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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

461–464

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Besier, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der SED-Staat und die Kirche 1969–1990. Die Vision vom "Dritten Weg".

Verlag:

Berlin-Frankfurt/M.: Propyläen 1995. 949 S. m. 32 Taf. gr. 8o. ISBN 3-549-05454-8.

Rezensent:

Jørgen Glenthøj

Die Intensität der Reaktion auf Besiers Mammut-Werk über den SED-Staat und die Kirche in der DDR (1945-1991), insgesamt drei Bände mit 1792 Textseiten und 1017 Seiten Anmerkungen und Quellenangaben, belegt die Brisanz dieser Arbeit, die im vorliegenden zweiten Band die These belegen will, daß man in den evangelischen DDR-Kirchen weithin der "Vision vom ,Dritten Weg'" anhing. Die überaus umfangreichen und genauen Quellenangaben machen B.s Werk für die künftige Forschung fast zu einer Art Führer für alle, die die Quellen prima vista und den ganzen Zusammenhang zur Überprüfung von Zitaten betrachten wollen. Für eine spätere Gesamtausgabe oder Dokumentenauswahl ist damit eine notwendige Vorarbeit geleistet. Ein Sachregister hätte allerdings das Buch leserfreundlicher gemacht.

B.s Darstellung urteilt zurückhaltend über Personen und ihre Motive und läßt die Quellen für sich sprechen. Es ist erschreckend, was dabei über die Infiltration der Kirchenleitungen durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ans Licht kommt: Das MfS war immer genauestens über die internen Vorgänge in den Kirchenleitungen informiert.

Die größte und entscheidende Forschungsaufgabe ist freilich noch offen: Wie sind diese Dokumente zu interpretieren? Es wird Jahre dauern, bis man die Motive der Beteiligten differenziert verstehen und beurteilen kann.

Bei der Einsicht in die Dokumente hat man den Eindruck, daß beide Seiten eine ideologische Codesprache benutzen: Nie kommt es zu klaren Absprachen. Staat und Kirche haben auf allen Ebenen hunderte, wenn nicht tausende "Gespräche" miteinander geführt, die eigentlich aber keine richtigen Ge-spräche waren, sondern eher ein gegenseitiges Abtasten. Insofern es B. aber mehr um die eigentlichen Handlungen der Be-teiligten geht, soweit sie durch die Quellen belegt sind, ahnt man, daß sowohl die staatliche als auch die kirchliche Seite sehr viel mehr von den realen Vorgängen wußte, als in den Dokumenten zum Ausdruck kommt. Trotz der bleibenden Rätsel um die politischen Hintergründe sprechen aber B. zu-folge die Quellen deutlich genug von der Entwicklung des Verhältnisses zwischen SED-Staat und Kirche in der DDR, um die Verbreitung der illusionären Vision vom "Dritten Weg" und der Sozialdemokratisierung der evangelischen Kirche (13) belegen zu können.

Der hier vorliegende Band II ist in sechs Kapitel gegliedert:

1. Spaltungen - Die neue DDR-Verfassung, die Okkupation der CSSR, die Verselbständigung der lutherischen Kirchen in der DDR und die Gründung des Kirchenbundes (1967-1972); 2. Die "Kirche im Sozialismus" - Das "Spitzengespräch" zwischen Erich Honecker und dem Vorstand des DDR-Kirchenbundes am 6. März 1978 und seine Vorgeschichte; 3. "Besondere Gemeinschaft" und "Sozialdemokratismus" - Zur Menschenrechts-, Friedens- und Deutschlandpolitik des Kirchenbundes im Zeichen von Antirassismusprogramm und KSZE [Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa] (1969-1978); 4. Neue Krisen und Kompromisse - Vom gemeinsamen "Wort zum Frieden" (August 1979) bis zum Regierungswechsel in Bonn (1979-1982); 5. Westgeld - Devisen zur Erhaltung volkskirchlicher Strukturen, für humanitäre Hilfe und Sonderbauprogramme (1969-1989); 6. Protestantische Kaderbildung - Zur Geschichte der Theologischen Sektionen (1969-1989).

Die Kapitel bewegen sich mit vielen Ausführungen zu Unter-themen chronologisch von der Spaltung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche 1968 über das "Spitzengespräch" am 6. März 1978 und durch die 1980er Jahre mit ihrer wachsenden Opposition von unten auf die Wende zu. Der SED-Staat machte von vornherein klar: "Der Gegensatz zwischen Marxismus-Leninismus und Christentum in Fragen der Weltanschauung, insbesondere der Anthropologie, der Moral und Ethik ist unüberbrückbar... Völlig unbegründet und abwegig ist das Festhalten mancher Amtsträger am sogenannten Wächteramt der Kirche über die Gesellschaft." (46) Bestätigt wurde dies auf zwei für die Kirche vitalen Gebieten: der Ausbildung der Jugend und der Einführung der Wehrerziehung in den Schulen. Die Kirchenleitungen sprachen nicht nur dem Staat gegenüber vor tauben Ohren, sondern mußten auch erkennen, daß die Zivilcourage der Eltern versagte: Von 190.000 betroffenen Schülern nahmen nur 101 am Wehrkundeunterricht nicht teil. (259)

Ohne daß der Staat das Christentum direkt antastete, wurde die Kirche einer ständigen Unterwanderung ausgesetzt. Die Forderung, sich mit dem sozialistischen Staat immer deutlicher zu solidarisieren, d.h. die Menschenrechtspolitik, die Friedenspolitik und die Deutschlandpolitik des SED-Staates anzunehmen, war identisch mit der Forderung einer Parteinahme gegen die "Militärpolitik" Westdeutschlands und richtete sich auch gegen die Annäherung zwischen DDR-Kirchenvertretern und christlichen Teilen der westdeutschen Sozialdemokratie. Diese "Friedenspolitik" der DDR-Regierung war ein Angriff auf jede grundsätzlich kritische Anfrage. Der SED-Staat enthüllte sich so als totalitär und ideologisch.

Die Haltung der Kirchenleitungen war weithin von der Vision eines besseren Sozialismus getragen, was vom Staat jedoch als Widerstreben gegen den "real-existierenden Sozialismus" angesehen wurde. Deshalb kämpfte der SED-Staat besonders gegen den latenten Sozialdemokratismus in der Kirche, besonders unter den Pfarrern. Die Kirche wiederum initiierte eine "Beratergruppe" aus führenden Kirchenmännern von DDR und BRD mit der Absicht, die geistige Einheit der getrennten Kirchen durch gegenseitige Informationen zu pflegen. Diese Beratergruppe hatte zwar keinen großen Einfluß, hinterließ aber der Nachwelt durch ihren Sekretär Olaf Lingner eine Fülle von Informationen.

Die Arbeit des Bundes Evangelischer Kirchen (BEK) als selbständige Kirche beim ÖRK jedoch unterstützte der SED-Staat, weil er in dessen Genfer Zentrale ideologisch Verbündete zu sehen glaubte und bestrebt war, in eine ganze Epoche politisch-ökumenischer Theologie Teile seiner Außenpolitik (vor allem des Antirassismusprogrammes und der Südafrikapolitik) einfließen zu lassen.

Im Laufe der 1970er Jahre häuften sich eine ganze Reihe von Problemen, die erst am 6. März 1978 in einem "Spitzengespräch" zwischen dem Vorstand des Kirchenbundes (den Bischöfen Al-brecht Schönherr und Werner Krusche, Präsident Kurt Domsch, Präses Siegfried Wahrmann [IM], Synodalpräsidiumsmitglied Christina Schultheiß und Manfred Stolpe [IM]) und Erich Honecker zur Sprache kommen konnten. Trotz gründlicher Vorbereitung und vorherigen Abstimmungen kam es mündlich wohl zu gewissen darüber hinausgehenden deeskalierenden Zusagen durch Erich Honecker, allerdings nicht an entscheidenden Punkten. Charakteristisch war, daß sich der SED-Staat jedoch nie auf einen schriftlichen Vertrag festlegen ließ (106).

Seit Ende der 1970er Jahre war eine wachsende Unruhe zu spüren. Eine Flut von Ausreiseanträgen wurde ab 1976/77 zum Problem (223). Hinzu kamen staatskritische Jugendgottesdienste und Literaturlesungen sowie jugendliche Menschenrechts- und Friedensbewegungen ("Schwerter zu Pflugscharen" als Aufnäher). All dem begegnete man zunächst wegen außenpolitischer Rücksichten nicht mit zu großer staatlicher Härte, zumal die meisten Kirchenführer (ausgenommen die Bischöfe Werner Krusche und Gottfried Forck) diesen Aktionen skeptisch gegenüberstanden und abzuwiegeln versuchten. Gleichzeitig arrangierten sie sich mit dem Staat anläßlich des großen Lutherjubiläums - der 500-Jahrfeier 1983 (333).

B.s zentrale These ist, daß ein großer Teil der kirchlichen Amtsträger von der Vision erfüllt gewesen sei, ein genuiner Sozialismus könne (mindestens in ethischer und politischer Hinsicht) mit dem Christentum in Übereinstimmung gebracht werden. Diese Vision hätte zu dem naiven politischen Optimismus geführt, daß der SED-Staat reformierbar sei. AlsBresch-new das "Friedens-Angebot" formulierte, 200 Raketen zurückzuziehen, hätten immerhin 60-75% der kirchlichen Amtsträger einen vom Nationalrat der Nationalen Front initiierten Appell zur Unterstützung der Breschnew-Vorschläge unterzeichnet, obwohl diese Initiative seitens des BEK auf Widerspruch stieß (289) und Bischof Schönherr diesbezüglich unmißverständlich kritisch an Willi Stoph geschrieben hatte: "...Gerade weil es um die Schaffung von Vertrauen geht, können wir nicht verhehlen, daß diese vom Nationalrat der Deutschen Demokratischen Republik in Gang gesetzte Unterschriftenaktion uns wenig geeignet scheint, Vertrauen als Grundlage für Verhandlungen zu erzeugen..." (286).

Seit 1977 kam es vermehrt zu außenpolitischen Aktivitäten ostdeutscher Kirchenführer. Besonders Bischof Schönherr und BEK-Sekretariatschef Manfred Stolpe besuchten im Einverständnis mit dem DDR-Staat westdeutsche Politiker, die wiederum auch in die DDR reisten (z.B. Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker). Den Dokumenten zufolge waren westdeutsche Spitzenpolitiker sehr an solchen Kontakten interessiert. Hier fehlen allerdings Unterlagen aus den Privatarchiven dieser Politiker. Interessant ist der Bericht Bischof Hempels über sein Gespräch mit Helmut Schmidt am 12.03.1982. Im Blick auf die von der DDR-Regierung hochgespielte Empörung über das amerikanische Rüstungsprogramm erklärte Schmidt, "daß ,Reagan ein guter Junge sei, der einem nicht die Brieftasche stehlen würde', aber in bezug auf internationale Verhältnisse und auch Umgangsformen, nur als ,Nilpferd im Porzellanladen' zu charakterisieren sei. Er verstünde tatsächlich nichts von Politik... Im übrigen sagte Schmidt, daß für Reagan der alte Satz von den Hunden, die bellen, aber nicht beißen, gelte und daß er als Cowboy aufrete, der auf jeder Seite einen Colt habe, mit dem er aber nur in die Luft schieße. Er wolle in einem enormen Maße aufrüsten, aber er werde nie einen entscheidenden Beschluß fassen. Das sei seine Überzeugung..." (506).

1981 versuchte die Kirche erneut, ein Spitzengespräch über die weitere Entwicklung der Staat-Kirche-Beziehungen anzuregen. Aufgrund des sich verhärtenden Klimas kam es allerdings dazu nicht mehr. (B. nennt als letzten, wenn auch "nicht ausschlaggebenden Faktor" für das Nichtzustandekommen eines neuerlichen Spitzengesprächs das "Auftreten Werner Krusches vor der provinzsächsischen Herbstsynode im November 1981" [375]. Dort ging es um die kirchliche Forderung nach Einführung eines Wehrersatzdienstes, den "Sozialen Friedensdienst".)

Trotzdem gab es natürlich bis zum Ende der 80er Jahre kirchlich-diplomatische Beziehungen zum Staat, die jedoch immer frostiger wurden. In gewisser Hinsicht muß man jedoch von einem Sieg des SED-Staates sprechen: Am Ende der DDR-Ära gehörten nur etwa noch 22% der Bevölkerung zur evangelischen Kirche. Nur mit westdeutscher Finanzhilfe konnten - wie im fünften Kapitel dargestellt - die volkskirchlichen Strukturen aufrechterhalten werden. Zusammen mit humanitärer Hilfe und Mitteln für den Kirchenbau zahlten die westlichen Kirchen jährlich etwa 110 Millionen DM (allein der Wiederaufbau des Berliner Doms verschlang insgesamt 120 Millionen).

Das sechste und letzte Kapitel gibt Einblicke in die "Kaderbildung" der theologischen Sektionen. Der Staat versuchte, über die Pfarrerausbildung Einfluß auf die künftigen Amtsträger zu nehmen und die wachsende Unruhe unter den Theologiestudenten zu bekämpfen. Besonders aktiv bei der Verteidigung des real existierenden Sozialismus war der "Weißenseer Kreis" mit Professor Hanfried Müller.

Dagegen heben sich Stimmen wie die von Pastor Johannes Hamel und das Schreiben von Pfarrer Johannes Seebaß vom 12.04.1978 an den BEK wohltuend ab. Die künftige Forschung wird ohne Zweifel noch viele solcher lauterer Stimmen bei Na-men nennen können, die jedoch in den kirchenpolitischen Dokumenten, die Thema dieses Bandes sind, nicht enthalten sind.