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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

692 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Goertz, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 140 S. m. 11 Abb. 8o = Kleine-Vandenhoeck-Reihe, 1571. DM 22,80. ISBN 3-525-33595-4.

Rezensent:

Holger Th. Gräf

Der anzuzeigende Band vereinigt sechs Aufsätze zum Thema ,Antiklerikalismus'. Drei erscheinen hier zum ersten Mal, drei werden wieder abgedruckt. Allen gemeinsam ist der Anspruch des Vf., die Einwände und Anregungen aufzunehmen, die nach der Publikation seines Buches über Pfaffenhaß und groß Geschrei im Jahre 1987 geäußert wurden.

Der erste Aufsatz entwirft ein sozialgeschichtliches Er-klärungsmodell, das dem Antiklerikalismus eine Schlüsselrolle für die erfolgreiche Durchsetzung der Reformation zuschreibt, insofern er die vielfältigen Ursachen und Motivationsstränge bündelte, gewissermaßen gleichschaltete. Die nächsten drei Aufsätze widmen sich dann dem Antiklerikalismus innerhalb der einzelnen Stände; zunächst der Kritik an einzelnen Klerikern und Mißständen innerhalb der Kirche aus den Reihen der Geistlichkeit selbst, dann der antiklerikalen Polemik in den Flugschriften des Adels und schließlich dem Antiklerikalismus der aufständischen Bauern. Dankenswerter Weise werden in den einzelnen Aufsätzen die jeweils typischen Motivationsstränge für den Antiklerikalismus herausgestrichen: beim reformatorischen Klerus die Notwendigkeit, die römische Hierarchie vom Mönch bis zum Papst als Feinde der Christenheit und Antichrist herauszustellen; beim Adel, neben humanistisch fundierter Ständekritik eines Ulrich von Hutten, der Versuch der Statussicherung gegenüber den Territorialfürsten, insonderheit der geistlichen Fürsten in Südwestdeutschland; bei den Bauern schließlich der Wunsch, die drückende Abgabenlast auf Kosten der klösterlichen, stiftischen oder bischöflichen Grundherrn zu verringern. Der fünfte Aufsatz gewährt Einblicke in die bildpropagandistische Rüstkammer des reformatorischen Antiklerikalismus. Hierbei ging es den Künstlern nicht um Illustration wirklicher oder vermeintlicher Mißstände, sondern es wurde mit grassen Stilmitteln bewußt karikiert und verunglimpft. Erst mit der auf einen Blick faßbaren Kritik der Flugblätter wurde eine breite Öffentlichkeit für eine Erneuerung der Christenheit mobilisiert. Der sechste und letzte Aufsatz beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen dem antiklerikalen Bestreben nach Reinigung der Kirche und der Gemeinde mit Hilfe der Kirchenzucht und der damit einhergehenden Sozialdisziplinierung. Als Beispiel wählt der Vf. hier die Täuferbewegungen aus. Die abschließende Betrachtung stilisiert den Antiklerikalismus als "gesellschaftlich höchst wirksame Kraft; zu einem Angriff auf die ständische Ordnung,... der in immer deutlicheren Schritten zu einer ,Entsakralisierung' der Gesellschaft führte."(116)

Sowohl aus der eigentlich theologie- und kirchengeschichtlichen, wie aus der struktur- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive wird der Leser an diesem Versuch, der Reformation ein einheitliches Gepräge, einen gemeinsamen Motivationskern zu geben, wenig Gefallen finden. Bereits Martin Brecht und Bernd Moeller stellten die von Goertz unterschätzte Rolle der Heilsfrage und die Papst- und Rom-, nicht aber generelle Kleruskritik als reformatorische Triebfedern heraus (in: Dykema/ Oberman, Anticlericalism). Die Konzentration auf die antiklerikale Schiene im reformatorischen Aufbruch relativiert den universalgeschichtlichen Ort der Reformation, etwa in ihrer Bedeutung für die frühmoderne Staatsbildung. Den Antiklerikalismus als einzige Möglichkeit laikaler Partizipation an kirchlichen Angelegenheiten zu sehen, wirkt arg verkürzend, denkt man etwa an das gemeindlich-kommunale Engagement in den Stadtkirchen oder im landesherrlichen Kirchenregiment bereits und gerade in der vorreformatorischen Zeit. Diese Sicht gipfelt in der diskussionsbedürftigen Feststellung, daß die Reformation "ohne die antiklerikal motivierten Bewegungen des ,gemeinen Mannes'"(19) eine Idee geblieben wäre. Es sollte nach Jahrzehnten fruchtbarer interdisziplinärer und profaner Reformationsgeschichtsschreibung eigentlich nicht mehr nötig sein, auf die Bedeutung der weltlichen Obrigkeiten für den Erfolg der Reformation hinzuweisen.

Dem Vf. wie dem Verlag gebührt Dank, mit diesem Bändchen den Zugang zu dieser wichtigen und lebhaften historiographischen Kontroverse zu erleichtern.