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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

850–852

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin u. Wilfried Loth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Christen und die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer l994. 247 S. gr. 8o = Konfession und Gesellschaft, 5. Kart. DM 49,80. ISBN 3-17-013120-6.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Die Formierung der Europäischen Gemeinschaft mit ihren historischen Voraussetzungen und den sie tragenden politischen und geistigen Konzeptionen und strukturellen Ausdrucksformen während der beiden Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkriegs bildet den zeitgeschichtlichen Rahmen für die Beiträge dieses Sammelbandes. Deren besondere Fragestellung gilt der oft wenig behandelten und z. T. auch nicht ausreichend erforschten Mitwirkung und Einflußnahme von Christen, Kirchen und ökumenischen Organisationen in den Bemühungen um die Überwindung des bitteren Erbes des Krieges und engen nationalstaatlichen Denkens auf dem Wege zur europäischen Einigung. Neun Historiker und Politikwissenschaftler und ein Kirchengeschichtler (M. Greschat) haben in ihren Beiträgen ein umfassendes und zugleich differenziertes Bild vom Beitrag protestantischer und römisch-katholischer Christen, Kirchen, ökumenischer Vereinigungen und Organisationen sowie christlich orientierter politischer Formationen zu den westeuropäischen Einigungsprozessen gezeichnet.

Der Aufsatz von Walter Lipgens (gest. 1984, Univ. Saarbrücken) über "Zukunftsplanungen der Kirchen und anderer christlicher Gruppen während des Zweiten Weltkriegs" setzt bei dem Protest von Pius XI. 1937 und auf der Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 über "Kirche, Volk und Staat" gegen die Absolutsetzung von Staat, Volk und Rasse ein. Danach werden überblicksartig die Friedensbemühungen zu Beginn des 2. Weltkriegs und die christlich motivierten Überlegungen zu einer zukünftigen Friedensordnung und zu internationalen und euro-päischen übernationalen Strukturen behandelt, wie sie sich vor allem bei Pius XII. und dem "im Aufbau befindlichen" Ökumenischen Rat der Kirchen (vor 1948) und hier in eindrucksvoller Weise bei dessen Generalsekretär W. A. Visser't Hooft finden.

Diese Vorgeschichte wird noch einmal sehr viel eingehender von Martin Greschat (Univ. Gießen) in "Der Protestantismus und die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft" aufgenommen, indem z. B. auch Überlegungen zu einem geeinten Nachkriegseuropa in Widerstandsbewegungen herausgestellt werden, in denen protestantische Laien mit eine führende Rolle spielten. Ausführlich werden danach wiederum Vorstellungen von Visser't Hooft und seinen Mitarbeitern in Genf sowie in den englischen und amerikanischen Kirchen dargelegt. Mit der Nachkriegszeit tritt der OERK und seine bereits 1946 gebildete Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten (CCIA) in den Vordergrund, dazu kommen die häufig unterschiedlichen Auffassungen und Zielvorstellungen protestantischer Politiker und Theologen über den rechten Weg Westeuropas im nordatlantisch-sowjetischen Spannungsverhältnis, die unterschiedlichen Konzeptionen zur Rolle der Kirche im politischen Bereich, das Zögern vieler Kirchenführer und kirchlicher Institutionen, sich in den Fragen der europäischen Einigung zu engagieren, und schließlich die breitere und offiziellere Wahrnehmung christlicher und kirchlicher Verantwortung für das Schicksal Europas durch die Bildung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) 1964 (nach ersten Konferenzen bereits seit 1959). Die über diese wenigen Hinweise weit hinausreichende und unter Heranziehung von viel Archivmaterial erarbeitete Dartellung Greschats, mit 70 Seiten auch die umfangreichste des Bandes, ist eine kirchen-und ökumenegeschichtliche Fundgrube ersten Ranges.

In ähnlicher Weise untersucht Philippe Chenaux (Univ. Genf), ebenfalls extensiv auf Archivmaterial zurückgreifend, "Der Vatikan und die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft". Die Entwicklung bis etwa 1958 wird an den europäischen Vorstellungen und Aktivitäten von Pius XII. und der Kurie nachgezeichnet, wobei auch Unterschiede in den Positionen oder deren Modifizierungen aufgezeigt werden, vor allem im Blick auf die Anbindung Europas an die amerikanische Allianz oder die Sicht Europas als Brücke oder "dritte Kraft" zwischen den Supermächten.

Ausgehend vom Aufkommen des politischen Katholizismus in Mittel- und Südeuropa im späten 19. Jh. beschreibt Michael Burgess (Univ. Hull) in "Politischer Katholizismus, europäische Einigung und der Aufstieg der Christdemokratie" den dramatischen Aufstieg christdemokratischer Parteien nach dem 2. Weltkrieg. Prägend für diese Parteien sind dabei die in der katholischen Soziallehre verwurzelten Vorstellungen von Fö-deralismus, Personalismus, Solidarität und Subsidiarität. Eng damit verbunden ist der Beitrag von Wolfram Kaiser (Kulturwissenschaftl. Institut Essen) über "Begegnungen christdemokratischer Politiker in der Nachkriegszeit", bei denen es um die Zusammenarbeit ihrer Parteien und die Entwicklung gemeinsamer geistiger und politischer Zielsetzungen ging.

In fünf weiteren Beiträgen werden die europäischen Ideen und deren Umsetzung in politische Entscheidungen und übernationale Institutionen von Europäern, die aus einer bewußt christlichen Einstellung heraus gedacht und gehandelt haben, vorgestellt. Den Vortritt haben dabei zwei reformierte Laien: Der für die Nachkriegsentwicklung so einflußreiche amerikanische Außenminister John Foster Dulles (Manfred Görtemaker, Univ. Potsdam) und der für die europäische Einigung mit großer geistiger Kraft und Originalität unermüdlich tätige französische christliche Sozialist, Minister und Professor André Philip (Wilfried Loth, Univ. Essen). Abschließend werden die wohl einflußreichsten Europäer der Nachkriegszeit mit ihren christlich geprägten Visionen, Konzeptionen und Entscheidungen porträtiert: Alcide de Gasperi (Pietro Pastorelli, Univ. Rom), Robert Schuman (Raymond Poidevin, Univ. Straßburg), Konrad Adenauer (Anselm Doering-Manteuffel, Univ. Tübingen).

Dieser Sammelband hat für die zeitgeschichtliche Forschung, aber auch für interessierte Laien, Theologen und die Kirchen in Europa einen hohen und oft faszinierenden Informationswert. Er widerlegt die modische Behauptung, christliche Einflüsse und Kräfte seien aus den Prozessen gesellschaftlich-politischer Gestaltung in einem säkularen und pluralistischen Europa weitgehend verschwunden. Aus den eindrücklichen Darstellungen dieses Buches vernimmt der Leser allerdings auch die Herausforderung an die Christen und Kirchen, sich in den gegenwärtigen Bemühungen um eine Neugestaltung Gesamteuropas, eine Perspektive, die in der westeuropäischen Vergangenheit gerade auch von protestantischer Seite immer angemahnt wurde, mit demselben geistigen und geistlichen Engagement einzusetzen wie ihre Vorgänger in der Nachkriegszeit. Schließlich singt dieses Buch, und auch das ist eine notwendige Erinnerung, das hohe Lied des das öffentliche Leben mitgestaltenden christlichen Laien, und gesungen wird dieses Lied von Laien mit viel theologischem und kirchengeschichtlichem Sachverstand.