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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

698–700

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kuß, Stephan

Titel/Untertitel:

Römische Kurie, italienischer Staat und faschistische Bewegung. Der Vatikan und Italien in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur totalitären "Wende" des Mussolini-Regimes (1919–1925).

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 282 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 632. DM 84,-. ISBN 3-631-47875-5.

Rezensent:

Michael Hochgeschwender

Spätestens die hitzige Kontroverse um Rolf Hochhuths Theaterstück "Der Stellvertreter" (1963) hat gezeigt, wieviel Sprengstoff der Frage nach dem Verhältnis zwischen Papsttum, römischer Kurie, nationalen Katholizismen und faschistischen Diktaturen innewohnt. Stephan Kuß bemüht sich, in seiner Freiburger Dissertation aus dem Jahre 1993 dem daraus entstandenen Forschungsproblem von zwei Seiten her beizukommen: Einerseits geht er den Beziehungen zwischen dem liberalen italienischen Nationalstaat und dem Hl. Stuhl seit der Okkupation des Kirchenstaates 1870 nach, zum anderen beschreibt er detailliert und materialreich die allmähliche Akzeptanz des aufkommenden Faschismus durch die kurialen Behörden im Gefolge der "philokatholischen Wende" (125) Mussolinis Mitte 1921. Den Endpunkt der Untersuchung stellt die sogenannte "totalitäre Wende" von 1925 dar, in der im Anschluß an die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti das parlamentarische System in Italien endgültig eliminiert wurde. Warum, so fragt K., fand sich der Vatikan eigentlich nur in der kurzen Regierungszeit des Liberalkonservativen Nitti (1919/20) zu einem oberflächlichen Ausgleich mit dem italienischen Staat bereit? Warum änderte sich dieses Verhältnis schon wieder unter Nittis Nachfolger Giolitti? Lag es am neuen Papst Pius XI.? Lag es am prononcierten Antiklerikalismus Giolittis? Warum war der Vatikan überdies bereit, eine anfangs radikal antiklerikale, "linke" und überdurchschnittlich gewaltbereite Bewegung wie den Faschismus so schnell als innenpolitischen Ordnungs- und Stabilitätsfaktor zu akzeptieren?

Für K. ergibt sich die Antwort aus der Analyse katholischer Ideologie, wobei die päpstliche Zentralgewalt im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht. Spätestens seit dem Pontifikat Pius IX. sei die römische Kurie Bollwerk antimoderner Weltanschauung geworden; Rom habe auf breiter Front gegen den liberalen und modernen Staat Stellung bezogen. Dies gelte insbesondere für Italien, dessen nationale Einigung auf Kosten der weltlichen Herrschaftsansprüche von Papsttum und Kirche gegangen seien. Die Politik des "non expedit" (d. h. des kirchlichen Wahlverbotes für die italienischen Katholiken), der Antiliberalismus päpstlicher Enzykliken, der Rekurs auf neuscholastische Ordnungskonzepte in der entstehenden katholischen Soziallehre, all dies verdichtet sich bei K. zu einer kohärenten und aggressiven antimodernen Ideologie, durch die die Kirche gewissermaßen notwendig in einen Gegensatz zum liberalen italienischen Staat geraten wäre. Mit der Jahrhundertwende sei dieses weltanschauliche System durch antisozialistische und antikommunistische Elemente zusätzlich angereichert worden. Höhepunkt der Entwicklung war dann der Modernismusstreit unter Papst Pius X. (1903-1914) gewesen. Die Enzyklika "Lamentabilis" (1907), in der die liberale Moderne erneut verurteilt wurde, der Antimodernisteneid seit 1910 und die Tätigkeit der umtriebig-integralistischen Geheimorgansation des Monsignore Benigni, des "Sodalitium Pianum", kennzeichneten die reaktionären Tendenzen dieses Pontifikates. Konsequent habe der Heilige Stuhl dann auch während des Ersten Weltkrieges die Erfolge der demokratischen Mächte des Westens mit Mißtrauen beobachtet. Schließlich habe die Revolution in Rußland die Bolschewismusfurcht zusätzlich angeheizt.

Indes sei es der Kurie nicht mehr gelungen, die vom Nationalismus angekränkelten kirchentreuen Katholiken Italiens weiterhin ihrem Staat zu entfremden. Noch vor dem Kriegsausbruch war das "non expedit" weitgehend verschwunden, 1919 wurde gar eine eigene katholische Partei, der PPI (Partito Popolare Italiano) unter Don Luigi Sturzo gegründet. Zeitweise schien ein Ausgleich mit gemäßigten Liberalen möglich. Als jedoch der Vatikan 1921 von zunehmender Angst vor einem sozialistischen Umsturz ergriffen wurde - eine Angst, die zu einem nicht unerheblichen Teil auf selbstinszenierter Fehlperzeption beruht habe - sei die Kurie dazu übergegangen, sich von der PPI zu distanzieren und bei den Faschisten Stabilität und Ordnung zu suchen.

Vehement wendet sich K. gegen die Thesen vornehmlich katholischer Historiker, der Katholizismus habe in Italien so etwas wie eine systematische Opposition gegen den Faschismus dargestellt oder nur aus Zweckrationalität heraus das Bündnis von Kirche, konservativen Eliten und faschistischer Bewegung begrüßt. In seinen Augen führte eine prinzipielle ideologische Affinität - so die zentrale These - Faschisten und kuriale Würdenträger zusammen. Begründet würde diese weltanschauliche Nähe durch gemeinsamen Antiliberalismus und Antisozialismus, das gemeinsame zutiefst reaktionäre Bild von Frau und Familie sowie die gemeinsame Akzeptanz hierarchischer und autoritärer Gesellschaftsmodelle. Schon ab 1921 habe der Vatikan sich zunehmend an Mussolini angelehnt. Belegt wird diese These z.B. mit dem Hinweis auf den vertraulichen Besuch von Kardinal La Fontaine beim "Duce", aber auch mit Hilfe einer Analyse des "L'Osservatore Romano" und dem Jesuitenorgan "La Civiltà Cattolica", aus der hervorgeht, daß man kirchlicherseits faschistische Gewalttaten deutlich weniger scharf kritisierte als sozialistische. Entsprechend erleichtert habe die Kurie auf Mussolinis Machtergreifung im Oktober 1922 reagiert. Sofort, und nicht - wie der konservative italienische Historiker De Felice behauptet - erst ab Mai 1923, habe der Vatikan begonnen, die PPI zu desavouieren. Zeitgleich sei das katholische Volk in die vom Papst Pius XI. initiierte "Katholische Aktion" eingebunden worden. Im Interesse kirchlicher Aufsicht über den Religionsunterricht habe die Kurie dann die Schulreform von Mussolinis Kultusminister Gentile hingenommen. Entgegen der Ansicht von Konrad Repgen sei der Vatikan auch bei der Wahl von 1924 alles andere als neutral gewesen und habe am Ende sogar über die Ermordung Matteottis hinweggesehen. Das Heilige Jahr 1925, so das resignierte Resümee von K., sei den Prälaten der Kurie wichtiger gewesen als die Hinwendung Italiens zum Totalitarismus.

K. präsentiert klug geordnet eine Fülle von Archivmaterialien vorwiegend aus vatikanischen Beständen. Es gelingt ihm ferner, eine ganze Reihe jüngerer lokal- und regionalgeschichtlich angelegter Studien zum Verhältnis von Katholizismus und Faschismus im Blick auf die römische Zentrale der katholischen Kirche zu synthetisieren. Methodisch ist seine Arbeit, eine Mischung aus Diplomatiegeschichte und ideologiekritischer Ideenanalyse, nicht übermäßig innovativ, doch dies muß nicht nachteilig sein. Problematischer erscheint der häufig unbefangene, unreflektiert anmutende Umgang mit zentralen Begriffen. Gerade wenn man die Zusammenarbeit von Katholizismus und Faschismus auf ideologische Affinität zurückführt, ist eine klare Begrifflichkeit unabdingbar. Als Ideologie wird bei K. jedoch nur der Katholizismus genauer untersucht, eine kritische Darstellung liberaler Weltanschauung fehlt vollkommen; der Faschismus taucht bestenfalls holzschnittartig auf. Er bemüht sich nicht um eine sorgfältige Unterscheidung zwischen faschistischen und konservativen Topoi, durch die eventuell eine katholische Affinität zum Faschismus deutlich relativiert würde und der zweckrationale Charakter kurialer Entscheidungen klarer zu fassen wäre. K. verwendet außerdem in der Forschung so umstrittene Begriffe wie "Moderne", "Modernisierung" und "totalitär", ohne hinreichend deutlich zu machen, was er damit eigentlich meint. Daß beispielsweise die Ermordung Matteottis den autoritär-repressiven Charakter von Mussolinis Herrschaft enthüllte, ist kaum zu bestreiten. Worin allerdings der totalitäre Aspekt dieses Ereignisses liegen soll, bleibt ein Geheimnis von K. Mit der Wahl des Jahres 1925 als Endpunkt seiner Arbeit verstellt sich K. zudem den Blick auf die Spannungen zwischen Heiligem Stuhl und faschistischem Staat zu Beginn der dreißiger Jahre. Störend wirkt auch der gelegentlich moralisierende Ton.

Trotz dieser Einwände erscheint die Arbeit von K. als brauchbarer Beitrag zu einer Geschichte des Verhältnisses zwischen katholischer Kirche und Faschismus.