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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

855 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schloeman, Martin

Titel/Untertitel:

Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 258 S. 8o. ISBN 3-525-01617-4.

Rezensent:

Gerhard Graf

Es ist das kein Buch für eilige Leser, sondern erfordert durch eine teilweise sich verästelnde Spurensuche mitunter etwas Geduld, die sicher am ehesten von denen aufgebracht wird, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufgewachsen sind und nun schon seit Jahrzehnten diesem Wort die Treue halten. In seiner bekannten Form lautete es: "Und wenn morgen die Welt unterginge, so wollen wir doch heute noch unser Apfelbäumchen pflanzen."

Was möchte das Buch? Am Anfang steht die Neugier, ob das oft zitierte Wort tatsächlich auf Luther zurückgehe. Die Anwendung, schlagartig gegen Ende des Dritten Reiches auftauchend, widerspricht dem freilich eher. Warum war das Wort nicht bereits vorher in Gebrauch? Da die Lutherforschung die Existenz des Diktums nicht klären konnte, sind aus anderem Blickwinkel Recherchen zur Autorschaft unternommen worden. Man hat Cicero bemüht, aber auch Jochanan ben Zakkai als Zeitgenossen Paulus, ebenso den schwäbischen Pietismus und schließlich als Kind der Aufklärung Friedrich Christian Lauckhardt, den umstrittenen Magister in Halle ( 1822) und bekannt durch seine offenherzige Selbstbiographie. Etwas Überzeugendes haben die vorgewiesenen Spuren sämtlich, doch die eindeutige Zuschreibung kommt trotz aller gelehrten Erörterungen, die man mit Genuß nachvollziehen kann, in keinem Fall zustande. Auch daher ist jeder Leser eingeladen, sein Wissen und mehr noch, seinen Forscherdrang in den Dienst einer endgültigen Sicherung dieses Wortes zu stellen.

Allerdings dürfte, auch unbenommen künftiger Erkenntnisse, die mitgeteilte Rezeptionsgeschichte des Wortes ohnehin wohl den gewichtigeren Teil präsentieren. So formuliert der Untertitel ja auch: "Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg." Die große Zahl der Zeugnisse wird dabei vom Vf. historisch geordnet und zugleich thematisch etikettiert:

Anfänglich findet es sich als Trost- und Ermutigungswort der Bedrängten (so noch vor Kriegsende, vielleicht mit einer Keimzelle in Leipzig, und dann bis 1946). Es schließt sich an der Durchbruch zur Öffentlichkeit, indem es als Hoffnungssignal der Überlebenden und neu Beginnenden entdeckt wird (bis 1950). Dem folgt der etablierte Gebrauch, wobei sich das Diktum als Vergewisserungs- und Bekenntnissatz erweist (1950er Jahre). Diese Dimension setzt sich fort seit den 1960er Jahren als Zukunftswort, Optimismusformel und Lebenssymbol.

Insgesamt handelt es sich um eine Wortgeschichte mit einem markanten, sich verbreiternden Gefälle. War es zunächst eher eine individuelle Äußerung, so gewinnt das Wort - in der Aufbauarbeit der Bundesrepublik - den Rang eines zivilreligiösen Bekenntnisses einer breiten Allgemeinheit. Damit wurde auch der Anknüpfungspunkt geschaffen, daß man jenes Diktum später in den Streit um deutsche Staatlichkeit, Rüstung, Nachrüstung und ökologische Weltverantwortung hinübernahm. Seinen bewußt christlichen Sinn konnte es hier durch säkulare Adaption einbüßen. So griff entstellend in der DDR Ministerpräsident Otto Grotewohl auf dieses Wort zurück. Und in der Ökologiedebatte wurde es bei Hoimar von Ditfurth sogar Titel eines Buches. Als Kuriosum sei verzeichnet, daß selbst ein existenzbedrohter Fußballklub zur Beschreibung seiner Situation das Apfelbäumchenwort benutzte.

Schon seit den 1970er Jahren sieht der Vf. eine "Schneise der Distanzierung" gegenüber dem Diktum. Sein Sammlerfleiß offeriert eine vielfältige Welt des Pro und Contra, die dokumentiert wird bis in das Jahr 1993 und in diesem Zusammenhang auch christliche Verhaltensformen in der DDR benennt. Hier kannte man, so eine Reminiszenz des Rez., schließlich den Gebrauch dieses Wortes oft nicht mehr, aber man lebte es sinngemäß, oder es setzte sich fort in dem gleichgerichteten "Vertrauen wagen".

Eben weil das Wort vom Apfelbäumchen ein Schibboleth der Gesinnungen bewirkte, eignet es sich in besonderer Weise bei der Ermittlung von Zeitgeschehen. Das darzustellen ist dem Vf. eindrücklich gelungen im Rahmen eines halben Jh.s, wobei zeitliche Zäsuren in politischer Geschichte und Wortgeschichte sich gegenseitig decken und interpretieren. Spezielle Bedeutung, zumal wenn man sich im Nachgang nochmals orientieren möchte, erlangt das ausführliche Personenregister, das auch den Zugriff für die nicht nochmals gesondert aufgeführte Literatur vermittelt.

Noch hinzuweisen ist schließlich auf die dem Buch vorangestellte Widmung "Unsern Kindern und Enkeln". Die Geschichte des behandelten Diktums berechtigt zu dieser Empfehlung.