr. 8o = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Religionsgeschichte, 155. Lw. DM 78,-. ISBN 3-8053-1652-6.

Rezensent:

Kurt-Victor Selge

Nach "Contra Gabrielem" 1517 (1962) und "Modus loquendi theologicus" 1515-1518 (1975) ist dies Granes drittes Buch über die Entstehung der Reformation, aber es ist ein sehr anderes Buch als die beiden ersten. "Contra Gabrielem" führte in die esoterische Begriffswelt der 1516/17 abgelehnten Scholastik, "Modus loquendi theologicus" in die Paulushermeneutik, aber auch in die Bildung der Wittenberger theologische Reformgruppe und die Auseinandersetzungen des Jahres 1518 (bis Cajetan). Diesen letzten Teil nimmt das neue Buch wieder auf, indem es Luther in der von ihm dann 1520/21 umgeprägten humanistischen Reformbewegung darstellt. Anstelle der Statistiken von Luthers Schriften, denen seiner Anhänger und Gegner, wie sie die neuere Forschung zur frühesten Reformation lange beherrschten, anstelle eines publizistik- und kommunikationsgeschichtlichen Ansatzes also, treten Inhaltsangaben, die eine motivgeschichtliche Entwicklungslinie ergeben, verbunden mit Zusammenfassungen der Fortschritte Luthers in der Auseinandersetzung, wobei die Leipziger Disputation 1519 und "Exsurge Domine" 1520 sowie das Echo auf beide Ereignisse im Mittelpunkt stehen.

Anstatt der deutschen Sprache in den beiden ersten (in den Acta theologica Danica erschienenen) Standardwerken hat der Autor für das in einer deutschen Reihe erschienene neue Buch die englische Sprache gewählt. Man sollte die Anstrengung und Entäußerung eines Autors, der um der Leserschaft willen seine Hauptwerke in gewiß ziemlich perfekt beherrschten Fremdsprachen publiziert, würdigen. Zugleich lernt der deutsche Leser aus der Wahl des Englischen: auch Germanica parum leguntur. ("Italicum est: non legitur" lautet ein Aufsatztitel des Mediävisten Ovidio Capitani).

Der wesentliche Ertrag des Buches liegt in der reichen Dokumentation des Konsenses der Vertreter des "new learning" mit Luther über die höhere Autorität von Schrift und Vätern sowie sorgfältiger Exegese mit der Hilfe von Grammatik und Rhetorik gegenüber der philosophisch-theologischen Dialektik der Theologen. Dies ist nichts Neues; aber die fortlaufende Schilderung der Entwicklung und schließlichen Gefährdung dieses Konsenses gemäß dem Fortschritt der Entwicklung Luthers ist in vielen Punkten eindringlich und neu. Sie vergegenwärtigt zumindest vieles, was in der reichlich benutzten älteren und neueren Literatur verborgen ist. Besonders eindringlich und überzeugend sind die Interpretationen der variierenden Äußerungen des Erasmus, aber dasselbe könnte für viele Autoren, z.B. Capitos Schwanken, gesagt werden. Gleich am Anfang zieht Grane eine vernachlässigte Quelle für die Entwicklung der theologischen Wende in Wittenberg heran, Johannes Dölschs Verteidigung Luthers gegen das Urteil der Universitäten Köln und Löwen von 1520: Erasmus' Vorreden zum Neuen Testament 1516 spielten - glaubt Grane - eine wesentliche Rolle nicht nur für Dölsch und andere, sondern auch für Luther selbst bei seiner universitätsöffentlichen Wendung gegen die scholastische Theologie ab 1516 (unter der Voraussetzung der im Römerbriefkolleg dokumentierten bußtheologischen Abgrenzung vom gleichen Jahr, 15). Erasmus hatte spätestens in der 2. Vorrede der "Methodus" für alle seine Anhänger einen Grund dafür gelegt, daß Luthers antischolastischer Kampf Gehör finden konnte.

Kapitel I ("The background") verfolgt die Entwicklung der Reformgruppe 1518 bis zum ersten Antichristverdacht Luthers nach dem Augsburger Verhör durch Cajetan: Luthers Widerrufsverweigerung steht im Konsens mit dem verbreiteten, von Erasmus neu begründeten Verlangen nach authentischen Begründungen und eigenem Urteil in Fragen des persönlichen Christentums. Die Leipziger Disputation 1519 (2. und 3. Kapitel) entfaltete in der Frage des göttlichen Rechtes des Papsttums, des Wesens der Kirche, der Konzilsautorität und der wahren Tradition der Kirche diese Begründungsfrage in einer Weise, die die Vertreter des "new learning" in der großen Mehrheit vom Recht Luthers auf Gehör überzeugte; das wurde im anschließenden Streitschriftenkrieg deutlich (Kapitel 4 und 5). Die Partei der Reformer war so festgefügt in ihren Grundanschauungen und Aversionen, daß die Verurteilung Luthers durch die "Magistri nostri" von Köln und Löwen und selbst die Publikation der Bannandrohungsbulle mit ihrer dürren juristischen Sprache ohne theologische Argumente die Solidarität nur stärkte, ganz unabhängig auch jetzt noch von der Frage, ob Luther in allen umstrittenen Thesen recht habe oder nicht (6. und 7. Kapitel): das "endlich zu Verstand gekommene Deutschland" eines Teils dieser neuen Bildungsbewegung hat Verständnis selbst für den Verdacht, beim so regierenden Papsttum handle es sich um den Antichrist (202 f.). Hier freilich hört Luther auf, "einer von uns" zu sein, sondern Humanisten werden "Männer Luthers" (264). Das abschließende Kapitel behandelt Luthers Antwort auf die Bulle und stellt die ersten Anzeichen des Auseinanderfalls der Reformpartei zusammen, der nach der Reichsacht unausweichlich wurde. Die "Koalition" der Jahre 1518-20 war kein "produktives Mißverständnis", sondern basierte auf einem vorlutherischen, wesentlich von Erasmus bestimmten Konsens, an den Luther anknüpfte, und führte zu einem Lernprozeß Luthers und mit Luther über das Wesen des Christentums gegenüber dem sich gerade in der Luthersache weiter kompromittierenden herrschenden, durch traditionelle Scholastik und päpstliches Kirchenrecht gestützten System kirchlicher Macht und kirchlichen Lebens. Die Humanisten lernten in diesen Jahren - und das ist durch die theologischen Grundlagen Luthers bedingt, die in Erfahrung und Hörsaal gewonnen waren, nicht vom Humanismus übernommen -, daß an die Stelle der alten Theologie eine bessere, positive und assertorische Theologie treten müsse; soweit sie dies nicht lernten (wofür es innere und äußere Gründe gab), zogen sie sich zurück. Aber in der 1521 beginnenden neuen Phase mußten sie nicht einfache Kopisten Luthers werden; ihre erasmisch-humanistischen Motive mußten nur konkretere theologische Ausgestaltung im Sinne einer doctrina Christianismi gewinnen. Darin wurzeln die Differenzierungen der Reformation.

Als Gesamteindruck bleibt: die durch Luthers Eintritt und die Reaktion von Theologie und Papsttum hervorgerufene Spaltung ist in der antischolastischen Frömmigkeitsreform des "wahren Christentums" des Erasmus vor allem in der Phase des Reuchlinstreites vorbereitet und durch ihre Verbindung mit Luther gefördert worden; dabei waren beide Gebende und Nehmende. Auf die Jahre 1516 bis 1521 begrenzt, wird dies richtig sein (und klingt auch nicht sensationell). Stellt man Mittelalter und Reformation gegenüber, so wird man die Palette der Differenzierungen oder der systemimmanenten Pluralität und Spannungen mindestens im 15. Jh., aber auch schon seit dem Aufkommen der Fragen nach der vera et falsa ecclesia im 12./13. Jh. noch vielfältiger sehen können. Der "Antichrist" hat eine alte Tradition und Entwicklungsgeschichte, und die erasmische Reform ist nur eine neue Spielart der Reform: aber eben die für Luther mitprägende und koalitionsbildende. Diese Phase über drei entscheidende Jahre anschaulich gemacht zu haben, ist das Verdienst des Autors.