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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

705 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Ragaz, Leonhard

Titel/Untertitel:

Eingriffe ins Zeitgeschehen. Reich Gottes und Politik. Texte von 1900–1945. Hrsg. von R. Brassel u. W. Spieler.

Verlag:

Luzern : Edition Exodus 1995. 319 S. 8o. Kart. DM 39,80. ISBN 3-905575-56-6.

Rezensent:

Reinhart Staats

Leonhard Ragaz (1868-1945) ist eine der Symbolfiguren des Religiösen Sozialismus. Unter einem Geleitwort des verdienten Ragaz-Forschers Markus Mattmüller haben nun der Historiker Ruedi Brassel und der Redaktor der ehemals von R. redigierten "Neuen Wege", Willy Spieler, einen Textband vorgelegt, der R. als politischen und religiösen Schriftsteller und Redner kennenlernen hilft.

Die Texte sind in vier Gruppen eingeteilt, die jeweils mit einer kurzen Einleitung versehen sind. In der I. Gruppe ("Reich Gottes - Prophetie - Politik") wird R.' Definition von "Religion" erkennbar, die auf den Bruch mit der Theologie als gelehrtem System (Nr. 4) und auf das Selbstverständnis eines wider Theologie und Kirche um Gerechtigkeit kämpfenden Propheten hinausläuft (Nr. 9). Die II. Gruppe ("Sozialismus - Sozialdemokratie - Kommunismus") läßt das für R. (und laut Einleitung auch für die Hgg.) immer wieder aufbrechende Problem erkennen, wie denn neben dem "realen", sich parteipolitisch oder revolutionär verwirklichenden, ein religiöser, auf das Reich Gottes verweisender Sozialismus bestehen kann. Die III. Gruppe ("Pazifismus - Abrüstung - Völkerbund und die Schweiz") führt R. als Friedensethiker und politischen Analytiker vor Augen. Die IV. Gruppe ("Zur Weltlage" und "Zur schweizerischen Lage") enthält hellsichtige Analysen zur Zeitlage, etwa zu den Pariser Vorortverträgen 1919 und zum Aufkommen des Nationalsozialismus.

Da der Band ein "politisches Lesebuch" (22) sein soll, läßt sich nach der Aktualität der Texte fragen. R.' Schritt aus der von ihm beklagten Selbstabschließung der Theologie hin zu einer Weltzuwendung macht ihn für ein breites, geschichtlich und politisch interessiertes Publikum lesenswert. Dazu trägt u. a. seine heute noch aktuelle Kritik von 1927 an den ökologischen und gesellschaftlichen Folgen des Autoverkehrs (Nr. 33) oder sein Ringen um das Erlaubtsein von Gewaltausübung durch eine "Völkerbundspolizei" (Nr. 36, zum Abessinienkrieg Mussolinis) bei. Ob aber R. im Sinne der Hrgg. dem "Sozialismus" heute eine neue, ethische Begründung verleihen kann (18), muß nach der Lektüre dieses Bandes offen bleiben: Der Gegner der Diktatur des Proletariates (Nr. 13) und Kritiker des "offenkundigen Verfalls der bisherigen Sozialdemokratie" (152) hätte in allen Zeitläuften die unbedingte Hoffnung auf die weltverändernde Kraft des anbrechenden Gottesreiches (nicht wir warten auf Gott, sondern Gott wartet auf uns, 55) nicht aufgegeben. Diesen tiefen, weltzugewandten und zur Konkretion der Rede befähigenden eschatologischen Ernst, ohne den es bei R. keine Ethik gibt, mag jedenfalls der theologisch interessierte Leser von R. lernen.

Da bei R. ein "Zusammenhang zwischen Bibelauslegung und Zeitkommentar" zu sehen ist (Mattmüller, 14), wäre ein Bibelstellenregister, ebenso ein Namensregister wünschenswert ge-wesen. Anmerkungen am Schluß der Texte enthalten zeitgeschichtliche Hintergrundinformationen.