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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

465–468

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Hartweg, Frédéric [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen. Bd.1: 1946–1967. Bearb. v. Joachim Heise. XLVIII, 592 S. gr.8o. Kart. DM 98,-. Bd.2: 1968–1989. Bearb. v. Horst Dohle. XXVIII, 708 S. gr.8o. Kart. DM 128,-.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1995. ISBN 3-7887-1429-8 u. 3-7887-1430-1 (= Hist.-Theolog. Studien zum 19. u. 20. Jh. [Quellen], Bde. 2/1 u. 2/2).

Rezensent:

Rudolf Mau

Die Öffnung großer Quellenbestände aus einst unter SED-Kontrolle streng gehüteten Archiven bietet der Forschung, die hier auf die Suche geht, ein kaum überschaubares, gleichwohl bereits in voluminösen Darstellungen benutztes Material. Längst hat der Umgang mit schriftlichen Hinterlassenschaften des Regimes zu stark kontroversen Deutungen des Verhältnisses von SED und Kirche geführt. Das verstärkt das Bedürfnis nach solider, zusammenhängender Dokumentation signifikanter Quellen.

Die vorliegenden Bände wollen diesem Desiderat Rechnung tragen und tun es auch in beachtlichem Maße. Was gezeigt wird, ist, wie die Bearbeiter selbst betonen, nur eine wichtige Ebene dessen, was sich 44 Jahre lang zwischen der diktatorisch agierenden Partei und den Kirchen abspielte. Es geht, was die SED betrifft, um die Führungsebene, deren Informations- und Entscheidungsvorgänge jahrzehntelang hinter ideologischen Phrasen verborgen blieben: um das Politbüro bzw. das (Kleine) Sekretariat des ZK der SED, besonders auch, insoweit Kirchenpolitik Chefsache wurde (gegen Ende mit zunehmender Tendenz), um das Agieren Ulbrichts und Honeckers. Dokumentiert werden z.B. die an der Spitze ankommenden, meist opportunistisch gefilterten und ideologisch abstrahierten "Informationen" und wiederum Beschlüsse und "Maßnahmen", die durch den Funktionärs- und Staatsapparat umzusetzen waren. Was sich im Unterschied zur Entscheidungs- und Kommandoebene dann tatsächlich "vor Ort", etwa auf der Kreis- und Ortsebene, zwischen Funktionären nebst "gesellschaftlichen Kräften" wie der CDU einerseits und Kirchenleuten und Christen in den Gemeinden andererseits abspielte, wäre, wie persönliche Zeugnisse von beiden Seiten, Christen und "kleinen" Funktionären, zeigen, ein weiteres wichtiges Feld der Dokumentation.

Unter den Gesamttitel "SED und Kirche" gehört noch ein dritter Teilband, der dokumentieren soll, wie die Kirchen ihrerseits (ohne Kenntnis des jetzt veröffentlichten SED-Materials) Situationen deuteten und Entscheidungen trafen. Daß es in Bd.1 und 2 zunächst um die SED-Perspektive und -Aktivität geht, wird auf den Einbänden (warum nicht auch auf den Titelblättern?) durch die Untertitel "SED 1946-1967" und "SED 1968-1989" (Hervorhebung R. M.) angedeutet.

Präsentiert werden 217 (97 + 120) Dokumente auf insgesamt etwa 860 von annähernd 1400 Seiten Gesamtumfang der beiden Bände. Die textliche Einbettung zeigt ein sorgfältiges Be-mühen der Bearbeiter um Verständnishilfen für die Leser. Die Ereignisfolge und das keineswegs konstante, auch konzeptionell variierende Agieren der SED auf dem langen Weg von ihrer Gründung bis zum Zusammenbruch werden dargestellt und erläutert. Die Benutzer erhalten Lesehilfen für die ideologiegeleitet formulierten, dabei stets durch aktuell-politische Zielsetzungen und Zwänge veranlaßten Texte. Dem dienen zunächst die zusammenfassenden Einleitungen der beiden Bearbeiter (Bd. 1, 1-14, Bd. 2, 1-16). Die Dokumente werden sodann, chronologisch gegliedert, in drei bzw. vier Kapiteln dargeboten, mit historisch plausiblen Zäsuren (in Bd. 1 bei 1953/54 und 1958/60, in Bd. 2 bei 1971/72, 1978 und 1983/84). Den einzelnen Kapiteln sind wiederum Einführungen vorangestellt, die eine Fülle von Informationen zum Inhalt und Kontext der folgenden Dokumente bieten.

Darüber hinaus gibt es noch jeweils zwei weitere Präfationen: eine gemeinsame, gleichlautende "Vorbemerkung" (Bd. 2: "Vorwort") der Bearbeiter zum Gesamtunternehmen (signiert von Heise, Dohle und [für den zu erwartenden Band 3] Martin Onnasch). Dem vorangestellt sind wiederum ausführlichere Vorworte des Herausgebers der Dokumentation, des französischen Zeithistorikers F. Hartweg (Bd. 1, VII-XXXIV; Bd. 2, VII-XV). Letztere bieten Impressionen und Reflexionen zur Gesamtthematik, mit Schwerpunkten (Bd. 1) bei der Anfangs- und (Bd. 2) der Schlußphase des Verhältnisses von SED und Kirche. Die Datierungen verraten etwas vom nicht problemlosen Zustandekommen der Dokumentation: Die Bearbeiter der beiden Bände hatten ihre Manuskripte im Februar bzw. März 1993 vorgelegt; die Vorworte des Herausgebers stammen vom Juli bzw. Herbst 1994.

Ein Dokumentenverzeichnis zu Beginn ermöglicht den Überblick über den Kernbestand jedes Bandes - leider ohne Seitenzahlen, so daß das gesuchte Dokument (da auch die Kopfzeilen nur kapitelweise variieren) erst durch Hin- und Herblättern zu finden ist. Anhänge bieten wichtige Zusatzinformationen: eine Tabelle über die Mitglieder der SED-Führungsgremien (Politbüro und Sekretariat des ZK der SED); Abkürzungs- und Literaturverzeichnisse (in beiden Bänden weitgehend identisch). Eine chronologische Orientierung bieten ausführliche Zeittafeln (33 bzw. 53 S.), die weniger den Charakter des schnell informierenden Überblicks als den von Annalen haben. Ein wichtiges Hilfsmittel sind schließlich die Personenregister mit Kurzbiogrammen auf je ca. 30 S.

Den einzelnen Dokumenten sind genaue Angaben über Herkunft, Verfasser, Adressat[en] und Fundort vorangestellt. Regesten zum Inhalt, die man hier vermißt (zumal bei nicht seltenen Umfängen von zehn bis zwanzig Seiten), findet man de facto in den Einführungstexten, die eine zusammenhängende Darstellung in der Abfolge der Dokumente geben. Daß die letztere bisweilen chronologisch unstimmig ist (wie bei Dok. 72 und 93 in Bd. 1), erklärt sich aus den darzustellenden Zusammenhängen.

Was wird dokumentiert? Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um eine beträchtliche Vielfalt von Texten. Politbüro-/ Sekretariatstexte bilden den größten Einzelposten, insgesamt aber nur etwa 1/3 bzw. 1/4 der Anzahl von Dokumenten. Weitere bedeutende Gruppen sind Texte der Arbeitsgruppe Kirchenfragen des ZK (d.h. des für die Umsetzung der SED-Kirchenpolitik in den Funktionärs- und Staatsapparat hinein sowie für kirchenpolitische Vorlagen zuständigen Gremiums), ferner "Informationen" (v. a. über Gespräche mit führenden Kirchenleuten), Berichte und Analysen, sodann Vorträge und konzeptionelle Ausführungen (darunter diverse Texte des langjährig [1958-1984] für Kirchenfragen zuständigen ZK-Sekretärs Paul Verner), regierungsinterner Schriftverkehr, SED-Hausmitteilungen (meist an den Parteichef), Briefe an ZK-Adressaten (z. B. in der frühen Phase von religiös-sozialistischen SED-Mitgliedern, oder von Gerald Götting/CDU, der 1982 "in grober Vereinfachung" eine Argumentation Honeckers "noch verstärkt, nicht etwa differenziert" [402; Dohle]) sowie weitere Materialien. Darüber hinaus dokumentiert Bd. 2 auch kirchliche Äußerungen (u. a. Bedenken zum Verfassungsentwurf 1968, zu ideologischen Verschärfungen 1976, zur Raketenstationierung in der DDR 1983) an die Adresse des Staatssekretärs für Kirchenfragen bzw. des Staatsratsvorsitzenden.

Welches Bild von der SED-Kirchenpolitik vermitteln die beiden Bände? Im gemeinsamen Vorwort (Bd.1, XVII f.) heißt es: Der aufgrund von Politbürobeschlüssen in Gang gesetzte Vollzugsapparat sollte zwar "die erwünschten Wirkungen" herbeiführen, zugleich aber, wenn angebracht, "der Verschleierung der Grundsätze und Ziele dienen". Was in Richtung Kirche unternommen wurde, "war Teil der Konfrontation und Kooperation" zwischen DDR-Führung und Kirchen, wobei "die Regeln des politischen Kampfes dominierten". Die Reaktionen der SED-Führungsebene auf kirchliche Beschlüsse zeigten, "daß man dort die Unangepaßtheit und die mangelnde Verfügbarkeit über die Kirchen mit dauerndem Ärger registrierte".

Die Einführungen lassen stilistische Unterschiede erkennen. In Bd. 1 dominiert ein textbezogenes Referieren. Besonders farbig gerät die Darstellung des internen Konflikts zwischen Staatssekretär Eggerath und Willi Barth von der ZK-Arbeitsguppe Kirchenfragen (278 ff.). (Im zeitlichen Kontext werden Ulbrichts Reflexionen und Weisungen an Eggerath beim Kurspaziergang in Karlsbad [lt. Schreiben E.'s an W. Barth] dokumentiert.) Warum wird beim "Neuen Kurs" vom Juni 1953 die auslösende Moskauer Direktive nur beiläufig im nachhinein erwähnt (Bd. 1,38 f.)? Bd. 2 zeigt eine durchweg stark profilierende Darstellungsweise, wohl mitbedingt durch persönliches Miterleben und Umsetzen von SED-Kirchenpolitik in der Nähe des Staatssekretärs für Kirchenfragen. Von solcher Innenperspektive profitiert offensichtlich die Schilderung vom Funktionieren der ZK-Arbeitsgruppe Kirchenfragen (Bd. 2,4 f.) und manches andere. Darstellung und Urteil erreichen hohe Prägnanz. Bilanzierende Aussagen der obersten SED-Ebene wurden "stets erfolgsorientiert in der Sprache der Planerfüllung abgefaßt" (2, 1). Die vorliegenden Dokumente "charakterisieren in ihrer ideologisch schematisierenden Reduktion der gesellschaftlichen und kirchlichen Wirklichkeit" viel eher "die Verfasser" als die genannten "kirchlichen Vorgänge, Gremien oder Personen" (2, 6). Erst durch die "SED-spezifische Sprache" (u. a. mit dominierender militärischer Begrifflichkeit), durch "den Vorhang wirklichkeitsverdeckender sprachlicher Versatzstücke hindurch" kann der Leser "die wirklichen Ziele oder Ängste in den kirchenpolitischen Texten" erfassen. Das führt zum Postulat einer "Sprachanalyse dieser Texte" (2, 7 f). Als Exempel dient u.a. ein Honecker-Fernschreiben vom Frühjahr 1982 (Friedensthematik, "Schwerter zu Pflugscharen"): Hier zeige sich eine "Fremdbestimmbarkeit und Außensteuerung der SED-Führung" durch Schlagzeilen der Westpresse sowie eine bis zum Ende zunehmende "Entscheidungspraxis an der Wirklichkeit vorbei". Das erfordere einen "quellenkritischen Umgang" mit den Texten, ein "mehrschichtiges Lese- und Vergleichsverfahren bei der Quellenbewertung" (2, 402 f.). Noch für die gleiche Zeit: "Durch alle SED-Quellen zieht sich die Angst vor einer organisierten Kraft in der DDR, die den Machtanspruch und die Entscheidungshoheit der SED beschränken konnte." Zur fraglichen Zeit sei, wie Textvergleiche zeigen, die "sprachliche und methodische Nähe" der Texte zu denen des MfS "auffälliger als in früheren Jahren" (2, 399 f.).

Die beiden Bände zeugen von umsichtiger, sorgfältiger Arbeit der Autoren. Das betrifft die Dokumentenauswahl, bei unerläßlicher Begrenzung unter dem Gesichtspunkt, daß Zu-sammenhänge und Ereignisfolgen erkennbar bleiben sollen. Es betrifft ebenso die editorische Sorgfalt im Detail und die quellenbezogene Darstellung der heiklen Materie, die den Leser ins Bild setzen und in zahlreichen Verweisen Zusatzinformationen bereitstellen will. Desiderate technischer Art beziehen sich v. a. auf die verlegerische Betreuung der voluminösen Bände.

Lautstarker Protest gegen das Editionsunternehmen schon bei dessen Ankündigung hatte nichts mit der Qualität des Vorgelegten, sondern mit politischen Einstellungen zu tun - bezogen auf die Tatsache, daß die Hauptlast der Arbeit bei Personen lag, die vormals im SED-Auftrag mit Forschung (Dohle, Heise) bzw. kirchenpolitischen Funktionen (Dohle) befaßt waren. Dringend zu wünschen ist, daß nicht die einstige Tätigkeit der Autoren, sondern das Werk als solches zum Gegenstand der Urteilsbildung wird. Die Bearbeiter selbst benennen deutlich die Problematik jener Vergangenheit. Sie dürfen, wo es um den Anspruch seriösen Urteilens geht, ein Beachten des evidenten Sachverhalts erwarten, daß sie selbst sich "an die Regeln der wissenschaftlichen Arbeit gebunden haben und das Ergebnis ihrer Bemühungen der Diskussion aussetzen" (Bd. 1, XXXVII).