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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

704 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Selke, Jürgen

Titel/Untertitel:

Katholische Kirche im Sozialismus? Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe in der DDR zum Weltfriedenstag 1983 und seine Bedeutung für das Verhältnis von Katholischer Kirche und Staat DDR.

Verlag:

Altenberge: Oros 1995. 300 S. 8o = Münsteraner Theologische Abhandlungen, 38. Kart. DM 58.-. ISBN 3-89375-113-0.

Rezensent:

Jürgen Seidel

Nicht allen Diplomandinnen und Diplomanden widerfährt das Glück, daß ihre Examensarbeit im Druck erscheint. Im allgemeinen wird dafür eine besondere Leistung vorausgesetzt. S. hat m. E. eine solche Würdigung mit seiner in Münster erarbeiteten Schrift redlich verdient.

Der Vf. verdeutlicht am Beispiel der Friedensthematik einen Entwicklungsweg der katholischen Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat DDR. Mehr als drei Jahrzehnte galt die von dem Berliner Kardinal Bengsch entwickelte "Geschäftsgrundlage" für das Verhältnis zum sozialistischen Staat: prinzipielle, strikte Trennung von Katholischer Kirche und Staat bei politischer Abstinenz und neutraler Distanz der Kirche. Erst seit 1978 zeichnete sich schrittweise eine gesellschaftspolitische Neuorientierung im hierarchischen Raum der katholischen Kirche ab. Mit der Einführung des Wehrkundeunterrichts an DDR-Schulen und weiterer kirchenpolitisch belastender Vorgänge vermehrten sich die friedensethischen Aktivitäten evangelischer Christen. Auf katholischer Seite entstanden Arbeitskreise mit ähnlicher Zielsetzung. Die Ordinariate gerieten dadurch unter Handlungszwang. Nach dem Tod der beiden Bischöfe Bengsch und Aufderbeck, Wortführer einer strikten Distanz zum Staat, bestimmten mehrheitlich jüngere und flexiblere Hierarchen den neuen Kurs der Kirche. Durch die Wahl des polnischen Bischofs Wojtyla zum Papst 1978 wurden die östlichen Kirchen vermehrt zur pastoralen Standortbestimmung in der materialistischen Umwelt und zu aktuellen Stellungnahmen ermutigt und von diesem darin ausdrücklich bestärkt.

Die kritisierte "Sprachlosigkeit" der Katholischen Kirche in der DDR schien seitdem überwunden. Deutliches Zeichen dafür war der Hirtenbrief der Bischöfe zum Weltfriedenstag 1983.

Der Vf. erläutert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Friedenswortes. Hier erfährt nun der Leser, daß eine gemeinsame bischöfliche Verlautbarung bereits zum 1. Januar 1982 erarbeitet worden war, die infolge der polnischen Ereignisse im Dezember 1981 aber nie zur Verlesung und Publikation kam und unbekannt blieb. Der politische Druck in der DDR führte im folgenden Jahr spontan zu weiteren regionalen Friedens-Aktivitäten und -Stellungnahmen im Raum beider Großkirchen.

Der Titel des Buches impliziert die Ablehnung des Begriffes "Kirche im Sozialismus", wie er der evangelischen Kirche viele Jahre als Schlagzeile für ihre Standortfindung innerhalb der DDR-Gesellschaft diente. Denn die protestantische Kirche sei zwar seit März 1978 als "eigenständige gesellschaftliche Größe" durch Honecker anerkannt worden, sie mußte sich aber den Vorwurf der Opportunität durch ihre Kritiker gefallen lassen. Der Vf. dürfte sich bei dieser Überzeichnung wohl allzusehr von der journalistischen Meinungsmache der letzten Jahre bestimmt lassen haben und hat eine Prise Undifferenziertheit zuviel eingestreut.

Zum Bereich "Katholische Kirche und DDR-Staat" liegen bisher nur wenige publizierte Arbeiten vor. Das Thema war und ist wohl (kirchen-)politisch noch immer zu heiß. Die Scheu vor einer allzu offenen und kritischen Darlegung der Fakten ist offensichtlich. Die Furcht davor, daß kritische Leser nicht nur in der evangelischen, sondern auch in der katholischen Kirche einzelne Handlungsfelder ihrer Oberen hinterfragen und unter Umständen deren Nähe zur Stasi-Problematik untersuchen könnten, liegt auf der Hand.

Abschließend bedauert der Rez., daß die beiden der Arbeit zugrunde liegenden Hirtenbriefe von 1982 (Entwürfe) und 1983 selbst nicht dokumentarisch erfaßt sind, so daß der interessierte Leser auf eigene Quellensuche angewiesen ist, um den Deutungsgehalt des Vf.s überprüfen und umfassend würdigen zu können.