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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

847–849

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Dülmen, Richard van

Titel/Untertitel:

Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 1: Das Haus und seine Menschen 16.–18. Jahrhundert. 316 S. 2: Dorf und Stadt 16.–18. Jahrhundert 373 S. m. 66 Abb. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.–18. Jahrhundert. 343 S. 62 Abb.

Verlag:

München: Beck 1990, 1992, 1994. 8o. Lw. je DM 68,-. ISBN 3-406-34401-1; 3-406-34581-6; 3-406-38201-0.

Rezensent:

Hans-Christoph Rublack

Der Anspruch dieses Werkes, eine sozialgeschichtlich orientierte und fundierte Darstellung der "Kultur" der frühen Neuzeit zu bieten, die auf Unterschiede der einzelnen Ständegruppen der Bevölkerung achtet und nicht nur die Hochkultur als maßgeblich darbietet, sondern auch den Alltag der Bauern und Städter einschließt, kann als erfüllt gelten. Dies gilt, wie bei jeder Synthese, mit der Einschränkung, daß der fortlaufende Forschungsstand jeweils einzelne Aussagen in Frage stellen kann. Und dies Forschungsfeld ist ja seit einiger Zeit in Bewegung. Um so nützlicher stellt sich eine Zusammenfassung dar, wie dies 1992 in inhaltlich etwas eingegrenzterem Umfang auch der strikter argumentierende Band von Paul Münch "Lebensformen in der frühen Neuzeit" (Berlin: Propyläen) leistete. Damit rückt die Historiographie in Deutschland endgültig ab von einer Kulturgeschichte, die lediglich die Elite berücksichtigt.

Eine weitere Leistung sei hervorgehoben: V. D. bietet nicht nur soziale, sondern auch regionale Differenzierungen an, wo die Forschungslage dies erlaubt. Zugleich wäre herauszustellen, daß die Darstellung sich mit dem deutschsprachigen Raum befaßt, nur selten öffnet sich ein europäischer Horizont. Gesellschaft der frühen Neuzeit bedeutet mithin nur die mitteleuropäische, West-, Nord- und Osteuropa und der Mittelmeerraum bleiben unbehandelt. Im übrigen ist auch, von seltenen Ausnahmen abgesehen, lediglich deutschsprachige Literatur zitiert, internationale Literatur nur, wenn diese ins Deutsche übersetzt ist. Der Vf. beansprucht auch nicht mehr, als eine Geschichte der deutschen Gesellschaftskulturen in der frühen Neuzeit zu schreiben - nur der Klappentext des ersten Bandes, der vom europäischen Kontinent spricht, suggeriert die europäische Dimension, ebenso die Tatsache, daß die Begrenzung nicht expliziert ist. Aber wenn man nicht nur im allgemeinen von Synthese verharren, sondern konkretisieren und durch Fallbeispiele und Tabellen veranschaulichen will, wie der Autor es tut, dann ist eine geographische Einschränkung der Sache gewiß ratsam. Deswegen bleiben die jeweils am Schluß der Bände dargestellten Säkulartrends (Bd. 1: Geburt der bürgerlichen Familie, 2: Prozeß der Zivilisation, 3: Säkularisierung) nur auf diese Materialbasis zu beziehen. Auch hier fehlt der Einbezug der und die Auseinandersetzung mit der internationalen Literatur.

Die beiden ersten Bände fassen vieles zusammen, was dem Sozialhistoriker vertraut ist. Wenn man sich in einem gemeinverständlich geschriebenen Werk über die Lebenswelt der frühen Neuzeit informieren möchte, dann bieten die Bände eingehende Nachrichten und ausgiebige Quellenzitate, sowie Hinweise auf neuere, wie auch ältere Literatur. Die Lebensform des "Hauses", hier immer noch als "ganzes" präsentiert, ist in seinen inneren sozialen Beziehungen dargestellt. Dabei sind auch Ergebnisse der Geschlechtergeschichte eingearbeitet. Stets ist der Vf. bemüht, die Zeugnisse über das Leben im Haus auf die Realität hin zu hinterfragen. Hier wie auch auf anderen Gebieten werden Forschungsdefizite markiert oder auch die geringe Möglichkeit genannt, aufgrund der Quellen etwas über die historische Wirklichkeit auszusagen.

Der Vf. betont bei den Darstellungen der Lebensphasen, Kindheit, Jugend, Heirat und Ehe, Alter und Tod, neben den durch die in kirchlichen Handlungen gebotenen Sinnstiftungen durch Taufe, Eheschließung und Begräbnis, die Aussegnung der Wöchnerinnen ist merkwürdigerweise vergessen, die soziale Einbindung der Übergangsriten. Er hebt auch den Wandel, der durch reformatorische Lehre initiiert wurde, etwa bei der Form der Eheschließung, hervor, nicht ohne zu bemerken, wie lange oft eine wirksame Durchsetzung dauern konnte. Der Wandel der Einstellung zum Tod und dem Übergang ins ewige Leben im protestantisch-lutherischen Raum ist dagegen nur so angemerkt, daß die Friedhöfe nach außen verlegt und Leichenpredigten gehalten wurden, nicht die Anschauung, der Tod sei ein Schlaf. Konfessionelle Differenzen sind durchgehend be-achtet und eingehend dargeboten, freilich bleibt der reformierte Raum zugunsten des lutherischen unterbelichtet.

Der zweite Band stellt dann die Vielfalt der gesellschaftlichen Dimensionen dar. Nicht nur die politisch-sozialen Einheiten von Dorf und Stadt, deren Leben in Arbeit und genossenschaftliche Regelungen sind eindringlich geboten, wobei implizit eine strikte Kommunalismusthese aufgelöst wird zugunsten differenzierter sozial-politischer Verhältnisse. Dabei treten die Grundbedingungen frühneuzeitlichen Lebens hervor: die Knappheit der Ressourcen, die wirtschaftliches Wachstum kaum zuließ, ebenso die Last der Arbeit, wie schon im ersten Band die Dauerpräsenz des Todes. Ein Gegengewicht zum Leben harter Arbeit, um Nahrung zu erwerben, bildeten die bäuerliche, städtische und höfische Festkultur, die in einem eigenen Kapitel reich beschrieben sind. Eine weitere Dimension ist in der Ständeordnung festgehalten und deren Flexibilität, dies mündet in eine breite Darstellung des Wertes der Ehre, deren Konstitution und Funktion grundlegend dargestellt ist. Schließlich geht er der Intensivierung der staatlichen Ordnung eingehend nach, dabei sind, außer der Kriminalitätsgeschichte, die v. D. ja durch eigene Forschung und als Hg. auf der sozialgeschichtlichen Ebene weitergeführt hat, die Fragen der Sozialdisziplinierung angesprochen. Abschließend ist die Zivilisationstheorie von Norbert Elias modifiziert, indem gezeigt wird, wie nicht eine einheitliche affektkontrollierte Kultur entstand, sondern drei Kulturen, die Volkskultur, deren Höhepunkt im 16. Jh. gelegen habe und die am stärksten dem Disziplinierungsprozeß unterworfen wurde, der adligen und der bürgerlichen Kultur, die die kräftigsten Wandlungen vom 16. zum 18. Jh. erfahren habe.

Kann der zweite Band gleichsam als Herz und Mitte des Werkes betrachtet werden, so bildet der dritte in weiten Teilen den konventionellsten. Die Reformation ist, entgegen sonst dezidiertem Widerspruch gegen vorzeitige Ansetzungen von Modernisierung in der frühen Neuzeit, als Desakralisierung gedeutet, da sie den sakralen und profanen Bereich (268) getrennt habe; so erscheint Luthers Zwei-Reiche-Lehre jedenfalls in schiefem Licht. Es schließen sich Konfessionalisierung und Aufklärung als hochkulturelle Bewegungen an, letztere nun nicht von ihrem europäischen "Kontext" abgeschlossen. Am interessantesten sind in diesem 3. Band die Kapitel über Volksfrömmigkeit und Magie, deren Zusammenhang im Leben, entgegen der Qualifizierung als "Aberglauben" durch die offiziellen Kirchen, betont ist, sowie der Abschnitt über die Kommunikationsformen der Aufklärer, auch hier sind eigene Forschungen vorausgegangen.

Insgesamt liegt mithin ein hochnützliches opus vor, informativ in Details gehend und stets differenzierend, Wandel nicht vernachlässigend, sondern stets thematisierend. Es ist mit Illu-strationen versehen, die veranschaulichen, wenn sie auch im Text nicht eigens erläutert sind. Da sich der Autor Problemdiskussionen versagt, die nur knapp bei den Säkulartrends angezeigt sind, bleibt der Leser über die Forschungsdiskurse ununterrichtet, vielleicht wie beim Weglassen der nicht deutschsprachigen Sekundärliteratur, eine Folge der Entscheidung des Autors, außer Studierenden auch Gebildete informieren zu wollen. Daß die Kulturgeschichte, in Sozialgeschichte eingebettet, ja eigentlich von ihr getragen, auf eine neue Grundlage gestellt ist, sei nochmals hervorgehoben, so wenig verwunderlich es gegen Ende eines Jh.s erscheinen mag, das in der Geschichtswissenschaft auf diesem Gebiet besonders erfolgreich war. Man wird dabei vermerken, daß die religiöse Dimension des gesellschaftlichen Lebens keineswegs abgewertet ist. Der Vf. merkt gewiß bei den Erziehungskampagnen, etwa gegen den Aberglauben, an, daß ihnen nur langfristig Erfolge gelangen, doch die Widerspenstigkeiten des einfachen Volkes vollzogen sich in einer Lebenswelt, die in den kirchlichen Riten zentriert war.