Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

693–695

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Sträter, Udo

Titel/Untertitel:

Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. 190 S. gr. 8 = Beiträge zur historischen Theologie, 91. Pp. DM 148,-. ISBN 3-16-146299-8.

Rezensent:

Ernst Koch

Der Titel dieses Buches, einer der Evang.-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 1990/91 vorgelegten und für den Druck leicht gekürzten bzw. ergänzten Habilitationsschrift, kündigt einen Beitrag zu einem Forschungsfeld an, auf dem zur Zeit Literaturwissenschaft und Kirchen-, Frömmigkeits-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte intensiv diskutiert wird. "Neue Frömmigkeit", "Krise", "Individualisierung" lauten einige Stichworte, um die die international geführte Diskussion kreist. Sie kommen auch in diesem Buch zur Sprache.

Dem Thema Meditation war bereits die Dissertation des Vf.s gewidmet ("Sonthom, Byly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert", Tübingen 1987). "Meditation ist im 17. Jahrhundert der methodisch geprägte intellektuelle Umgang mit einem Text, einem Bild oder einem Sachverhalt mit dem Ziel, die affektive Dimension dieses Gegenstandes zu erschließen" - so lautet die Definition, die der vorliegenden Untersuchung vorgegeben wird (7 Anm. 34.). St. ist es zweifelhaft, ob eine funktionale Komplementarität von Angst und Trost wirklich als beherrschendes Produktions- und Rezeptionsmotiv von Erbauungsliteratur für länger als ein Jahrhundert anzunehmen ist und stellt damit Fragen an die Konzeption von Hartmut Lehmann (19). Für die Predigt ist als Generalskopus seit der Mitte des 17. Jh.s die Buße auszumachen und damit eine Absicht, die mit dem Wandel der Generationen mehr und mehr ihr Ziel verfehlte. "Wer Trost braucht, ist nicht das halsstarrige Volk, sondern der ungehörte Bußprediger" (21).

St.s genereller Einwand gegen Winfried Zeller, Klara Erdei und Elke Axmacher ist die These, daß die von ihnen wahrgenommene Krise eine "Krise der Kirchlichkeit" sei, die sich in einer "Krise der kirchlichen Verkündung manifestiert" (30 u.ö.). Das Auseinanderklaffen von kirchlicher Lehre und ihrer Wirkung mache die öffentliche Gemeindepredigt zum "Sorgenkind des Jh.s" (144). So findet die Untersuchung ihr eigentliches Thema in der Untersuchung von Maßnahmen zur Behebung dieses Mißstandes, wobei die Quellen "im Bewußtsein der Standortgebundenheit und Intentionalität ihrer Verfasser" ausgewertet werden sollen (33).

Die Ergebnisse sind, daß sowohl Johann Arndt als auch Johann Gerhard, Ludwig Dunte und Johann Schmidt als Verfasser von Meditationsanleitungen Meditation instrumentalisiert haben. Auch Arndt nutzt Mystik als Instrument der Anrede an die Lesenden (35). Analog gilt für Johann Gerhard: "Die Me-ditation ist das zentrale Mittel, durch das der Heilige Geist das Wort Gottes im Menschen so säen und pflanzen will, daß es aufgehe und ein fruchttragender Baum werde. Die Schola Pietatis ist das erste ganz aus dem Grundzug der Meditation entwickelte lutherische Erbauungsbuch, das in persuasiver Absicht einen Grundkurs der christlichen Existenz anbietet" (52). Ludwig Duntes "Wahre und rechtmessige Ubung des Christen-thumbs" (1630) bietet "ein geradezu monastisches System von Frömmigkeitsübungen... eingebettet in ein hoch individualisiertes Gesamtkonzept christlicher Frömmigkeit"(54), Johann Schmidt macht an die Predigt sich anschließende Meditation zur Pflicht und fügt das Gebet hinzu (60-67).

Das bedeutet, daß nach der Intention dieser und anderer Kirchenreformer der Meditation in funktionaler Zuordnung auf die Predigt "die entscheidende Rolle... zur Rettung der bedrohten Kirchlichkeit" zufallen sollte (73). St. vermerkt, daß diese Be-schreibung der der Meditation zugedachten Aufgabe nicht umfassend und erschöpfend ist. Wohl aber wurde - getreu dem Ansatz reformatorischer Theologie - die Krise der Kirchlichkeit im 17. Jh. eben als Krise der Predigt verstanden. Vorschläge zur Behebung betrafen flankierende Maßnahmen wie Erfolgskontrolle und Aufmerksamkeit auf die Katechese, aber auch rhetorische Sorgfalt (vgl. den Exkurs über Paul Tarnow 93-100) und die Relativierung der Zentralstellung der Predigt (vgl. den Exkurs über die Meditation des Abendmahlsvollzugs 90-93). In diesem Zusammenhang kam es zu einer "(Wieder)-Entdeckung des Zuhörers" (83), letztlich zu einer "deutlichen Relativierung der Bedeutung des Predigers und zu einer starken Aufwertung der Privaterbauung des cultus privatus" (84) - "...die entscheidende Schwelle ist das Ohr des Zuhörers" (86). Aus der Predigt über das Gleichnis vom vierfachen Acker (Luk 8,4-15) am Sonntag Sexagesimae entwickelte sich eine eigene Predigtgattung über das Predigthören, unterstützt durch Belehrungen über das Hören in Handbüchern des christlichen Lebens. Bei Spener erhält die Meditation Vorrang vor der Predigt (90), dann aber eben als private Meditation von Bibeltexten, für die Anleitungen erarbeitet wurden (105-118). St. möchte die Erbauungsliteratur des 17. Jh.s als "Meditationsanleitungen im Vollzug" verstehen (113).

Was die Bemühungen um eine Verbesserung der Katechese betrifft, war Spener nicht innovativ, sondern "exemplarisch" (120). Eben auf die Katechese bezogen, begegnet bei ihm das anekdotische Diktum: "Wie bringen wir den Kopff in das Hertz?" Unterschiedlich argumentieren die zeitgenössischen Autoren, wenn es um den Kampf um die Sonntagsheiligung ging (vgl. 129-144). Er wurde nahezu zum heißen Eisen. St. erblickt darin einen Grund dafür, daß sie in Speners Pia desideria keine Rolle spielt. Wohl aber trennte sich Spener vom Grundsatz, Kirchenreform durch Kirchenzucht betreiben zu wollen (vgl 149-156). Somit war die Einrichtung von Collegia pietatis durch ihn eine Konsequenz aus der längst im Gange befindlichen Debatte um die Wirkungslosigkeit der kirchlichen Verkündigung, und St. erinnert an das positive Gutachten der Kieler Theologen von 1676 zur Sache (160). Die in den Collegia pietatis zunächst genutzte Lektüre stammte bezeichnenderweise aus der Erbauungsliteratur. (Für die gegenwärtige Debatte um die Vorgeschichte der Collegia pietatis sind die Ausführungen über die Unterschiede dieser Einrichtung zu den frommen Sozietäten wichtig, 156-162).

Die vorliegende Untersuchung schreitet ein weites Feld ab und kommt in der Diskussion mit den Quellen zu pointierten und anregenden Urteilen, markiert aber auch, wo die Quellen schweigen und vorschnelle Urteile nicht zulassen. Damit ist sie hilfreich, auch dort, wo gegenwärtig modische Verallgemeinerungen der "Tradition" naheliegen, und bietet eine gute Basis für weitere Untersuchungen, zumal St. "die für das 17. Jh. typische Ungleichzeitigkeit der Phänomene" kennt und es für möglich hält, daß "regionale Schwerpunkte" Differenzierungen bringen können (73). Eine solche Vermutung legt sich bereits im Vergleich mit der zweiten Hälfte des 16. Jh.s nahe, und auch die regional unterschiedlichen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges mögen unterschiedliche Akzente der Reaktionen ausgelöst haben.

St. hat bewußt die religiöse Dichtung aus seiner Untersuchung ausgeklammert, möglicherweise würde ein Vergleich mit ihr das Gesamtbild weiter differenzieren. Aber bereits solche Überlegungen zeigen, wie überaus anregend dieses Buch wirken kann. Es bedeutet einen großen Gewinn für die frömmigkeitgeschichtliche Erforschung des 17. Jh.s.

Eine kleine Korrektur: Sigismund Evenius war Kirchenrat in Weimar (gegen 77).