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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

689–693

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 1: 1945/46. Bearb. von C. Nicolaisen u. N. A. Schulze. Mit einer Einleitung von W.-D. Hauschild.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. XLVIII, 971 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe A, Quellen, 5. Geb. DM 225,-. ISBN 3-525-55756-6.

Rezensent:

Clemens Vollnhals

Eine sorgfältige Edition der Protokolle des Rates der EKD stellte seit langem ein Desiderat der kirchlichen Zeitgeschichte dar. Wer jemals mit den im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin überlieferten Beständen gearbeitet hat, wird den Wert dieser Edition zu schätzen wissen, auch wenn das meiste der Forschung seit längerem bekannt ist. Ihre Bedeutung liegt weniger im Abdruck der recht lapidaren Beschlußprotokolle, beginnend mit der ersten Ratssitzung im Anschluß an die "Kirchenführerkonferenz" von Treysa am 31. August 1945. Verlaufsprotokolle, die den Diskussions- und Entscheidungsprozeß genauer erkennen lassen, liegen nur für die 3. bis 7. Ratssitzung vor, während Wortprotokolle im strengen Sinne nicht angefertigt worden sind. Es sind deshalb vor allem die vielfältigen Anlagen, Anträge und Entwürfe sowie der begleitende Schriftwechsel, die einen tieferen Einblick in die zahlreichen Aufgaben des Rates wie der innerkirchlichen Konfliktlinien geben. Für die mühselige Sammlung der weitverstreuten Dokumente und ihrer umfassenden, sachkundigen Kommentierung gebührt den Bearbeitern großes Lob. Der Münchner Geschäftsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte ist erneut eine vorbildliche Edition zu verdanken, deren Verzeichnisse und Register allein 170 Seiten umfassen.

Die instruktive Einleitung aus der Feder von Wolf-Dieter Hauschild skizziert die komplizierte Gründungsgeschichte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der wenige Monate nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands die Vertretung der evangelischen Kirche gegen-über der Ökumene wie den Besatzungsmächten übernahm. In dieser Funktion konnte der Rat auf die Unterstützung der Landeskirchen zählen, während seine Stellung und Befugnisse gegenüber den Landeskirchen in einem merkwürdigen Schwebezustand verblieben. Eine rechtsgültige Grundordnung gab sich die EKD nach langem Ringen bekanntlich erst 1948. Dieses Faktum ist angesichts des raschen demokratischen Wiederaufbaus im staatlichen Bereich, angefangen von den Kommunalwahlen im Sommer 1946 über die Landtagswahlen bis zur Ausarbeitung der Länderverfassungen 1946/47 durchaus be-merkenswert.

Die Legitimationsbasis der in Treysa gegründeten Institution war, wie Hauschild zu Recht hervorhebt, "schwach und zweifelhaft". Der hier Ende August 1945 versammelte Personenkreis war aufgrund der Zeitläufte mehr oder minder zufällig zusammengesetzt und besaß kein Mandat, um die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) vom 11. Juli 1933 außer Kraft zu setzen. Juristisch gesehen war die EKD, als deren Leitungsgremium der Rat fungierte, eigentlich nicht existent. Die Erarbeitung einer allseits akzeptierten Verfassung erwies sich jedoch angesichts der Streitfrage - Kirche oder Kirchenbund - als undurchführbar, so daß es zunächst bei einem Provisorium mit ungeklärter Rechtsgrundlage blieb.

Hierin spiegelte sich die Spaltung und der Zerfall der evangelischen Kirche im "Dritten Reich" wider. Auch das bruderrätliche Notrecht vermochte das Legitimationsdefizit nicht zu überbrücken, zumal es ihm an Leben fehlte. In den letzten Kriegsjahren stellte der radikalere bruderrätliche Flügel der Bekennenden Kirche nur mehr eine kleine, versprengte Minderheit dar. Handlungsfähig waren allein die großen "intakten" Landeskirchen, so daß die entscheidenden Impulse zur Neuordnung von den Landesbischöfen Wurm, Meiser und Marahrens ausgingen.

Die Vorgeschichte von Treysa war im wesentlichen von vier widerstreitenden Konzeptionen geprägt: Das Kirchliche Einigungswerk um Wurm, Bodelschwingh, Asmussen, Dibelius u.a. zielte auf größtmögliche Integration; die Landesbischöfe Meiser und Marahrens sowie Mitglieder des Lu-therrates verfolgten das Konzept einer einheitlichen lutherischen Bekenntniskirche; Niemöller und der dahlemitische Flügel der Bekennenden Kirche vertraten den notrechtlichen Anspruch einer institutionskritischen, die alten Konfessionsgrenzen relativierenden Bekennenden Kirche; und schließlich gab es die pragmatisch-partikulare Beharrungskraft der Landeskirchen. Daß die Konferenz überhaupt zu Ergebnissen kam, war denn auch in erster Linie dem Verhandlungsgeschick Wurms zu verdanken.

Als glaubwürdiger Moderator übernahm Wurm den Vorsitz im neu ge-gründeten Rat, dem ausschließlich Vertreter der Bekennenden Kirche an-gehörten. Dies bedeutete nicht nur den (selbstverständlichen) Ausschluß der Deutschen Christen, sondern auch breiter Mittelgruppen. Im Rat besaßen die Theologen das Übergewicht über die Laien und die Vertreter des "bischöflichen" Flügels über die Verfechter bruderrätlicher Konzeptionen. Nicht minder bedeutend war die eindeutige Dominanz der in den Westzonen gelegenen Kirchen, da die Ostzone nur durch Dibelius und Hahn (ab 1947) vertreten war. Niemöller übernahm die Leitung des kirchlichen Außenamtes und damit die Vertretung der EKD gegenüber der Ökumene, wobei die Abgrenzung zu dem von Gerstenmaier sehr selbstbewußt geführten Hilfswerk immer wieder für Konflikte sorgte.

Keine glückliche Personalentscheidung war die Ernennung Asmussens zum Leiter der Kirchenkanzlei, da dessen eigenwillige Amtsführung das ohnehin gespannte Verhältnis zu den Landeskirchen weiter belastete. Nicht zuletzt spielten persönliche Differenzen und Animositäten eine große Rolle; sie reichten zwischen Niemöller und Meiser, später auch in des ersteren Verhältnis zu Asmussen bis zur Feindschaft.

Läßt man die auf den neun Ratsssitzungen bis zum Jahresende 1946 verhandelten Angelegenheiten Revue passieren, so nimmt in dem Sammelsurium der Tagesordnungspunkte die Bewältigung der chaotischen Nachkriegszeit plastische Gestalt an. Zunächst galt es, eine Vielzahl von Personalfragen zu lösen: von der Abwicklung der alten Kirchenkanzlei bis zur Versorgung der Ostpfarrer. Einen wirklich überzeugenden Trennungsstrich vermochte der Rat aus unterschiedlichen Gründen allerdings nicht zu ziehen.

Dies betraf nicht nur die Frage der Weiterbeschäftigung belasteter Kirchenbeamter, sondern auch das Fortwirken kompromittierter Persönlichkeiten wie des hannoverschen Landesbischofs Marahrens oder des früheren Leiters des Kirchlichen Außenamtes Heckel, die in der Ökumene jeglichen Kredit verspielt hatten. Sodann nahm der Aufbau der kirchlichen Hilfswerke und Organisationen, vom Evangelischen Presseverband über die Männerarbeit bis zur "Posaunenarbeit", breiten Raum ein. Schließlich die Ausarbeitung zahlreicher Verordnungen, die Erstellung des Haushaltsplans, die Besetzung des Disziplinarhofes, der verschiedenen Beratungskammern der EKD und so fort. Alles in allem ein buntes Kaleidoskop organisatorischer, juristischer und kirchenpolitischer Entscheidungen, die auf vielfältige Weise mit heftigen Konflikten um den künftigen Kurs der EKD verbunden waren. Die Schärfe der Auseinandersetzungen wird in den abgedruckten Briefwechseln und Positionspapieren deutlich. Man lese beispielsweise Niemöllers Brief an Asmussen vom 22. Juni 1946.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde der Rat durch das Stuttgarter Schuldbekenntnis bekannt, das er auf seiner zweiten Tagung am 18. Oktober 1945 gegenüber einer hochrangigen ökumenischen Delegation ablegte. Es ist diese Erklärung, die unser heutiges Bild einer ihrer Schuld bewußten Kirche geprägt hat. Weniger bekannt ist hingegen, daß das Schuldbekenntnis nach dem ur-sprünglichen Willen der Unterzeichner nur als interne Erklärung gegenüber der Ökumene gedacht war. Erst als die Presse das Wort veröffentlicht hatte, was in den evangelischen Gemeinden weithin einen entrüsteten Proteststurm auslöste, beschloß der Rat die Verbreitung einer autorisierten Fassung.

Bereits auf der Stuttgarter Tagung lag der Entwurf einer Eingabe an den Alliierten Kontrollrat vor, mit der sich der Rat zum Fürsprecher des deutschen Volkes gegenüber den Besatzungsmächten machte. Die Eingabe wurde auf der nächsten Sitzung verabschiedet und brachte zunächst die Behandlung der Kriegsgefangenen zur Sprache, dann die Entnazifizierung und Übergriffe polnischer Fremdarbeiter, um schließlich den heiklen Punkt der Vertreibung deutscher Bevölkerungsgruppen aus Osteuropa zu berühren: "Wir bitten, daß der Eindruck vermieden wird, als solle dasselbe noch einmal geschehen, was von der SS und der Partei in Polen geschehen ist". In die gleiche Richtung wies das Wort an die Christen in England, das der Rat auf derselben Tagung verabschiedete. Hier bezog man sich ebenfalls auf die Stuttgarter Schulderklärung, um dann fortzufahren: "Die militärische Eroberung und Besetzung unseres Landes war mit all den Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung verbunden, über die man sich in den Ländern der Alliierten zu Recht beklagt hat, und was seither in manchen Besatzungszonen auf dem Gebiet der Entnazifizierung geschehen ist, war auch nicht immer geeignet, den Eindruck eines höheren Masses von Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu erwecken... Das deutsche Volk auf einen noch engeren Raum zusammenzupressen und ihm die Lebensmöglichkeiten möglichst zu beschneiden, ist grundsätzlich nicht anderes zu bewerten, als die gegen die jüdische Rasse gerichtete Ausrottungspolitik Hitlers".

Dieser Vergleich war keine vereinzelte sprachliche Entgleisung, sondern entsprang einer tiefverwurzelten politischen Mentalität, die sich wohl am besten mit dem Begriff "deutschnational" umschreiben läßt. Bei aller aufrichtigen Abscheu und moralischen Verdammung der NS-Verbrechen überwog doch das nationale Selbstmitleid und die Verhaftung im nationalkonservativen Milieu. Auch die Vertreter der Bekennenden Kirche hatten 1933 den Machtantritt Hitlers als den Aufbruch in eine bessere Zukunft emphatisch begrüßt; Niemöller wählte nach eigenem Bekunden seit 1924 die NSDAP. Der Name Bonhoeffer besaß nur in der Ökumene einen guten Klang, während sich die Synode der Berlin-Brandenburgischen Kirche noch 1946 von seiner Be-teiligung am Widerstand entschieden distanzierte.

Es lag auf dieser Linie, daß der Rat auf seiner dritten Tagung den beginnenden Nürnberger Hauptprozeß gegen Göring und andere NS-Größen wegen der Beteiligung der Sowjetunion kaum als rechtmäßiges Gericht an-zuerkennen vermochte. Die Stimmung brachte Meiser zum Ausdruck, als er erklärte: "Es muß klar werden, daß wir mit diesem Gericht nichts zu tun haben, bei dem Ankläger und Richter dieselben Personen sind". Wenn überhaupt, könne man nur als Entlastungszeuge auftreten. Daß die Alliierten in einem einzigartigen historischen Vakuum Recht sprachen und keinen kurzen Prozeß machten, war keine Selbstverständlichkeit. Dies war den meisten Deutschen damals durchaus bewußt; sie hielten, wie Meinungsumfragen belegen, den Nürnberger Prozeß für fair und gerecht. Wenig später setzte dann die massive Gnadenlobby evangelischer Kirchenführer für verurteilte NS- und Kriegsverbrecher ein, bis schließlich 1958 auch die letzten SD-Einsatzgruppenführer vorzeitig freigelassen wurden.

Im Mittelpunkt der politischen Äußerungen stand 1945/46 je-doch die Kritik der Entnazifizierung. Die politische Säuberung galt von Anfang an als schweres Unrecht. Sie bestrafe Handlungen und Gesinnungen, die "vom damaligen Gesetzgeber als rechtmäßig und gut eingeschätzt" worden seien. Die Kirche könne es deshalb nicht anerkennen, wie Wurm als Ratsvorsitzender im April 1946 schrieb, "daß eine menschliche Obrigkeit nunmehr zu strafen unternimmt, was allein nach göttlichem Recht als Unrecht zu gelten hat". Die Schärfe der Kritik ließ jegliches Augenmaß vermissen, da ihr kein positives Verständnis für die Erfordernisse des demokratischen Neuanfangs zu-grunde lag. - Es ist kein Zufall, daß der Begriff Demokratie im umfangreichen Sachregister fehlt; auch bei der späteren Ausarbeitung des Grundgesetzes trat der Rat kaum in Erscheinung. Die Kritik resultierte maßgeblich aus der eigenen Betroffenheit: Immerhin hatten knapp ein Drittel der evangelischen Pfarrerschaft der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört. Der Aufruf zur inneren Versöhnung blieb einseitig, da der massiven Fürsprache für entlassene NSDAP-Mitglieder kein einziges Wort zur Wiedergutmachung an dem Millionenheer der politisch und rassisch Verfolgten, der Emigranten und Zwangsarbeiter gegenüberstand.

Wie dem überwiegenden Teil der deutschen Bevölkerung war auch den evangelischen Kirchenführern das ganze Ausmaß des vom NS-Regime begangenen Zivilisationsbruchs nicht wirklich bewußt. Der Holocaust wurde weder als die Signatur des Nationalsozialismus erkannt noch in seinen Konsequenzen für das christliche Zeugnis reflektiert. Dies gilt nicht nur für die Stuttgarter Schulderklärung, die die spezifische Schuld gegenüber den Juden nicht angesprochen hatte. Schlimmer noch: Eine von der kleinen Bremer Kirche im hanseatischen Bürgersinn verfügte Kollekte zum Wiederaufbau der Synagoge wurde auf der dritten Ratssitzung im Dezember 1945 ausdrücklich mißbilligt. Symptomatisch für die nachwirkende Hypothek des christlichen Antijudaismus war der Diskussionsbeitrag Helds: "Wir haben keine Ursache, uns der Juden besonders anzunehmen. In keinem Fall besteht in Deutschland Elend unter den Juden". Und Niesel, ebenfalls ein Verfechter bruderrätlicher Reformkonzeptionen, erklärte: "Wir sollen die Juden zu Christus rufen, nicht rein karitativ für sie sorgen". Zugleich lag ein von Smend verfaßter Entwurf vor, der in knappen, nüchternen Worten die Mitschuld der Christen und die Pflicht zur Wiedergutmachung thematisierte. Er fand keine Zustimmung. Im März 1946 beschloß der Rat, "ein Wort an die Gemeinden zur Schuldfrage, zum Um-fang der jetzt veröffentlichten Judenmorde und zur Methode der Entnazifizierung" zu richten. Verwirklicht wurde jedoch, entsprechend der vorherrschenden Stimmungslage in den Gemeinden, nur der letzte Punkt.

Diese kritischen Bemerkungen sollen die Verdienste des Rates der EKD nicht schmälern. Angesichts der drängenden Probleme der innerkirchlichen Neuordnung und der Not der ersten Nachkriegsjahre waren die Ratssitzungen kein Ort der geistigen Reflexion, sondern harte Arbeitstagungen mit übervollem Programm. Wer sich für die (stets zeitgebundene) Wahrnehmung des "politischen Wächteramtes" interessiert, sollte freilich auch die "Frankfurter Hefte" oder andere zeitgenössische Kulturzeitschriften heranziehen. Das Spektrum christlich motivierten Nachdenkens über die selbstverschuldete Katastrophe des Nationalsozialismus und die daraus zu ziehenden politischen Konsequenzen war in Laienkreisen - auch außerhalb des Linkskatholizismus - wesentlich breiter und vielfach analytisch schärfer, als es die Dokumente der vorliegenden Edition erkennen lassen.