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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

686–689

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kraus, Hans-Christof

Titel/Untertitel:

Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines Preußischen Altkonservativen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 999 S. gr.8 = Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 53. Geb. DM 274,-. ISBN 3-525-36046-0.

Rezensent:

Martin Ohst

Es ist dieselbe konzeptionelle Eigenart dieser Untersuchung, einer von R. v. Thadden und R. Vierhaus betreuten Göttinger phil. Diss., die zugleich für ihren großen Umfang verantwortlich ist und ihre Lektüre dennoch durchgängig interessant und anregend macht: Der Vf. entwirft ein sehr nuanciertes Lebens- und Charakterbild Gerlachs (1795-1877), er rekonstruiert auf dieser biographischen Basis sein politisches Denken und er zeichnet minutiös Gerlachs politische und publizistische Aktivitäten nach. Dazu hat er nicht nur erstmals die immense literarische Produktion Gerlachs erfaßt (s. die Bibliographie, 933-943), sondern extensiv wie intensiv die Bestände des Gerlach-Archivs im Institut für politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg ausgebeutet. So hat er eine große Zahl von neuen Informationen zutage gefördert und auch gezeigt, wie wenig zuverlässig etwa die Edition der "Aufzeichnungen" (1903) ist: Ein amüsantes und bezeichnendes Beispiel dafür findet sich S. 711 mit Anm. 57.

Die Arbeit ist chronologisch in vier Hauptteile und sechzehn Unterabschnitte gegliedert, in denen die genannten Schwerpunkte der Untersuchung in jeweils unterschiedlicher Gewichtung ausgearbeitet werden. Auf diese Weise kommt auf Schritt und Tritt zur Geltung, wie intensiv sich gerade bei Gerlach persönliche Lebenserfahrung, theoretische Orientierung und praktische Wirksamkeit durchdrungen haben. Geboren als Sohn eines hohen preußischen Beamten aus reformiertem Dienstadel, empfing Gerlach schon als Jugendlicher lebenslang prägende Einflüsse: Zeitlebens blieb die kritische Haltung des Vaters zum friderizianischen Preußen und dessen reichspatriotische Grund-orientierung für ihn gültig, ebenso dessen Verehrung für das englische Rechts- und Verfassungsleben (35, 204).

Die Erfahrungen der politischen Umwälzungen zwischen 1806 und 1815 durchlebte er mit den Brüdern Wilhelm (Jurist; gest. 1834), Leopold (Offizier; gest. 1861) und Otto (Theologe; gest. 1849). Sie verbanden die vier Brüder so eng, daß sie das landläufige Urteil von außen als eine kompakte Einheit wahrgenommen hat - Kraus zeigt jedoch immer wieder, wie spannungsreich gerade das Verhältnis der Brüder Leopold und Ernst-Ludwig lebenslang gewesen ist (vgl. z. B. 673 f.). Die politischen Erfahrungen jener Jahre verdichteten sich zu negativen Leitbildern. "Revolution" und "Absolutismus" wurden zu lebenslang bedrängenden Schreckbildern (203), zu immer wieder eingesetzten Negativfolien in der theoretischen wie in der tagespolitischen Orientierung. Das Studium in Berlin, Heidelberg und Göttingen (1810-1815) war durch die Teilnahme am Befreiungskrieg unterbrochen. In den folgenden Jahren tauchte Gerlach tief in die Erweckungsbewegung ein, zugleich klärten sich die mitgebrachten Voraussetzungen seines politischen Denkens theoretisch: Von überragender Bedeutung wurde die Begegnung mit der "restaurativen" Staats- und Rechtslehre Hallers, hinzu kam der Einfluß Friedrich Karl von Savignys, des wichtigsten akademischen Lehrers, und anderer Autoren.

Väterliches Erbe, eigene Lebenserfahrung und die eklektisch rezipierten (125, 135, 185) Theorieansätze verschmolzen zu einem eigengeprägten Geflecht von historisch-politischen Orientierungsmustern, das, zutiefst religiös gegründet und auch immer wieder theologisch bzw. religiös expliziert, mit dem Vf. füglich als "Politische Theologie" (212 ff.) bezeichnet werden kann. Die Vorstellung, die Welt sei strukturiert durch göttliche Ordnungen, die allein im Prozeß organisch-wachstümlicher Entwicklung veränderbar seien, bestimmte seine Leitbilder der Sozialethik und der innenpolitischen Ordnung (christlich-kirchlich normierte Ehe, sozial verpflichtetes Privateigentum, christliches Königtum, das auf einer ständischen Verfassung aufruht) ebenso wie der Außenpolitik: Als die meisten seiner konservativen Kampfgenossen 1866 ins Lager seines einstigen Protegés Bismarck übergingen, beharrte Gerlach auf seiner Verurteilung des Krieges gegen Österreich und auf seiner strikten Ablehnung der "illegitimen" preußischen Annexionen. Für seine Prinzipientreue bezahlte er den hohen Preis der politischen Vereinsamung (831 f.). Im Kulturkampf drohte in seinen Augen der sich absolutistisch verstehende Staat, die Kirchen ihrer relativen innergesellschaftlichen Selbständigkeit zu berauben; so war die letzte politische Station seines Lebens die des Hospitanten der Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag bzw. im Reichstag. - Seine Entlassung aus dem Staatsdienst war unwürdig (887 f.).

Während Gerlach in Fragen der wirtschaftlich-technischen Innovation durchaus konstruktiv auf die Dynamik des göttlichen Handelns in der Geschichte hinweisen und zur mutigen Erprobung neuer Möglichkeiten aufrufen konnte - ",Unser Ziel liegt nicht hinter, sondern vor uns.'" (662 Anm. 261) - , war ihm die Einsicht in die Eigendynamik politischer und sozialer Veränderungen verwehrt: Das Vorhandensein einer sozialen Frage, die nicht mit herkömmlich-patriarchalischen Mitteln zu lösen wäre, leugnete er schlichtweg (658 ff.; 789-791). Gerlach war nicht fähig oder nicht willens, seine Kategorien nach der sich wandelnden Wirklichkeit zu modifizieren. Wenn Kraus Gerlach als einen "Verlierer" bezeichnet (11; 921), so trägt er keine Fremdbezeichnung an ihn heran, sondern bringt dessen eigene, freilich religiös gedeutete Selbsteinschätzung während seiner letzten Jahre auf den Begriff (897 f.; 927).

Mit faszinierendem Detailreichtum schildert K. also die un-terschiedlichen Facetten im Leben dieses seinerzeit höchst umstrittenen, der Gegenwart erst recht weltenfern gerückten Mannes: Die privaten Sorgen, Nöte und Depressionen des zweimal kinderlos Verheirateten kommen ebenso zur Sprache wie die Geschichte der Kreuzzeitung, die er von der Gründung bis zur Trennung im Streit 1866 als Organisator und als aggressiver, geschliffen formulierender Journalist wesentlich prägte.

Die in ihrem tatsächlichen Einfluß oft überschätzte(1) Tätigkeit als Berater Friedrich Wilhelms IV. wird ganz neu dargestellt und gewichtet (vgl. 301 f.!). Minutiös wird die Tätigkeit des Parlamentariers und Parteiführers vor dem Leser ausgebreitet. Besonders streicht Vf. heraus, daß Gerlach in seinem eigentlichen bürgerlichen Beruf, nämlich als hochrangiger Richter, wegen seiner über jeden Zweifel erhabenen unbestechlichen Redlichkeit weit über den Kreis seiner politischen Gesinnungsgenossen hinaus hohe Anerkennung gefunden hat (341 ff., als Kontrast dazu Urteile über den Politiker 625 f.)

Der Vf. steht in der von H.-J. Schoeps herrührenden Traditionslinie der Erforschung und Bewertung des "Anderen Preußens", er hegt für Gerlach tiefe, wenngleich keinesfalls unkritische Sympathie. Das kommt der Darstellung zugute, hat jedoch auch problematische Auswirkungen. Das gilt m. E. besonders für die kirchengeschichtlichen Partien seines Werks. Zwar bemerkt er programmatisch, er wolle Gerlachs kirchliche Aktivitäten ausblenden, soweit ihnen nicht politische Bedeutung zuzuerkennen sei (29). Das ist einerseits schade, denn so bleibt des von Hause aus reformierten Gerlach Stellung zur Preußischen Union unterbelichtet, ebenso seine Rolle für den Kirchentag und für die Innere Mission. Andererseits verdient diese Entscheidung aus pragmatischen Gründen alles Verständnis. Diejenigen kirchlichen Aktivitäten Gerlachs, die er schildert, nimmt der Vf. dann je-doch ganz unkritisch aus dessen Sicht wahr. Das gilt zunächst für den "Hallischen Theologenstreit" von 1830, den Gerlach ja mit seinem ersten Eingreifen in die politisch-kirchenpolitische Publizistik vom Zaune gebrochen hat. Die Charakteristik des "Rationalismus" als einer marginalen religiösen und theologischen Position, mit der sich eigentlich nicht mehr gläubige Menschen ihren Platz in der Kirche sichern wollten (141), geht an den historischen Sachverhalten völlig vorbei. Vollends war die rationalistische Universitätstheologie alles andere als ein radikales Randphänomen, sondern eine theologiegeschichtlich hochkomplexe Formation, die ihr Verhältnis zu anderen Weisen christlichen Denkens sehr reflektiert zu artikulieren vermochte.

Die rationalistischen Professoren in Halle waren akademische Repräsentanten einer bestimmten etablierten Art protestantischer Kirchlichkeit und Frömmigkeit, die in weiten Gebieten konstruktiv und unwidersprochen ein lebendiges kirchliches Leben prägte. Revolutionär-aggressiv verhielten sich Gerlach, Hengstenberg und ihre Gesinnungsgenossen - eine selbsternannte fromme Elite, die, im Vertrauen auf politische Protektion, hier erstmals den Versuch unternahm, dieser gerade im Bürgertum weit verbreiteten, auch in offiziell rezipierten Gesangbüchern und Gottesdienstordnungen wirksamen Spielart von Frömmigkeit und Kirchlichkeit das Lebensrecht in der Evangelischen Kirche streitig zu machen. - Auch die "Lichtfreunde" waren keinesfalls, wie der Vf., meint "hervorgegangen aus einer zuerst innerakademischen, theologischen Bewegung" (358), sondern hier organisierten sich, notgedrungen unter äußerem Druck, Vertreter jener Frömmigkeit und Kirchlichkeit, als ihr von der inzwischen erstarkten und ins Machtzentrum vorgerückten Gegenpartei die innerkirchlichen Lebensmöglichkeiten abgeschnitten wurden. Von ähnlichen perspektivischen Schwächen ist auch die Darstellung des Kulturkampfes und von Gerlachs Wirksamkeit in jenen Jahren nicht frei.

Wie differenziert die Reaktionen im deutschen Protestantismus auf den deutsch-französischen Krieg und auf die Reichsgründung ausfielen, hat sich der Vf. nicht klar genug gemacht; die einschlägige ebenso tiefgründige wie eigenwillige Untersuchung von E. Bammel(2) hat er nicht verarbeitet. Daß die römisch-katholische Kirche auf dem I. Vaticanum und sowie in dessen Vorfeld und bei der Durchsetzung seiner Beschlüsse so ziemlich alles dazu tat, um im bürgerlich-liberalen Lager Mißtrauen gegen sich zu säen, bleibt unerwähnt, ebenso der unmittelbare Anlaß des Kulturkampfes in Preußen, der bekanntlich darin bestand, daß der Staat sich weigerte, der römisch-katholischen Kirche bei der Durchsetzung der vatikanischen Beschlüsse durch Dienstentlassung von Lehrern seinen Arm zu leihen.

Der Kulturkampf hat Gerlach bekanntlich in die Reihen des politischen Katholizismus geführt. Diese Entwicklung kam bei ihm nicht von ungefähr (230 f.). Das Verhältnis zwischen evangelischem und römisch-katholischem Christentum strukturierte sich ihm seit seinen Anfängen weniger nach Maßgabe der Wahrheitsfrage als nach Erwägungen, welche Kirche bestimmte religiös-soziale Ordnungsprinzipien effektiver vertrete (837). Diese Fassung des Konfessionsproblems ist spezifisch modern, reformatorischem und altprotestantischem Verständnis unerschwinglich. Gerade in dieser ihrer Eigenart wirft sie noch einmal ein eigenes Licht auf Gerlachs historisch-politische und ethische Orientierungsparameter. Im Anschluß an Arbeiten von Panajotis Kondylis identifiziert der Vf. sie immer wieder mit dem Allgemeinbegriff "alteuropäische Ordnungslehre" (besonders prägnant 211 f.). Dieser Allgemeinbegriff ist m. E. in be-zug auf Gerlach präzisierungsbedürftig und -fähig.

Die Gestalt seiner politisch-sozialen Theorie ist m. E. am ehesten präformiert in der theologischen Gesellschaftstheorie des alten Luthertums, die, an Aristoteles anknüpfende Gedanken v. a. Melanchthons aufnehmend, Nährstand, Wehrstand und Lehrstand als Stände in der Kirche auffaßte und von daher auch die besonderen Rechte und Pflichten der christlichen Obrigkeit gegenüber der Kirche und gegenüber den Untertanen präzise zu beschreiben vermochte - eine besondere Variante alteuropäischer Ordnungslehre, die ihre Realgrundlage im konfessionell geschlossenen, ständisch-monarchisch regierten frühneuzeitlichen Territorialstaat hatte.(3) In dieser Theorie ist für die Papstkirche kein Platz ausgespart. Wie jedoch Gerlachs elastische, nicht an alte Entscheidungen der Wahrheitsfrage sich bindende Stellung zu Papsttum und Katholizismus zeigt, hat er sich von dieser Variante alteuropäischen Ordnungsdenkens nicht heteronom bestimmen lassen. Ist er also wirklich als jemand anzusprechen, der die gesellschaftlichen Strukturen auf einen be-stimmten status quo ante zurückschrauben wollte, oder diente ihm nicht die Orientierung an alten Modellen vielmehr als Medium zur Ausarbeitung wesentlich neuer Vorstellungen der Ordnung von Gesellschaft, Staat und Kirche?(4) Wenn man Gerlachs Denken als einen solchen Theorietypus be-schriebe, der zwar mit traditionellen Versatzstücken wirtschaftet, sie aber letztlich doch zu einem neuartigen Ganzen zusammenfügt (bzw. zumindest in diese Richtung arbeitet), dann käme man vielleicht über die Klassifikation "Eklektizismus" (s. o.) heraus. Vielleicht hätte Gerlach sein intellektuelles Profil in einem Aphorismus Richard Rothes wiederfinden können, der kirchenpolitisch Ansichten vertrat, die denen Gerlachs (eine Kirchenverfassung nach dem synodal-presbyterialen Prinzip sei nichts anderes als ",Übergabe der Kirchengewalt an Gemeinden ohne Glauben und Zucht..., als Auslieferung der Kirche an den Pöbel zu beliebiger Mißhandlung und Vernichtung'"(364) diametral konträr waren: "Ich bekenne mich im Reiche der Gelehrsamkeit unverhohlen zur Schule der Träumer..., warne aber zugleich jedermann vor dem Gedanken, als ob Träumen leichte Arbeit sei".(5)

Der Vf. hat mit seinem Buch kommenden Forschungsarbeiten und -diskussionen auf höchst anregende Weise neue Informationen vorgegeben und neue Themen gestellt. Besonders den Kirchenhistorikern hat er neben Ernst Ludwig von Gerlach auch Otto, den jüngsten Gerlach-Bruder, als gewichtige Forschungsaufgabe in Erinnerung gerufen. Dafür gebührt ihm Dank, und nur als Ausdruck dieses Dankes sollen meine obigen kritischen Bemerkungen gelten. Dank gebührt weiterhin der Herausgeberkommission und dem Verlag, die das Erscheinen dieses opus magnum in würdiger Form und ohne Kürzungen ermöglicht haben.

Fussnoten:

1 Vgl. etwa die ebenso materialreiche wie witzige Darstellung von A. Hausrath, Richard Rothe und seine Freunde Bd. II, Berlin 1906, 176 ff., in der Gerlach als der zeitweilige "Regent der preußischen Kirche" (179) zu stehen kommt.

2 Die Reichsgründung und der deutsche Protestantismus. Erlanger Forschungen Reihe A (Geisteswissenschaften), Bd. 22, Erlangen 1973.

3 In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s scheint sie außer Kurs geraten zu sein. Bei S. J. Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre Bd. III. hrsg. von J. S. Semler, Halle 1760 ist sie noch präsent (bes. 560-582), freilich mit einer gegenüber älteren Vertretern (z. B. Johann Gerhard) neuartigen Zentrierung auf das Subjekt und seinen Glaubens- und Heilsweg. Bei F. V. Reinhard (System der Christlichen Moral, Bd. III, Wittenberg 41807, 298 ff.), ist die Verlagerung des Interessenschwerpunktes zum Subjekt hin so weit fortgeschritten, daß eigentlich nur noch der formale Gliederungsschematismus erkennbar ist. Bei K. Hase, Hutterus Redivivus (anonym 1Leipzig 1829, 348-355) hat das Lehrstück dann rein historischen Charakter. Ob und inwieweit es in den konservativen Neuaufbrüchen wieder aufgenommen wurde, ist m. W. ein wichtiges Forschungsdesiderat, auch in Hinblick auf die Vorgeschichte der Lehre von den "Schöpfungsordnungen".

4 Interpretiert man Gerlach so, dann kommt er als Vertreter einer sensu stricto "konservativen", also nicht "traditionalistischen" Denkweise zu stehen; vgl. dazu Fr. W. Graf, Konservatives Kulturluthertum. Ein theologiegeschichtlicher Prospekt, in: ZThK 85 (1988), 31-76, bes. 57.

5 Stille Stunden. Aus Richard Rothes handschriftlichem Nachlaß. Neue Folge, Bremen 1888, 46.