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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

827–830

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hrsg. von M. Brecht, F. de Boor, R. Dellsperger, U. Gäbler, H. Lehmann, A. Sames, H. Schneider u. J. Wallmann. Bd. 20 (1994).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 310 S. 8. Kart. DM 84.-. ISBN 3-525-55892-9.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Der im Sommer 1995 erschienene 20. Band 1994 des Jahrbuchs "Pietismus und Neuzeit" [PuN] der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus markiert Behauptungswillen auf einem schmalen Markt (vgl. zu PuN 11, 14 und 15: ThLZ 111, 1986, 803-806; 115, 1990, 284-286 und 118, 1993, 526-528, S. Bräuer bzw. [2 Mal] W. Sommer). PuN 1 bis 20 sind die regelmäßige Wortmeldung einer 1964 gegründeten Einrichtung, die der Pietismusforschung über 25 Jahre hin im geteilten Deutschland grenzüberschreitend zur Hilfe kam. Veröffentlichungen aus der DDR-Forschung waren möglich. Kurt Alands Beitrag hierzu, "aus gebotenen politischen Gründen" selten manifest werdend, ist in dem Nachruf Martin Brechts festgehalten (9). Die vor über 30 Jahren formulierten Absichten der Pietismus-Kommission sind hier bei ihrem Periodikum am weitesten verwirklicht. Anfangs von Klaus Deppermann und Andreas Lindt herausgegeben - beider Tod ist zu beklagen - betreut nun, bei institutioneller und personeller Hilfe des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung (Halle/Saale) mit Udo Sträter und Christel Butterweck, ein 10köpfiger Stab von Mitarbeitern die Zeitschrift; geschäftsführender Herausgeber des Bandes 20 ist Ulrich Gäbler (Basel).

Die zeitlich angeordneten 9 Aufsätze, samt 2 Miszellen und 9 Rezensionen, umspannen das 17. bis 20. Jh., mit Schwerpunkt im 18. Verfasser und Rezensenten kommen - interdisziplinär - aus Pädagogikgeschichte, Germanistik/Literaturwissenschaft, allgemeiner Geschichtswissenschaft und Theologie (hier neben KG auch Systematik und Hymnologie). Ein englischer Beitrag und die Rezension von zwei englischen und einem ungarisch kommentierten Werk signalisieren etwas zaghaft die Internationalität - Programm für PuN wie für die unten zu würdigende Pietismus-Bibliographie.

Folgende Aufsätze sind enthalten: Theodor Mahlmann, Johannes Kromayers Wirken für Schule und Kirche im frühen 17. Jahrhundert; J. Wallmann, Was ist Pietismus?; J. A. Steiger, Aufklärungskritische Versöhnungslehre...; M. Brecht,... Ein Lehrgedicht [J. J. Zimmermanns] aus dem radikalen Pietismus; M. Doerfel,... Johann Christian Lerches Memorandum zu Reformbestrebungen am Pädagogium Regii in Halle (1716/22); H.-J. Schrader, Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort.,Poetische' Aspekte der pietistischen Christologie; R. Wilson, Continental Protestant Refugees and their Protectors in Germany and London: Commercial and Charitable Networks; H. Weigelt, Die Beziehungen Lavaters zu Abt Jerusalem und zu anderen Mitgliedern des Collegium Carolinum; S. Holthaus, Praemilleniarismus in Deutschland. Historische Anmerkungen zur Eschatologie der Erweckten im 19. und 20. Jahrhundert. - Bei allem Verzicht auf eine Einzelvorstellung der z. T. erheblich weiterführenden Studien: Es wäre ein Un-glück, wenn etwa Mahlmanns fast beschwörende Erinnerungen an Desideria der Arndt-Forschung, Steigers Plädoyer für eine Neuvermessung der Aufklärungstheologie oder Schraders eindrückliche Einblicke in die Entwicklung der Wiedergeburtsanschauung ab Luther - bis hin zur Berleburger Bibel übersehen würden! Und dem ,ökumenischen Pietismus' (siehe Wilson) wird inskünftig viel mehr Aufmerksamkeit zukommen (vgl. nur Arbeiten von Thomas Müller [Halle/Saale] oder zu Samuel Urlsperger [Sammelband 1996]).

Eine Miszelle von R. Buschbeck würdigt die Liederdichter Joachim Neander und Johann Jakob Schütz unter dem Aspekt ihres für das Verständnis des Judentums förderlichen Beitrages. Die zweite Miszelle von J. Wallmann mit dem irrigen Titel "Fehlstart [...]" (der diesbezügliche Widerruf führte nicht zur Titelkorrektur, 235) behandelt den 1. Band der auf vier Bände angelegten "Geschichte des Pietismus" [GPiet] zum 17. und frühen 18. Jh. Zwischen dem jahrzehntelang der Spenerforschung verpflichteten Kritiker J. Wallmann und dem vielseitig, auch editorisch und wissenschaftsorganisatorisch tätigen Herausgeber und Hauptbeiträger von GPiet 1 M. Brecht- PuN hat er über 13 Jahrgänge verantwortlich geleitet! - erklärt sich mancher Dissens schnell. Mehr Verständnis für in einem Mehrverfasserband divergierende Sichtweisen von Pietismus hätte man erwartet. Auch braucht z. B. die Fehlzuweisung eines anonymen Spener-Briefes nicht den Rezipienten (M. Brecht, vorher D.B.) angelastet zu werden, wo der Rezensent selbst eben diese Fehlzuweisung in die Forschungsliteratur eingeführt hat (233/234 [mit AGP 14. 1975, 472], hier irrig Brecht "312", recte 314; D. B. nicht Spener 16. 1989, 39*, sondern 1. 1979, 53-54).

Ohne ein - mir noch nie ganz einleuchtendes - Tabu gegenüber Rezensionen zu sehr strapazieren zu wollen, sei auf die z. T. höchst kritischen und somit aussagekräftigen Besprechungen verwiesen (v. a. zu Sabine Holtz' ,Tübinger' Predigtgeschichte [vgl. früher J. A. Steiger in ThLZ 119, 1994, 529-532] und zu Matthias Meyers "Feuerbach und Zinzendorf"). ,In dubio pro critico' - wo kritisch votiert wird, ohne "die Person zusammen mit ihren Werken zur Grube fahren" zu lassen, wie Hans Weder treffend formuliert (ThLZ 120, 1995, 759), müssen betroffene Kritisierte diesen Grundsatz akzeptieren. Ein Rez., M. Matthias, hat sich sensibel das ,Erschrecken' bewahrt und fragt ausdrücklich: "... ist mir vielleicht doch eine wichtige Erkenntnis des Buches entgangen?" (243).

Das Kontinuum von PuN nun über 20 Bände (Ausnahme: Bd.17) ist die "Pietismus-Bibliographie" [PB]. In vorliegendem Band PuN 20 umfaßt sie einschließlich der Gliederung, der Abkürzungen und der Register 32 Seiten, bei 318 Nummern. Das bewegt sich in dem seit vielen Jahren üblichen Rahmen. U. Sträter und - seit PB 19 - Chr. Butterweck zeichnen verantwortlich. Bis PuN 16, 1990 war PB von Klaus Deppermann ( 1990) und D. B. erarbeitet worden.

Nach drei Folgen PB unter neuer Leitung kann man einige begrüßenswerte Änderungen konstatieren, vor allem die soliden Arbeitsvoraussetzungen in institutioneller, technischer, finanzieller, räumlicher, organisatorisch-logistischer und - nicht zu-letzt - personeller Hinsicht, aber auch die Erschließung des Materials durch zwei Register. (Bedauerlicherweise sind Re-zensionen nicht mehr verzeichnet.)

Vollständigkeit und Aktualität lassen sich nur vorsichtig testen. Es müßte die Spanne zwischen Redaktionsschluß und Auslieferung von PuN 20 ersichtlich sein. Auch "(wird) ein Anspruch auf Vollständigkeit... für die Bibliographie nicht erhoben" (U. Sträter, PuN 18, 234) - was gewiß nicht als Freibrief für Lückenhaftigkeit gemeint ist.

Von den gleich genannten Titeln mögen - das sei ausdrücklich ver-merkt- die neuesten zeitlich nicht mehr erreichbar gewesen sein. Aus der noch relativ leicht greifbaren amerikanischen Literatur vermißt man einige Veröffentlichungen: Collins über Wesleys Beeinflussung durch J. Arndt und Francke sowie zu Wesley/Früher Pietismus; Weborg über Bengel; Jones über Puritans piety; Enger über Franckes religiöse Erziehung; Hardin über Trinität/pietistisch; Reichel über Spener und theol.Ausbildung; Renner über lutherische Anfänge in Australien (Orthodoxie, Pietismus). Aber auch Veröffentlichungen in Deutschland etwa für die Zeit des Übergangs von PB 16 zu PB 18, durchaus auch noch für frühere Phasen, werden noch vermißt. Zu Gottesdienst und Kirchenlied ist einiges nachzutragen. Über Bibelverbreitung und Bibelauslegung liegen Arbeiten vor. ,Regionale' Studien zum Baltikum und zu Oldenburg fehlen noch.

Zur Theologie liegen Untersuchungen zum Amt in der lutherischen Orthodoxie und im Pietismus, zur frühen protestantischen Metaphysik (u.a. Calov) und zur Pneumatologie u. a. bei Arndt und Spener (von H. W. Krumwiede) vor. Verlagswesen und Kirchenbau im Bayreuthischen wie im Ans-bachischen haben bezüglich des Pietismus Aufmerksamkeit gefunden, und Stalmanns, Axmachers, Werners und Schönborns Bemühungen um Hymnologica verdienten Berücksichtigung.

PB 20 gebricht es bei der Einzeldurchführung an Professionalität. Hier ist Beschönigung nicht statthaft. Es fehlt jene Verläßlichkeit, welche die hinter ihr stehenden Mühen nicht mehr erkennen ließe und der man sich gleichwohl "getrost [!]" anvertrauen könnte. Unvollständige, ungenaue und leider auch irreführende Angaben und Zuordnungen begegnen ebenso wie Unsicherheit in formaler und inhaltlicher Hinsicht. Ob der Standard von ganz leicht zugänglichen deutschen Bibliographien wie LuJ, ARG.L, WBN, auch JLH u. a. - sämtlich in PB 18-20 verschwiegen - nicht auch Maßstab ist? Ob die beiden Tübinger Hilfsmittel ZID und NThAR gründlich ausgewertet werden? Oft scheinen Autopsie unterblieben und in Halle ULB ja reichlich vorhandene Recherche-Hilfen nicht in Anspruch genommen. Unterbliebene Autopsie und Recherchen führen zu oft dazu, daß Annotierungen unterbleiben wie z. B. der bei PB 20/280 mögliche Hinweis auf Spener, Francke und Mühlenberg.

All dies einzeln zu belegen ergäbe eine eigene Rezension. Einige Beispiele müssen genügen.

Innerhalb von PB 20 Abteilung I. Allgemeines (01 bis 03) gehört auf keinen Fall unter "Bibliographie/Forschungsberichte" das "Evangelische Lexikon für Theologie und Gemeinde" (PB 20/3) [im übrigen fehlen der zweite Verlagsort (Zürich), der Verlag (R. Brockhaus) und der Registerband], dessen Pietismus-Artikel bis auf drei nicht angeführt sind. Die Verarbeitung von Lexika bedarf ohnehin der Revision. Schlimm irreführend ist die Aufnahme von "Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur" [HKJL] [2] für 1570-1750 (PB 20/309). Nicht nur, daß der Umfang fast verdoppelt wird - wie stellt man sich eigentlich ein über 2500seitiges, großformatiges Buch vor? -, die einzigen drei annotierten Autoren Comenius, Spener und Rambach sind nicht nur schon jeweils für sich reichlich unvollständig nachgewiesen. Für (Orthodoxie und) Pietismus zähle ich in HKJL 2 1570-1750 45 einschlägige Namen, zu denen meist gut recherchierte Artikel oder Hinweise zu finden sind.

Weitere Desideria seien nur noch stichwortartig genannt: Die Angabe des Verlages fehlt häufig, mitunter auch die Bandangabe, gelegentlich Ort und Herausgeber, "Trivialbibliothek" Speners ist erheiternd. Bei amerikanischen Dissertationen wären einschlägige Verzeichnisse zu konsultieren und zu zitieren: PB 20/70 nennt McMullens Arbeit zum Freylinghausenschen Gesangbuch ohne Angaben der Bände (2) und Seiten (661), was schon ohne Autopsie - für den Ungeübten freilich in der MF-Ausgabe nicht leicht zu handhaben! - aus DAI.A 48, 1987/88, (no.11 May 1988) p.2759A zu erheben gewesen wäre; daneben erfährt man dort, daß Band 2 eine kritische Edition der 194 Lieder mit Noten enthält. (Und mit der Angabe der Order-Nr. 87-20317 ist einem Besteller ggf. rasch geholfen.) - Abkürzungen: BAKG (PB 20/285) fehlt 268; TRE.Abk 18 führt es an. TRE.Abk 51 sieht "EHS.T" vor, z. B. für PB 20/76. EVA ist nach EuA zu listen, JETh meint Jahrbuch für evangelikale (nicht evangelische) Theologie. - Die schon vor einiger Zeit für die "Pietismus-Bibliographie" in der Literatur verwendete Abkürzung PB ist durch "PuN.Bibl." nicht vereinfacht; PB 18/42 als "PuN 18, 1992, I.03, 42" ist ebenfalls nicht praktikabel (s. PB 19/217!).

Das Band-Register ist sorgfältig gearbeitet; nur vereinzelt begegnen Fehler: Löhe ist auch S. 203 genannt. Die Adelsnamen sind unter dem Familien-Namen gelistet (anders Aemilie Juliana... zu Schwartzburg). Ö, ö, Ä, ä etc. sind im Register nicht mehr als oe bzw. ae zu lesen - wohl ein Zugeständnis an Computer-Sortier-Programme (also: Loofs-Löscher [nicht Loescher-Loofs!]). - Englische Summaries, vielleicht auch noch solche in anderen Sprachen, fänden gewiß auch bei den deutschen Lesern Zustimmung. Und der Wunsch nach Internationalität würde dadurch unterstrichen. Ob die Schriftleitung darauf hinwirken kann, PuN mit Seitentiteln zu versehen - was auch die Register der PB und des Bandes selbst gut auseinanderhielte (293-298 bzw. 299-310)? Für Textveröffentlichungen könnte man sich verpflichtende Standards denken: Zeilenzähler, Fundortangabe am Text selbst, Normalisierung, Kommentierung etc. beteffend. Bei Bezug auf un-gedruckte Literatur sollte die Schriftleitung auf Standortangabe drängen (117 A.34). Unter den nicht übermäßig vielen Setzfehlern fallen doch einige falsche Worttrennungen auf. Herb freilich sind 11 falsche Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis (5 f.). Die buchbinderische Verarbeitung hält einer intensiveren Benutzung der PB und der Registerseiten nicht stand (ab 269 lösen sich die letzten 20 Blatt aus der Klebung). Schließlich ein über die Redaktion hinausgehender Hinweis: Kann nicht Johann Friedrich Gerhard Goeters endlich mit richtigem Namen genannt werden und nicht abermals, wie schon GPiet 1/Titelblatt [!], einer weiteren Entstellung ausgeliefert werden: "Johannes Friedrich, Gerhard Goeters" [312]).

Trotz der hier nur bruchstückhaft möglichen Vorstellung des ,Jubiläumsbandes' kann mit Fug gesagt werden: "Pietismus und Neuzeit" hat seinen Platz in der kirchenhistorischen Zeitschriftenlandschaft eingenommen. Der Titel markiert die Bedeutung des Pietismus für das moderne Denken. Die neuere Kirchengeschichte hat hier ein Organ von Gewicht zur Verfügung, dem allseits sorgfältige Aufmerksamkeit gebührt.