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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

701 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Münz, Christoph

Titel/Untertitel:

Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 584 S. gr. 8o. Lw. DM 48,-. ISBN 3-579-00095-0.

Rezensent:

Johann Maier

Inhalt: Vorwort von Christian Meier (13-17); I. Einleitung (21-35); II. Historiographische Problematik und Einordnung des Themas (37-110); III. Struktur und Zentralität von Gedächtnis im Judentum Teil 1 (111-150); 1. Zum Zusammenhang von Geschichte und Religion im Judentum; 1.1. Offenbarung und Bund. 1.2 Grundlagen rabbinischen Geschichtsverständnisses; 1.3. Rabbinisches Judentum - Flucht aus der Geschichte? IV. Die Wahrnehmungen der religiösen Problematik des Holocaust im innerjüdischen Raum (151-198); V. Jüdische Holocaust-Theologie (199-399); VI. Struktur und Zentralität von Gedächtnis im Judentum Teil 2 (401-456); VII. Die Nichtbeachtung der jüdischen Diskussion um die Bedeutung des Holocaust in Geschichtswissenschaft und Theologie im deutschsprachigen Raum (457-480); VIII. Schlußwort (481-490); Nachwort von Martin Stöhr (491-497); Bibliographie (499-579); Autorenregister (580-584).

Diese Arbeit wurde in Siegen im Fach Geschichte als Dissertation angenommen, trägt aber weithin Züge eines theologisch-polemischen Traktats. Nur der Hauptteil V hat ernstlich informativen Charakter, denn hier wird eine gründlich erarbeitete Wiedergabe jüdischer Positionen und Gegenpositionen geboten: 1. Orthodoxie (genauer: nur extreme Orthodoxie); 2. Die Klassiker der Holocaust-Theologie: I. Maybaum (233 ff.); R. L. Rubenstein (245 ff.); E. L. Fackenheim (266 ff.); E. Berkowits (306ff.); 3. neuere Entwicklungen (329ff.): A. A. Cohen; I. Greenberg; M. H. Ellis. Auch im Teil VI. (Passah und Vergegenwärtigung; Holocaust-Theologie und Gedächtnis; Historiographie versus Gedächtnis) findet sich noch solide Information, wenngleich sich die fleißig, aber fachwissenschaftlich undifferenziert angelesenen judaistischen Kenntnisse des Autors immer wieder als zu flach und punktuell erweisen. So entging ihm z.B. die für den modernen Begriff "Holocaust" nicht unerhebliche martyrologische Bedeutung des 'Aqedah-Motivs seit der Kreuzzugszeit. Auch zur christlichen Vorstellung von Vergegenwärtigung und zum Märtyrergedenken wäre einiges zu erwähnen gewesen.

Im wissenschaftlichen Hauptteil V werden Vertreter be-stimmter Segmente des jüdischen Spektrums behandelt, Die innerjüdischen Richtungen werden dabei zu wenig deutlich gemacht und der politische Hintergrund und die israelischen außenpolitischen Aspekte bleiben völlig außer Betracht; historische Bezugspunkte sind allein "Holocaust", Sechstagekrieg, Jom-Kippur-Krieg. Außer Betracht bleiben der "Umbruch" vom Mai 1977, die Interaktion zwischen Holocaust-Welle, rechtszionistischer Politik und extremistischen Aktivitäten. Die ideologische Literatur des Rechtszionismus mit seinen extremistischen und religiös-zelotischen Ausläufern wird ebenso wie die Ideologie weltweit vertretener militanter jüdischer Organisationen stillschweigend übergangen, ebenso der thematisch relevante Amalek-Komplex beim Begriff des Gedenkens. Auf S. 172 (Anm. 46) spricht der Autor kurz im Rahmen der "Umkehrbewegung" verharmlosend von "religiöser Renaissance", ausgelöst aus Sorge um bedrohte jüdische "Identität". Hier beweist der Autor bedingungslose Parteilichkeit, die auf der jüdischen Seite ebenso schönfärbt wie sie auf der christlichen Seite anschwärzt. Für die dahinterstehende Geschichtstheologie, S. 463 (bei heftiger Polemik gegen alles Übrige) mit den Namen Henrix, Marquardt, Metz, von der Osten-Sacken, Pfisterer, Stöhr und Thoma verbunden, wird ein exklusiver Wahrheitsanspruch erhoben. Diesem Trend entsprechen Vereinfachungen und Pauschalierungen: Die Menschheit erscheint nur als "die Deutschen", "die Christen" und "die Juden", "die Opferseite" und "die Täterseite". Der Autor selbst aber weiß sich auf einem moralischen Podest, von dem herab er seine Zensuren ("Ignoranz", "Insensibilität", "Verdrängung") verteilt.

"Identitätsfindung" ist kein positives Anliegen an sich, sie ist zunächst einmal Symptom eines profunden Egozentrismus; in keinem Fall ist es ein christliches Anliegen, es sei denn, die Identität der Christen in Jesus Christus ist bereits vergessen worden. Auch eine dogmatisch verabsolutierte Geschichtstheologie ist für sich noch nichts Überzeugendes. Es kommt darauf an, was sich daraus an konkreter Haltung gegenüber den lebensbedrohenden Vorgängen und damit für Andere von heute und morgen ergibt. Wie werden nach fünfzig Jahren junge Autoren wohl darüber urteilen, daß in unseren Jahren mit viel publizistischem Aufwand Holocaust-Museen und Denkmäler errichtet wurden, aber dem Unheil im ehemaligen Jugoslawien erst so spät und dann gerade nicht von europäischer Seite ernsthaft Aufmerksamkeit gewidmet worden ist? Die vielen anonymen Spender der Aktion "Nachbar in Not" und ähnlicher Unternehmen haben offensichtlich mehr aus der Geschichte gelernt, als die Politiker, Geschichtstheologen und Geschichtsideologen, denen es in erster Linie um die Definition ihrer nationalen "Identität" und um ihr persönliches Profil geht. Es möge "den Deutschen" und der ganzen Welt erspart bleiben, daß eine deutsche Nabelbeschau bzw. "Identitätsfindung" Schule macht, die sich an einem kritiklos positiv verzeichneten Judentum orientiert und letztlich wieder zu einer nationalen Absonderung und Überheblichkeit führt, die ein normales menschliches Selbstverständnis ausschließt.