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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

685–687

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Munier, Charles

Titel/Untertitel:

L'Apologie de Saint Justin Philosophe et Martyr.

Verlag:

Fribourg: Ed. Universitaires 1994. XXV, 178 S. gr.8o = Paradosis, 38. Pp. sFr 37,25. ISBN 2-8271-0678-7.

Rezensent:

Ulrich Wickert

Ein vorzügliches Buch! Der Vf. bietet eine überaus gelehrte Zusammenfassung der seit dem Ende des 19. Jh.s geleisteten Erforschung Justins, wobei die überlieferten zwei Apologien, die der Vf. als literarische Einheit betrachtet, im Zentrum des Interesses stehen. Der Autor macht sich selber gleichsam zur Abbreviatur der Forschungsgeschichte, spart nicht mit eigenem Pro und Contra und läßt durch eindringliche Erörterung von Primär- und Sekundärliteratur den Leser an einem noch immer im Gange befindlichen Erkenntnisprozeß partizipieren. Es weckt Sympathie, wie er die großmütig ausgreifende und zu-gleich streng konzentrierte Wahrheitsfreude des frühchristlichen Apologeten zu charakterisieren versteht, dessen "Pionierleistung" ihn gar an Erfordernisse der heutigen epochalen Umbruchsituation ge-mahnt.

Daß es sich um einen - freilich selbst noch Forschung betreibenden - Forschungsbericht handelt, wird dadurch unterstrichen, daß eine reichhaltige Bibliographie, gut 16 Seiten umfassend, den Anfang macht. (Man sollte darauf hinweisen, daß in den zahlreichen Anmerkungen Literatur erscheint, die in der Bibliographie nicht aufgeführt wird.) Der rekapitulierende Diskurs beginnt mit der christlichen Apologetik des 2. Jh.s überhaupt (I), um sich alsdann dem Leben und Werk Justins zuzuwenden (II). Justins Apologie (III) und ihre literarische Struktur (IV) werden erörtert, bevor der "Zweifrontenkrieg" des Apologeten gegenüber den moralischen, sozialen, politischen Anklagen einerseits, dem Einspruch von seiten der philosophisch gebildeten Elite andererseits zum Thema wird (V). Der Bezug der Lehre Justins zu Philosophie (VI), Prophetie (VII) und christlicher Überlieferung (VIII) schließt sich an. Es entspricht nicht allein der Quellenlage, sondern der gleichsam missionarischen Ad-hoc-Schriftstellerei Justins überhaupt, daß in Kap. IX nicht ein geschlossenes System, sondern eine Sammlung von die Horizonte noch offen haltenden Aspekten der justinischen Theologie vorgezeigt wird: Gott der Schöpfer, der Logos und der Heilige Geist; Engel, Dämonen; der Mensch und sein Heil; die Kirche und ihre Sakramente; die Eschatologie. Auf die freilich ein wenig magere "Conclusion" (X) folgt im Annex eine Zusammenfassung der (das letzte Wort wohl noch nicht fixierenden) Argumente, die nach Meinung des Vf.s ausreichen, um die literarische Einheit der beiden Apologien sicherzustellen. 5 Indices sind beigegeben; und an ganz versteckter Stelle (hinter der Verlagsreklame) ein nicht allzu ergiebiges dreisprachiges Résumé.

Natürlich lassen sich Haare in jeder Suppe finden. So mag es vielleicht denn doch etwas zu phantasievoll sein, in Apol II,2 außer auf den Gnostiker Ptolemäus auch noch auf dessen Flora zu treffen (27 f.). Daß man über die umstrittene Wendung ÎÙ ÌÂÙ,ÔÏÓ Apol I 66,2 selbst auf S. 137 nichts Näheres erfährt, ist schade. Schön, daß Munier zu den Forschern zählt, die eine unmittelbare Kenntnis Platons bei Justin voraussetzen (30). Ich hätte gern von ihm gewußt, ob auch er in Dial 8,1 einen versteckten Hinweis auf Plato ep. VII p. 341 c.d findet, und welchen Aufschluß über Justins Art zu "philosophieren" eine solche Anknüpfung enthalten könnte. Man wird ja kaum behaupten dürfen, seit Adolf von Harnacks einseitig vorangetriebener, von ihm aber gar nicht überall strikt durchgehaltener Kampagne gegen die "Hellenisierung" des Christentums sei das vom Vf. in Kap. VI ("Christianisme et Philosophie") verhandelte Thema von der patristischen Forschung zufriedenstellend weitergedacht worden. Und so nimmt es nicht wunder, daß trotz des Versuchs, eine "neue Synthese zu ziehen" (Résumé), auch die hier eingebrachte Jahrhunderternte an diesem wichtigen Punkt den Leser wieder einmal unbefriedigt sich selbst überläßt. Es stimmt ja, daß für Justin die christliche Lehre der Philosophie überlegen ist, trotz punktueller Verbündung etwa im Kampf gegen den Polytheismus. Es trifft zugleich zu, daß an Sokrates eine wohlverstandene Entsprechung zwischen "natürlichem" und "göttlichem" Logos demonstriert wird (56 ff.). Aber dergleichen Richtigkeiten bleiben ganz äußerlich, solange man der Wahrheit Justins nicht auf die Spur kommt, die darin beruht, daß hier ein Mittelplatoniker kraft der von ihm in seiner Christwerdung vollzogenen "Kehre" in dem von ihm mitgebrachten philosophischen Logos(begriff) plötzlich den Zu-spruch Jesu Christi, und darin religiöse Gewißheit erfährt. Über dies in den Texten zu greifende theologische Grundereignis sollte man ins Nachdenken kommen: Wie kam es von innen her dazu, daß Plato christianus sich als Moment des Denkens aus Glauben durchsetzen konnte?

Muniers treffliches Buch gibt dem Wißbegierigen das nötige Material an die Hand, um am entscheidenden Punkt noch einmal ganz von vorn zu beginnen.