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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

468–470

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lächele, Rainer u. Jörg Thierfelder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1995. 309 S. gr.8o = Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, 13. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7668-3289-1.

Rezensent:

Gerhard Schäfer

Der Sammelband, in dem die Vorträge der Jahrestagung 1995 des Vereins für württembergische Kirchengeschichte zusammengefaßt sind, stellt sich einer schwierigen Aufgabe: In 14 Beiträgen soll "ein Gelände umrissen werden, das kaum vermessen ist", es soll erhoben werden, was über den Zweiten Weltkrieg hinaus Kontinuität besaß und was nicht. Die gängige Einteilung in die Zeit vor 1933, das Dritte Reich und die Nachkriegszeit soll durchbrochen und der Modernisierungsprozeß gezeigt werden, der sich aus der Zeit der Weimarer Republik bis nach 1945 durchzieht. Bezogen sind die Untersuchungen auf die Evangelische Landeskirche in Württemberg, der allein schon durch die Gestalt von Theophil Wurm eine wichtige Rolle zukommt; in ihm verkörpern sich die Probleme der Zeit: Politisch noch von der Zeit des deutschen Kaiserreichs geprägt, seit 1929 an der Spitze der Landeskirche stehend und den Weg dieser Kirche während der Herrschaft des Nationalsozialismus bestimmend, stellte er schließlich die Weichen für Wege in die Nachkriegszeit. So kann die Württembergische Landeskirche ein Beispiel sein, an dem sich ablesen läßt, wie der Modernisierungs- und Säkularisierungsprozeß in der ersten Hälfte des 20. Jh.s sich vollzieht, wie kirchliche Strukturen sich tiefgreifend wandeln und konfessionelle Schranken sich auflösen.

Mit dieser Konzeption ist Neuland betreten, ein übergreifendes allgemeines Forschungskonzept ist noch nicht erarbeitet. Der kirchliche Alltag muß noch am Rande bleiben, weil es an wissenschaftlich fundierten Untersuchungen über die regionalen und lokalen Verschiedenheiten fehlt.

Siegfried Hermle geht der Rolle des Württembergischen Landeskirchentags zwischen 1920 bis 1948 nach. Nach der Kirchenverfassung von 1920 ist er nur ein parlamentarisches Vertretungsorgan der Gesamtheit der Kirchengenossen gegenüber der Kirchenleitung, die beim Kirchenpräsidenten (Landesbischof) und beim Oberkirchenrat liegt. Hermle plädiert deshalb für eine Revision dieser Verfassung, in die Auffassungen eingehen sollten, die aus den Erkenntnissen des Kirchenkampfes sich ergeben haben über eine dem Evangelium gemäße gemeinsame Kirchenleitung durch Landesbischof und Synode.

Als "Wanderer zwischen zwei Welten" stellt David J. Diephouse Landesbischof Wurm dar. Er fragt, ob und welche Modernisierungstendenzen in der national-protestantischen Denkweise Wurms enthalten sein konnten, der eine Erneuerung in einer Re-Christianisierung, in einer Umkehr zu Recht und Bindung sah und deshalb der Säkularisierung ablehnend gegenüberstand.

Neben diesen beiden, der zentralen Struktur der Landeskirche und der zentralen Persönlichkeit gewidmeten Beiträgen untersucht Eberhard Röhm die Haltung des württembergischen Protestantismus zur Judenfrage. Trotz latent vorhandener Distanz zum Judentum waren am Kriegsende in der Württembergischen Landeskirche mehr Pfarrer jüdischer Abstammung im Dienst als in jeder anderen.

Weitere Beiträge gelten theologischen Richtungen. Hermann Ehmer stellt die eschatologisch orientierte Predigt des Stuttgarter Prälaten Karl Hartenstein und die in Auseinandersetzung mit der herrschenden Ideologie und in Predigt-Vorträgen entfaltete Laiendogmatik von Helmut Thielicke vor. Die Namen der führenden Köpfe der Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg wie Paul Schempp und Hermann Diem stellen für Martin Widmann den Versuch eines Neuanfangs in der Kirche dar "Im Jahr 11 nach Barmen". Er geht auf verschiedene Äußerungen der Sozietät zwischen 1945 und 1948 ein, die hinweisen wollen auf das, was "im Glauben an die Geistesgegenwart des Auferstandenen" getan werden sollte. Für die 50er Jahre beschreibt Diethard Buchstädt das Nebeneinander von Sozietät, die ihre Aufgabe vor allem in der theologischen Arbeit sah, und den Kirchlichen Bruderschaften, die Theologie und Praxis des politischen Lebens umzusetzen versuchten.

Weitere Beiträge gehen auf die Parteiengründungen nach 1945 ein (Thomas Schnabel) und auf die Gründung der Evangelischen Akademie Bad Boll als neue Form kirchlichen Engagements nach 1945 (Rulf Jürgen Treidel und Christoph Nösser). Jörg Thierfelder behandelt den Streit um die Schulreform nach dem Zweiten Weltkrieg und Eva-Maria Seng den Evangelischen Kirchenbau in Württemberg 1925-1945.

Ulrich Nanko stellt Vor- und Frühgeschichte der sonst wenig bekannten, 1956 gegründeten Freien Akademie dar, hinter der die Gestalt von Jakob Wilhelm Hauer steht. Getragen von liberalen Gruppierungen wollte sie ein konfessionell neutrales Diskussionsforum für religiöse und wissenschaftliche Fragen sein.

Den Abschluß bildet eine interessante Untersuchung von Rainer Lächele über Eugen Steimle, der zunächst im Sicherheitsdienst der SS, dann im Reichssicherheitshauptamt tätig war und im sogenannten Einsatzgruppenprozeß in Nürnberg zuerst zum Tod verurteilt, dann aber begnadigt wurde. Nach einem Exkurs über den Einsatz auch der württembergischen Kirchenleitung für ein faires Verfahren in den Kriegsverbrecherprozessen geht Lächele auf die Bemühungen verschiedener Persönlichkeiten um eine Rehabilitierung Steimles ein, die 1955 zu dessen Einstellung als Lehrer im Angestelltenverhältnis am Gymnasium in Wilhelmsdorf (eine von Korntal aus im 19 Jh. erfolgte Gründung) führte. Ein solches Beispiel zeigt in besonderer Weise die Problematik der Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit.

In unterschiedlicher, auch durch die Sache bedingter Art verwirklichen die einzelnen Beiträge das Ziel der Tagung und des Sammelbandes. Erfreulich ist die Weite der behandelten Themen und der Kreis der Referenten, der sich aus Angehörigen verschiedener Altersgruppen und aus Vertretern verschiedener Richtungen zusammensetzt. So ist der Band ein ermutigender Versuch für weitere ähnliche Untersuchungen.