Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

471–474

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schieder, Rolf

Titel/Untertitel:

Religion im Radio. Protestantische Rundfunkarbeit in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 318 S. gr.8o. Kart. DM 79,-. ISBN 3-17-013223-7.

Rezensent:

Hans Otte

Der Rundfunkarbeit der Kirchen sind in letzter Zeit mehrere historische Untersuchungen gewidmet worden. Die vorliegende Arbeit ist weniger an der Institutionengeschichte oder an den theologischen Motiven der Beteiligten interessiert als an der Wahrnehmung des Rundfunks als Medium kirchlicher Arbeit. Der Vf. fragt nach den politischen und kulturellen Leitvorstellungen, die die Wahrnehmung der an Rundfunkarbeit Beteiligten steuerten und untersucht im zweiten Teil diskursanalytisch mehr als 200 Ansprachen von Pfarrern, die zwischen 1929 und 1939 über deutsche, vor allem bayerische Sender ausgestrahlt wurden.

Zunächst skizziert Sch. den Handlungsrahmen der kirchlichen Rundfunkarbeit in Bayern. Seit 1924 organisierte der Landesverein für Innere Mission in Nürnberg die Arbeit, von den Redakteuren im Rundfunk durchaus unterstützt. Die missionarischen Chancen und der Wille, konkurrierende Gruppen - die katholische Kirche und Freidenker - auszustechen, beflügelte die Verantwortlichen im Landesverein. Im Kampf gegen künstlerische und moralische "Verflachung" und aus Furcht vor zunehmender Zersetzung bisheriger Gemeinschaftsbildung forderten sie ,deutsch-christliche Kultur' im Rundfunk und lehnten den privat betriebenen Unterhaltungsrundfunk ab, weil nur der über den Parteien stehende Staat im Rundfunk "durch Volksbildung Volkbildung" (51) treiben könne. Antiliberale und antikapitalistische Motive dominierten in ihrer Argumentation. Die kirchlichen Rundfunkarbeiter begrüßten dementsprechend die ,Machtergreifung', hofften doch die nationalsozialistischen Rundfunkmacher ebenso, einen homogenen "Volkskörper" formieren zu können. Da diese glaubten, durch den Rundfunk in jedes Haus kommen zu können, schien ihnen die totale "geistige Mobilmachung des gesamten Volkes" (132) möglich zu sein. Doch die Hoffnung trog; selbst die Anordnung von Gemeinschaftsempfang konnte nicht verhindern, daß sich Hörer in ihre Privatsphäre entzogen, und das Verbot, Feindsender zu hören, offenbarte das Scheitern nationalsozialistischer Totalisierungsphantasien.

Die ,Machtergreifung' erleichterte zunächst die kirchliche Rundfunkarbeit, doch schon in der Karfreitagsansprache 1933 wurde die Identifizierung der Hörer mit dem jüdischen Volk vom Zensor gestrichen. Der Druck verstärkte sich, seitdem deutlich wurde, daß die Kirche nicht geschlossen nazifiziert werden konnte. Nationalsozialistische Morgenfeiern traten in Konkurrenz zu kirchlichen. Trotz verstärkter Anbiederung an die nationalsozialistische Weltanschauung wurde die Zensur verschärft, bis 1939 durch persönliche Anordnung Hitlers alle kirchlich verantworteten Sendungen eingestellt wurden. Damit war bis 1945 das Ende der Rundfunkarbeit gekommen.

Ausführlich reflektiert Sch. das Formproblem der religiösen Radioansprachen. Die Hoffnung, unendlich viele Hörer missionieren zu können, verhinderte bei den beteiligen Pfarrern die homiletisch-liturgische Reflexion weitgehend. Dabei hatten innerkirchliche Kulturkritiker, aber auch weite Teile des katholischen Klerus die kirchliche Mitwirkung im Rundfunk und vor allem die Übertragung von Gottesdiensten problematisiert: Das Nebeneinander unterschiedlichster, ja ideologisch konkurrierender Sendungen im Programm, das Fehlen der für den Gottesdienst typischen verpflichtenden Gemeinschaft und das Unkontrollierbare der meist privaten Hörsituation profaniere das Heilige, kritisierten sie, der Gottesdienst werde "zum Spielwerk jedes beliebigen Individuums" (116). Die Kritiker sahen deutlicher, daß im Rundfunk die Unterhaltungsfunktion dominierte. Damit hatte der Rundfunk langfristig Pluralisierungs- und Privatisierungswirkungen. Er taugte weder zur Formierung eines homogenen Volkskörpers, noch konnten die traditionellen Formen kirchlicher Rede unverändert in den Unterhaltungsdiskurs des Rundfunks übertragen werden.

Im zweiten Teil der Arbeit analysiert Sch. mehr als 200 Ansprachen, er hat dafür einen ausgezeichneten Quellenbestand im Landeskirchlichen Archiv Nürnberg nutzen können. Die Diskursanalyse geht davon aus, daß jedes Sprechen durch die zeitliche und räumliche Umgebung des Sprechenden definiert ist und durch Regeln geleitet wird, die die Anpassung an die Situation steuern. Sie lassen nur eine begrenzte Anzahl möglicher Aussagen zu und bestimmen durch den so entstehenden Zusammenhang den jeweiligen Diskurs. Predigten besitzen ein besonders spannendes diskursives Gefüge, da sie neben dem religiösen immer auch andere, z.B. militärische, juristische oder familiäre Diskurse aufnehmen. Nicht alle Diskurse lassen sich in eine Predigt integrieren, sie haben in der Predigtsituation eine unterschiedliche Plausibilität. Predigten, die eine hohe konnotative Identifikation herstellen wollen, nutzen außerdem gern Kollektivsymbole, die aus einem Diskurs in andere übertragen werden können. Ihre Benutzung und Kombination legt Mentalitäten frei, es läßt sich gleichsam der Zeitgeist ermitteln.

Sch. analysiert nacheinander unterschiedliche Diskurse in den Ansprachen, u. a. den politischen, ökonomischen, familialen und naturwissenschaftlich-technischen Diskurs. Die gesamte Darstellung wird durch die Analyse des politischen Diskurses strukturiert. Sch. kann nämlich zeigen, daß die Prediger ausgesprochen sensibel auf politische Veränderungen reagierten. Bis 1933 wurden immer die soziale Frage und die unterschiedliche Kompetenz, sie zu lösen, thematisiert.

Antikapitalistische Untertöne begleiteten die Ansprachen ebenso wie der Überdruß an der "Parteienwirtschaft" und die Hoffnung auf einen gottgesandten Führer. Nachdem sich die Nationalsozialisten fest etabliert hatten, wurde ihnen die Kompetenz zur Lösung aller politisch-sozialen Probleme zugeschrieben, die Auferstehungshoffnung wurde mit dem ,neuen' Deutschland identifiziert. Allmählich wurde aber leise Skepsis geäußert, seit 1935 wurde dann das Christentum gegen die nationalsozialistischen Vorwürfe verteidigt, z. T. Kritik an der Selbstvergottung des Menschen geübt, bis zuletzt - unter dem Druck der zunehmenden Kirchenkritik - das Recht der privaten Existenz hervorgehoben wurde. Steuerte bis 1935 die Volksgemeinschaft-Ideologie einen Großteil der Argumentation, so wurden angesichts der steigenden Zumutungen des NS-Staates die Werte des Privatlebens und des häuslichen Friedens betont, "man möchte in Frieden gelassen werden" (198). Die Sensibilität für die sich rasch ändernde Stellung von Kirche und Christentum in der Gesellschaft spiegelt sich auch in anderen Diskursen, etwa im pädagogisch-psychologischen.

Hier beobachtet Sch. ebenfalls vier Phasen: Wurde bis 1932 der frommen Erbaulichkeit der entschiedene Wille zur Tat ge-genübergestellt, so wurde in der Hochphase der Nazifizierung vor allem betont, daß Hingabe anstelle von Selbstsucht Leben schafft, nach 1935 wurde dem Hochmut die geistliche Demut gegenübergestellt und die Ansprachen der letzten Zeit vor dem Verbot thematisierten den Wert des eigenen Gewissens. Bei anderen Diskursen standen langfristige, bürgerlich-männliche Prägungen im Vordergrund, etwa im familialen Diskurs bei der Beschreibung des ,Weibes' und der Mutter oder bei der Schilderung des (abwesenden) Vaters. Insgesamt ist bemerkenswert, daß nicht die Technik selbst beklagt wurde - konnte sie doch die ,wirkliche' Abhängigkeit des Menschen zeigen -, sondern deren Folgen, die Rationalisierung im gesellschaftlichen Zu-sammenleben, die zunehmende Pluralisierung und Individualisierung.

Demgegenüber wurden die romantischen Träume einer Gemeinschaft mit Naturverbundenheit, Kampfesmut und Hingabebereitschaft beschworen. Die partielle Bejahung der modernen Technik bei Ablehnung ihrer gesellschaftlichen Folgen ähnelte durchaus der nationalsozialistischen Technikfaszination. Sch. erinnert daran, daß der Nationalsozialismus nicht die Moderne bekämpfte, sondern Gegenwart und Zukunft mit den technischen Mitteln beherrschen wollte. Bei ihm dominierte der Antiliberalismus; der liberale Respekt vor dem Anderen, dessen Recht gewahrt werden muß, wurde bekämpft.

Hier sieht Sch. die tiefste Nähe zwischen der nationalsozialistischen Ideologie und der Verkündigung der Radiopfarrer. Auch die kirchlichen Ansprachen waren Ausdruck einer romantischen Entgrenzungssehnsucht. Die einengende Wirklichkeit konnte nicht durch den "klügelnden Verstand", sondern nur durch die entschiedene, hingebungsvolle Tat aufgesprengt werden. Aber - und diese Differenz bleibt bei Sch. unterbelichtet - im Nationalsozialismus wird dasjenige, das nicht integriert werden kann, vernichtet, während im Christentum das Urteil über den Anderen Gott überlassen bleibt. Hier bleibt eine strukturelle Differenz.

Insgesamt besticht die Arbeit durch die Integration praktisch-theologischer Überlegungen mit dem gegenwärtigen Stand der NS-Forschung. Die Diskursanalyse erweist sich bei der Bestimmung der protestantischen Mentalität zwischen 1925 und 1940 als ausgesprochen ertragreich. Das Programm der Mentalitätsgeschichte, das oft genug nur Forderung bleibt, wird eingelöst. Im Vergleich von NS-Ideologie und nationalsozialistischen Morgenfeiern analysiert Sch. präziser als in der bisherigen Forschung die religiösen Momente des Nationalsozialismus; hier markiert die Arbeit einen Forschungsfortschritt, der nicht nur von der Kirchengeschichte, sondern auch von der Zeitgeschichte generell zur Kenntnis genommen werden sollte.

Drei kritische Bemerkungen zum Schluß. Erstens: In den Jahren 1937-1938 wurden die Morgenansprachen nur noch von ganz wenigen Pfarrern gehalten, zuletzt 1939 nur noch von einem. Ist damit das subjektive Moment nicht doch stärker zu berücksichtigen, als das bei Sch. der Fall ist? Ist die Hervorhebung des eigenen Gewissens und der privaten Existenz nicht möglicherweise gerade ein Proprium dieses Pfarrers? Zweitens: Sch. setzt voraus, daß der religiöse Diskurs prinzipiell als Verpflichtungsdiskurs definiert ist; d. h. daß die Predigt von vornherein durch ihren Zusammenhang mit Bekenntnis und Gebet der Zuhörer bestimmt ist.

Davon unterscheidet er die religiöse Rede, die sich dem Unterhaltungsdiskurs verpflichtet weiß und der individuellen Erbauung ohne verpflichtenden Anspruch dient. Wenn Religion und religiöser Diskurs so stark durch Verpflichtung definiert werden, wird unklar, was das religiöse Moment bei der ,religiösen Rede' ausmacht; der nicht weiter explizierte Hinweis auf ,Erbauung' reicht nicht aus. Drittens: Sch. betont stark die antimoderne, romantische Dimension des Protestantismus; es gehöre "zu den Mythen der Geschichtswissenschaft, daß den Protestantismus seit der Aufklärung ein hoher Grad an Rationalität auszeichnet." Solche Behauptungen entstünden, "wenn man allein Aussagen von Theologieprofessoren als Ausdruck des Protestantismus nimmt" (270).

Hier überzieht Sch., weil das Ergebnis seiner Analysen doch zunächst nur für eine bestimmte Epoche gilt, die Zeit nach der traumatischen Niederlage des Ersten Weltkriegs, durch die bestimmte Bestandteile des Protestantismus, die sonst marginalisiert waren, in den Vordergrund traten. Hier muß aber stärker historisiert werden: Gilt die These vom ,irrationalen Protestantismus' nicht nur für diese Zeit? Gilt sie nicht allein für Pfarrer einer bestimmten Region, die in dritter Generation stark von der Erweckung bestimmt waren? Solche Fragen können nur anhand von Beispielen anderer Gebiete und Zeiten diskutiert werden, in jedem Fall sollten die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit einbezogen werden.