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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

824–827

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Meier, Kurt

Titel/Untertitel:

Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. 500 S. 8 = de Gruyter Studienhandbuch. Kart. DM 68,-. ISBN 3-11-013761-5.

Rezensent:

Jens Holger Schjørring

Seit einigen Jahren ist die Geschichte der theologischen Fakultäten in den Jahren des nationalsozialistischen Herrschaftssystems ein Schwerpunkt in der Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte gewesen. Neben einer ansehnlichen Reihe von individuell verfaßten Forschungsbeiträgen erschien vor nunmehr 4 Jahren der Sammelband "Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus", hrsg. von L. Siegele-Wenschkewitz und C. Nicolaisen. Dort haben die Autoren Fallbeispiele, meist aus der ihnen selbst verwandten theologischen Tradition, analysiert. Mit dem nun von dem Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Meier vorgelegten Werk wird jedoch zum ersten Mal eine Gesamtdarstellung geboten; d. h. es ist das Ziel, die Geschichte aller theologischen Fakultäten in jenen Jahren in Betracht zu ziehen und sie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklung im Allgemeinen übersichtlich darzustellen.

Wie nicht anders zu erwarten war, baut das Buch auf umfangreiche Archivstudien; in kaum von irgendeinem anderen Spezialisten zu überbietender Fülle wird einschlägiger Quellenstoff einbezogen. Die Darstellung ist dicht, gelegentlich auch zu dicht und zu wenig übersichtlich. Der Leser erhält aber immer wieder neue Informationen, wie selbst ein notgedrungen kurzes Referat hoffentlich glaubhaft machen kann.

In einem einleitenden Kapitel werden die "institutionellen Voraussetzungen" behandelt. Die Analyse will sowohl die theologischen Fakultäten im staatlichen Hochschulwesen als auch die kirchlichen Seminare für Pfarrerausbildung berücksichtigen. Der übergreifende Gesichtspunkt des Buches geht bereits aus einer der einleitenden Formulierungen hervor: "So vollzog sich der institutionelle Existenzkampf der theologischen Fakultäten in einem innerhalb der hochschulpolitischen Funktionsmechanismen wirksamen dialektischen Prozeß von Anpassung und Resistenz vor dem wechselnden Hintergrund der konfliktgeladenen kirchen- und religionspolitischen Entwicklung des NS-Systems" (9).

In dem sich anschließenden Kapitel 2 werden Konflikte mit dem Nationalsozialismus vor 1933 erörtert, mit besonderer Aufmerksamkeit drei Fallbeispiele (Dehn-Affäre in Halle, Streit um Otto Baumgarten in Kiel und um Erich Fascher in Jena).

Das ausführliche Kapitel 3 "Universitätstheologie und ,nationale Erhebung'. Das Jahr 1933 im theologischen Diskurs" stellt eine Vielfalt von Positionen vor, deren Grundtendenz den Anti-Liberalismus und die verbreitete Negativ-Haltung gegenüber Barth in jenen Jahren verrät. Als Kontrast wird vor allem Otto Piper erwähnt, einer der ersten Theologieprofessoren, der von dem Berufsbeamtengesetz betroffen wurde und daraufhin ins Ausland reisen mußte. Als Nährboden für die nationale Begeisterung, welche 1933 hohe Wellen schlug, erkannte Piper mit bemerkenswerter Weitsicht die emotionsgeladene, ideologische Überfremdung der dominierenden Theologie: "Es war eine politische Anpassung mittels einer Theologie, die weithin nur getarnte Politik war" (zitiert aus O. Pipers 1933 erschienener Schrift "Kirche und Politik", K. Meier, 43). Dieser Zusammenhang leitet zu einer ebenso detaillierten Behandlung der "politischen Säuberungen" als Auswirkungen des Berufsbeamtengesetzes. Es folgt die Entwicklung des evangelischen Fakultätentages im Hinblick auf die Reichskirchenreform, wobei besonders die Rolle des Präsidenten des Fakultätentages, des 1929 gewählten Hallenser Alttestamentlers Hans Schmidt, ins Zentrum rückt. In gleicher Weise sollen die Diskussionen um "den Arierparagraphen im theologischen Widerspruch" (Kap. 6) die Lage im Jahr der Machtergreifung veranschaulichen. M.s Be-mühen ist es dabei stets, sowohl Breite als auch Widersprüchlichkeit der bezogenen Positionen historisch treu festzuhalten. Die Darstellung läßt nichtsdestotrotz durchaus den sachlichen Ausgangspunkt des Autors ahnen, zum Beispiel wo er die Proteste gegen den Arierparagraphen in ihrer kirchenspezifischen Denkstruktur charakterisiert, die weitgehend den Raum des Staates unberührt ließ: "Die im wesentlichen kirchenspezifische Orientierung hat damals den staatlichen Bereich dem Zugriff des NS-Regimes überlassen. Strittig blieb die Anwendung rassischer Gesichtspunkte auf den innerkirchlichen Bereich. Doch darf die politische Auswirkung des Bekenntnisprotestes gegen den kirchlichen Arierparagraphen nicht unterschätzt werden. Wurde doch wenigstens in dieser kirchlichen Konfliktzone der herrschaftsgeschichtliche Anspruch des NS-Regimes grundsätzlich attackiert" (119).

Agierten die Fakultäten im allgemeinen nur ausnahmsweise einheitlich, so wurden gerade in dem besprochenen Zusammenhang (Streit um die deutsch-christliche Kirchenpolitik) Gutachten erstellt, die den Bereich individuell geäußerter Stimmen überstiegen (Kap. 7). Das zwielichtige Verhalten der Fakultäten wird deutlich, nicht zuletzt durch Hinweis auf ihr Schwanken zwischen dem deutsch-christlichen Leitungsanspruch und der be-kenntniskirchlichen Kritik (Kap. 8). Neben der bereits angedeuteten kritischen Position des Autors gegenüber der Sicht der Deutschen Christen, läßt er ebenfalls deutlich eine Kritik an der Bekennenden Kirche laut werden, unter anderem weil sie viel zu früh die Fakultäten preisgegeben habe, was anhand der Stellung-nahmen von Rudolf Hermann und Heinrich Schlier belegt wird. Das gleiche Urteil tritt in Kapitel 9 hervor, wo Universitätstheologen in der Bekennenden Kirche analysiert werden. Besonderes Gewicht fällt dabei zu Recht auf den Marburger Neutestamentler Hans von Soden, dessen Position mit seiner Stellungnahme wäh-rend eines Treffens in Berlin am 5. Januar 1935 nochmals deutlich hervortrat, als 29 bekenntnissynodal orientierte Professoren im Gemeindehaus Martin Niemöllers zusammenkamen, um ge-meinsam über die kirchliche Krise zu beraten.

Die Behandlung der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Bekennenden Kirche und den Fakultäten wird vollends in Kapitel 9 deutlich, "Kirchliche Ausbildungsstätten. Konkurrenz oder Alternative?". Obwohl die bekenntniskirchliche Grundorientierung an den kirchlichen Einrichtungen zu-meist unbestritten blieb, wurden nichtsdestoweniger politische NS-Sympathien auch dort ausgesprochen, was besonders eindrucksvoll anhand von Beispielen aus der theologischen Schule in Bethel entfaltet wird.

Es ist ein Verdienst des Buches, daß es nicht bei der Darstellung der Professorenschaft stehenbleibt, sondern ebenfalls das Verhaltensmuster der Studenten ausführlich einbezieht. Somit bietet Kapitel 10 "Fachschaftsarbeit und studentisches Korporationswesen" eine Fülle von weithin neu ausgegrabenem Stoff. Im Blick auf die theologische Schule Elberfeld wird das schillernde Verhalten der Studenten differenziert dargestellt. Folgender Satz mag dies dokumentieren und zugleich den für das Buch überhaupt charakterischen Sprachstil veranschaulichen, wo Häufungen von schwerfälligen, wertenden Adjektiven hervortreten: "Im Jahre 1933/34 versuchte man so durch existenzsichernd umsichtig wahrgenommenes Anpassungsverhalten evangelisch-reformiert geprägtes Autonomiebewußtsein umzusetzen" (251). Mit Hinweis auf den Wingolf-Bund wird ferner auf das Dilemma hingewiesen, eine "Synthese zwischen dem Gehorsam zum Führer und der Freiheit eines Christenmenschen" erreichen zu wollen. Im Gegensatz dazu waren die Parolen der NS-Propaganda eindeutig. Zum Beispiel formulierte der Reichsamtleiter des NS-Studentenbundes Albert Derichsweiler seine Hoffnung auf den Marschtritt der studentischen Jugend mit Worten des Führers folgendermaßen: daß sie "zäh wie Le-der, flink wie ein Windhund und hart wie Kruppstahl" sein müßte (283). Das ohnehin stark beeinträchtigte Verhältnis zwischen Kirchenleitungen und Fakultäten tritt in Kapitel 11 über Fakultätsexamen und Studienreform klar hervor. Wiederum werden die regionalen Unterschiede unterstrichen.

In Kapitel 12 erhält der Seeberg-Kreis besondere Aufmerksamkeit, indem die fakultätspolitischen Ambitionen, die Erich Seeberg mit einem reichskirchlichen Vorzeichen hegten, als Ausgangspunkt dienen, um allgemein auf führende Universi-tätstheologen einzugehen, unter ihnen nicht zuletzt Hans Lietzmann (Seebergs Kollege in Berlin) und Emanuel Hirsch aus Göttingen. Dieses Kapitel basiert auf Quellenmaterial aus dem Seeberg-Nachlaß in Koblenz, das früher weithin unausgewertet gewesen ist.

Die bereits mehrfach deutlich gewordene Mannigfaltigkeit im Reich wird in Kapitel 13 vollends aufgezeigt, indem die Berufungs- und Besetzungspolitik anhand von vier Fallbeispielen (Bonn, Kiel, Berlin und Breslau) dargestellt wird.

Kapitel 14 behandelt die Fakultätstheologie im Kreuzfeuer der scharfen Auseinandersetzungen mit deutschgläubigen Positionen einerseits und dem zunehmenden Druck von prinzipiell antichristlichen Gruppierungen in Partei und Regierung andererseits.

Mit Kapitel 15 "Institutioneller Überlebenskampf seit 1938" wird der Überblick abgeschlossen. Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie Personen- und Begriffsregister stehen am En-de des insgesamt 500 Seiten starken Bandes.

Es mag undankbar anmuten, einem so reichhaltigen und in vielerlei Hinsicht verdienstvollen Werk nun doch kritische An-merkungen mitzugeben. Weil jedoch M. den wichtigen Anfang in Richtung auf eine Gesamtschau geleistet hat, hängt in der nunmehr entstandenen Forschungslage alles davon ab, daß die damit gegebene Gelegenheit zu einer Klärung der einschlägigen Sach- und Methodenfragen tatsächlich ergriffen wird. In diesem Sinne seien hier einige wenige Gesichtspunkte angeführt, naturgemäß aus dem Blickwinkel des die internationale, ökumenische Sachlage bedenkenden nichtdeutschen Kollegen.

Es hat m. E. den Anschein, als würde M. die historische Einordnung und Würdigung (einschließlich aller damit verknüpften methodischen Überlegungen) allzusehr zurücktreten lassen, während die Darbietung von Material in fast überwältigender Fülle den Schwerpunkt bildet. In dreifacher Hinsicht leidet das Werk an einem Defizit von Maßstäben, die für eine übergreifende Analyse und Erörterung unerläßlich wären:

1. Was zunächst das historische Epochenkriterium anbelangt, wird zwar eingangs die Vorgeschichte angesprochen. Davon abgesehen sind jedoch alle Ansätze einer weiteren historischen Ausschau oder Versuche eines Längendurchschnittes bedauerlicherweise weggefallen.

2. Ebenfalls fehlt weitgehend ein Kriterium zur Einordnung der konfessionellen Landschaft. Zwar wird das In- und Gegeneinander von Reformierten, Unierten und Lutheranern durchaus herangezogen, meistens aber lediglich in spezifischen Zusammenhängen und somit ohne Hinweise auf Aspekte einer zusammenfassenden Erwägung. Dies gilt um so mehr in Bezug auf das Verhältnis zur katholischen Theologie vor, während und nach der gleichen Periode.

Erst wenn ein konfessionsvergleichendes Verfahren durchgeführt wird, kann aus einer weiteren internationalen Perspektive diesem besonderen Kontext der kirchlichen Zeitgeschcihte seine spezifische Dringlichkeit und Bedeutung zukommen.

3. Schließlich läßt die Darstellung weitgehend eine internationale Perspektive vermissen. Zwar werden die internationalen Verflechtungen gelegentlich im konkreten Kontext erwähnt. Ein durchgehender Maßstab, welcher die Rolle der evangelischen Universitätstheologie in Deutschland aus der internationalen, ökumenischen Perspektive berücksichtigen würde, tritt in diesem Werk hingegen höchstens andeutungsweise hervor.

Es ergibt sich deswegen die Schlußfolgerung, daß M. einen wichtigen materialreichen Beitrag zu seinem bereits bemerkenswerten Lebenswerk hinzugefügt hat; gleichwohl muß künftig zunächst ein weiter Weg beschritten werden, bevor die Forschungsaufgabe als erfüllt gelten kann. Vorerst wird eine Zwischenphase mit weiteren Einzeluntersuchungen und Gesprächsbeiträgen zu den Methodenproblemen vonnöten sein, bevor dann in einem späteren Anlauf eine Gesamtschau aufs neue gewagt werden kann.