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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

564–566

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Boockmann, Hartmut [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 245 S. m. 12 Abb. gr. 8° = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Klasse, 3. Folge, 206. Kart. DM 90,-. ISBN 3-535-82593-5.

Rezensent:

Christoph Strohm

Der zu besprechende Band dokumentiert Beiträge, die im Zuge einer Ringvorlesung im Sommersemester 1992 vorgetragen wurden und die das Göttinger Graduiertenkolleg "Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts" eröffneten. Der Titel ist nicht als echte Themenangabe zu lesen, sondern steckt nur den Rahmen der elf Beiträge ab, die sehr unterschiedliche Fragestellungen erörtern. Die meisten Autoren und Autorinnen widmen sich Detailproblemen ihrer jeweiligen Fachgebiete. Darin liegt der besondere Wert und Reiz des Buches, aber auch seine Grenze.

Klaus Grubmüller bestimmt den literaturgeschichtlichen Ort der geistlichen Übersetzungsliteratur im 15. Jh. (vgl. 59-74). Volker Honemann untersucht die Hintergründe der Sternberger Hostienschändung vom Juli 1492 und erörtert dabei insbesondere den Wert der erhaltenen Quellen (vgl. 75-102). In seiner Analyse der Epistulae obscurorum virorum betont Fidel Rädle das Interesse der humanistischen Verfasser an der Sprache (vgl. 103-115). Wesentliches Ziel der "Briefe der Dunkelmänner" sei es gewesen, die scholastischen "Sprachverhunzer in ihrer eigenen elenden Sprache [zu] verspotten" (111). "Die Nicht-Humanisten entlarven sich in ihrer Verächtlichkeit, die auch moralische Niedertracht einschließt, primär und am deutlichsten dadurch, daß sie die lateinische Sprache verhunzen... Humanismus wird zu einer Religion der Sprache. Die Mißhandlung dieser Sprache ist somit Blasphemie und Sakrileg" (110). Es ist zu diskutieren, ob die Intentionen des Mitverfassers Ulrich von Hutten damit voll erfaßt sind und ob man nicht auf dem Hintergrund seiner Biographie kirchenpolitische Motivationen stärker gewichten müßte. Den neuesten Stand der Grünewald-Forschung präsentiert Karl Arndt in anschaulicher und überzeugender Weise (vgl. 116-147). Aus dem Bereich der Musikgeschichte interpretiert Martin Staehelin Teile von Sixt Dietrichs Liedkompositionen (vgl. 165-185). Verständlicherweise hatte der junge Musiker Dietrich in Konstanz mit der Reformation Züricher Prägung Schwierigkeiten, findet aber seine eigenen Anliegen bei Luther voll aufgehoben. Inge Magers Analyse des Witwentrostbuchs der Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen stellt nicht nur das Werk einer ungewöhnlichen Frau vor, sondern bringt auch die gesellschaftliche Stellung der Witwen in der Reformationszeit ins Bewußtsein (vgl. 207-224). Der einzige Beitrag, der eingehender institutionen- und rechtsgeschichtliche Fragestellungen bearbeitet, ist Wolfgang Petkes materialreiche Abhandlung über "Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation" (vgl. 26-58).

Die einzelnen Aufsätze bieten solide Information zu den angesprochenen Detailproblemen. Ein wirklicher Disziplinen-übergreifender Austausch, wie ihn das Vorwort verheißt, ist aber nur in Ansätzen wahrzunehmen. Hingewiesen sei hier besonders auf Karl Stackmanns Beitrag über Flugschriften evangelischer Prediger an frühere Gemeinden (vgl. 186-206). Der Literarhistoriker Stackmann berichtet aus einem gemeinsam mit dem Kirchenhistoriker Bernd Moeller durchgeführten Forschungsprojekt, in dem auf Grund von Quellenmaterial aus der Flugschriftenliteratur die Aufnahme und Verbreitung der Gedanken Luthers insbesondere in den Städten untersucht wird. Die literarhistorischen Fragestellungen, die Stackmann aufführt, unterscheiden sich von dem normalerweise auf die Lehrinhalte ausgerichteten Interesse des Kirchenhistorikers. Stackmann fragt 1. nach den meinungsbildenden Inhalten, d. h. der Darstellung faktischer Sachverhalte und Ereignisse, der Einschätzung der Zeitsituation und der geforderten Einstellung, 2. nach der Vermittlung des Inhalts und 3. nach der Überlieferung der Drucke.

Grundsätzlicheren Charakter haben die drei übrigen Beiträge. Hartmut Boockmann erörtert die gängigen Verhältnisbestimmungen des 15. Jh.s und der Reformation und gelangt zu einem "Plädoyer für ein von der reformationszeitlichen Perspektive emanzipiertes 15. Jahrhundert" (25). Gegenüber der traditionell evangelischen Abwertung des 15. Jh.s als einer Zeit des Niedergangs sei festzuhalten: "Hier wurde ein politischer Rahmen geschaffen, ohne den die Reformation schwerlich die Gestalt hätte gewinnen können, die sie schließlich erhielt. Nicht ein verfallendes, sondern ein stabilisiertes Reich stellte die politische Voraussetzung der Reformation dar, und für die kirchlichen Zustände gilt etwas ähnliches" (24).

Bernd Moeller untersucht die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß (vgl. 148-164), als einen Vorgang, "dessen Verlauf und dessen Dynamik durch Kommunikation, das heißt den Austausch von Mitteilungen und die Verständigung über diese, hervorgerufen und gesteuert wurde" (149). Der Buchdruck ermöglichte in neuer Weise, Kommunikationszusammenhänge - "Öffentlichkeit" - herzustellen. Luther war der erste, dem die neue Konstellation zugute kam, und zugleich bewirkte die Produktion und Rezeption seiner Bücher eine Revolution des Buchwesens. Kennzeichnend für den Kommunikationsprozeß, den die frühe Reformation von 1517 bis 1525 darstellte, war, daß vor allem seelsorgerlich-katechetische Werke in deutscher Sprache und von geringem Umfang einen hohen Verbreitungsgrad erzielten. Solche nicht für die Gelehrten, sondern für die "einfältigen Laien" bestimmten Schriften machten Luther nicht primär als Polemiker und Kirchenrebell, sondern vornehmlich als "religiösen Volksschriftsteller" bekannt (vgl. 150). Zwei Festellungen Moellers hinsichtlich des Kommunikationsprozesses der frühen Reformation seien zitiert: "1. Bei der Verbreitung und Werbung zugunsten des Neuen wirkten eine Mehrzahl von Vertretern der alten Bildungseliten und eine Minderzahl von Angehörigen neuer, literarisch noch ungeübter Gruppen zusammen, und es waren Elemente der neuen Lehre selbst, die dies möglich machten. 2. Jene Mehrzahl freilich, also Kleriker und Mönche, waren die eigentlichen Akteure. Von den Flugschriften her gesehen stellt sich die Reformation somit dar als Rebellion eines Teils des kirchlichen Personals gegen das herkömmliche Kirchenwesen. Freilich kommunizierten die Rebellen dabei mit den Laien; diese dürften zu ganz überwiegenden Teilen die Leserschaft gestellt haben. Die ,reformatorische Öffentlichkeit' umfaßte beide Gruppen" (155). Über solche Beobachtungen hinaus ist Moellers Analyse des plötzlichen Aufbruchs einer umfangreichen Literaturproduktion nicht zuletzt auch aufgrund des dazu gebotenen Zahlenmaterials wertvoll.

Den Abschluß des Bandes bildet Dorothea Wendebourgs Erörterung des Themas "Die Einheit der Reformation als historisches Problem" (vgl. 225-240). Hier wird die These entfaltet: "Eine Einheit ist die Reformation nicht in sich; was sie zur Einheit macht, ist vielmehr das Urteil der Gegenreformation" (228). Oder mit anderen Worten: "Das, was die Reformation zur ,Reformation' machte, war das Urteil der Gegenreformation" (ebd.). Zurecht weist die Autorin auf das Problem, durch eine genetische oder auch eine inhaltlich-theologische Argumentationsweise die Einheit der Reformation aus der Innenperspektive zu erweisen. Zweifellos besteht eine große Kontinuität reformatorischer Anliegen mit denen von Humanisten und anderen reformerisch Gesinnten. Gleichwohl gibt es auch einen Minimalkonsens innerhalb des reformatorischen Lagers, wie ihn zum Beispiel Moeller mit anderen in der frühen Flugschriftenliteratur findet (vgl. 154). Wenn man das Gewicht nicht so sehr auf die Abgrenzbarkeit als vielmehr auf den Minimalkonsens legt, ist es auch möglich, die Einheit der Reformation nicht allein im Urteil und der Reaktion der Gegner zu begründen. Wie dem auch sei, Wendebourgs Beitrag zeigt gerade in der Auseinandersetzung mit Moeller noch einmal den Wert dieser thematisch vielfältigen Vortragssammlung.