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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

683–685

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Marrou, Henri-Irénée

Titel/Untertitel:

Augustinus und das Ende der antiken Bildung. Übers. v. L. Wirth-Poelchau mit W. Geerlings. Hrsg. u. für die endgültige Fassung redigiert von J. Götte. 2., erg. Aufl.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1995. XXXIX, 613 S. gr. 8o. ISBN 3-506-75339-8.

Dieses Buch aus der Feder eines der bedeutendsten französischen Patristiker dieses Jh.s (1904-1977) bedarf eigentlich - auch gegenüber einem deutschen Lesepublikum - keiner Vorstellung mehr: Es ist - unter dem Titel "Saint Augustin et la fin de la culture antique" 1938 erstmals publiziert - längst ein Klassiker und gehört in die Bibliothek jedes ernsthaften Augustin-Lesers. 1958 erschien es in der 4. Auflage, ergänzt um eine bemerkenswerte Retractatio, in der sich der Vf. als sein schärfster Rezensent erwies. Eine deutsche Übersetzung folgte mit einiger Verzögerung im Jahre 1981. Die hier anzuzeigende Veröffentlichung ist ein (offenbar unveränderter) Nachdruck dieser deutschen Ausgabe von 1981, erweitert durch ein einführendes Vorwort von Willi Geerlings und einen Nachtrag zur Bibliographie (die 1981 ihrerseits gegenüber der französischen Fassung bereits ergänzt worden war).

Die Übersetzung ist sehr gut lesbar. Ergänzungen aus M.s eigener Hand konnten noch eingearbeitet werden, sind aber offenbar nicht kenntlich gemacht (so z.B. 490, Anm. 29 [?]). Einige Zusätze stammen ferner vom Herausgeber. (Auch sie sind nicht deutlich markiert; so 490, 1. Absatz: Wo beginnt das Addendum?)

Willi Geerlings stellt in seiner neuen Einleitung über "M. und die neuere Augustinforschung" (XIII-XXVIII) die Absicht und die Leistungen dieses Augustin-Buches dar, ordnet es in seinen historischen Kontext ein und benennt einige Punkte, in denen die Forschung über M. hinausgegangen ist, v.a. hinsichtlich der Rezeption antiker Autoren (z. B. in den Arbeiten von M. Testard, H. Hagendahl und E. Feldmann) sowie im Hinblick auf das augustinische Bildungsideal in seinem spätantiken Kontext (I. Hadot, Ch. Gnilka, P. Prestel).

Dabei wird man ihm in vielem zustimmen. Unklar ist mir allerdings nach der Lektüre, ob Geerlings M.s Wertung des 4./5. Jh.s als einer Epoche des Niedergangs übernimmt (so S. XIV, wo er M.s Einschätzung Augustins als eines "Gebildeten der Verfallszeit" ausdrücklich zustimmt; ferner S. XX, wo er von der "sterbenden Kultur" der Spätantike spricht) oder ob er der in den letzten Jahrzehnten "in der Alten Geschichte anwachsenden Sicht" folgt, "das dritte und vierte Jahrhundert sei nicht als eine Epoche des Verfalls, sondern vielmehr als schöpferisch anzusehen" (XXVIII).

Was die Weiterführungen über M. hinaus angeht, so ist Geerlings' Auswahl notgedrungen selektiv, und es wären auch andere Gewichtungen bzw. Ergänzungen denkbar.

Von größter Bedeutung sind dabei mehrere sozialgeschichtliche Arbeiten zur Epoche Augustins und ihm selbst, da sie wesentlich dazu beitragen, den sozialen "Sitz im Leben" der Erziehung des Bischofs von Hippo sowie des von ihm propagierten hermeneutischen und pädagogischen "Programms" präziser zu bestimmen, als dies bei M. geschieht, und so den von Geerlings genannten, vorwiegend philologisch sowie geistesgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten ergänzend an die Seite treten. Ich nenne nur G. Anderson, The Second Sophistic. A Cultural Phenomenon in the Roman Empire, London/New York 1993; G. W. Bowersock, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969; ders. (Hg.), Approaches to the Second Sophistic. Papers Presented at the 105th Annual Meeting of The American Philological Association, University Park, Pennsylvania 1974; P. Brown, Power and Persuasion in Late Antiquity. Towards a Christian Empire, Madison 1992 (The Curti Lectures 1988); A. Cameron, Christianity and the Rhetoric of Empire. The Development of Christian Discourse, Berkeley etc. 1991 (Sather Classical Lectures 55); H. Chadwick, Augustine on Pagans and Christians: Reflections on Religious and Social Change, in: D. Beales/G. Best (Hgg.), History, Society and the Churches: Essays in Honour of Owen Chadwick, Cambridge 1985, 9-27; E. A. Clark, Jerome, Chrysostom, and Friends. Essays and Translations, New York/Toronto 1979 (SWR 2); R. A. Kaster, Guardians of Language: The Grammarian and Society in Late Antiquity, Berkeley etc. 1988 (The Transformation of the Classical Heritage 11); C. Krumeich, Hieronymus und die christlichen feminae clarissimae, Bonn 1993 (Habelts Dissertationsdrucke, Reihe Alte Geschichte 36); F. Morgenstern, Die Briefpartner des Augustinus von Hippo. Prosopographische, sozial- und ideologiegeschichtliche Untersuchungen, Bochum 1993 (Bochumer historische Studien/Alte Geschichte 11); E. Pack, Sozialgeschichtliche Aspekte des Fehlens einer "christlichen" Schule in der römischen Kaiserzeit, in: W. Eck (Hg.), Religion und Gesellschaft in der römischen Kaiserzeit. Kolloquium zu Ehren von Friedrich Vittinghoff, Köln/Wien 1989 (KHAb 35), 185-263; G. Petersen-Szemerédy, Zwischen Weltstadt und Wüste: Römische Asketinnen in der Spätantike. Eine Studie zu Motivation und Gestaltung der Askese christlicher Frauen Roms auf dem Hintergrund ihrer Zeit, Göttingen 1993 (FKDG 54); S. Rebenich, Hieronymus und sein Kreis. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1992 (Historia 72); C. White, Christian Friendship in the Fourth Century, Cambridge 1992.

Ferner könnte man auf den schon seit den zwanziger Jahren unterschwellig spürbaren und jetzt immer stärker zutage tretenden Einfluß von psychoanalytischen und psychohistorischen methodischen Ansätzen hinweisen, über die A. Schindler soeben auf der Twelfth International Conference on Patristic Studies im August 1995 in Oxford kritisch berichtet hat. Sie sind nicht zuletzt für die Frage von Augustins Bekehrung (dazu M., 141-162, 487-489) auch dann von Bedeutung, wenn man ihren Ergebnissen nicht durchweg zustimmen mag. Entsprechende Arbeiten haben z. B. vorgelegt: R. Brändle/ W. Neidhart, Lebensgeschichte und Theologie. Ein Beitrag zur psychohistorischen Interpretation Augustins, ThZ 39 (1983), 157-180; D. Capps/ J. E. Dittes, The Hunger of the Heart. Reflections on the Confessions of Augustine, Purdue University, West Lafayette 1990 (SSSR); J. Chomarat, Les "confessions" de saint Augustin, Revue Française de Psychanalyse 52 (1988), 153-174; E. R. Dodds, Augustine's Confessions: A Study of Spiritual Maladjustment, HibJ 26 (1927/28), 459-473; Ch. A. Kligerman, Psychoanalytic Study of the Confessions of St. Augustine, Journal of the American Psychoanalytic Association 5 (1957), 469-484; B. Legewie, Augustinus. Eine Psychographie, Bonn 1925; J. J. O'Meara, Virgil and Saint Augustine. The Roman Background to Christian Sexuality, Augustinus 13 (1968), 307-326; F. Troncarelli, Il ricordo della sofferenza. Le Confessioni di Sant'Agostino e la psicoanalisi, Neapel 1993; R. West, Saint Augustine, London 1933.

Der Nachtrag zum Literaturverzeichnis ist zwar umfangreich, und man wird Vollständigkeit bei einem fast übererforschten Autor wie Augustin ohnehin nicht erwarten können, aber es fehlen doch einige wichtige neuere Publikationen, die für die von M. behandelte Thematik einschlägig sind.

Hier wäre etwa zu verweisen auf die neuesten Augustin-Gesamtdarstellungen in deutscher Sprache von A. Schindler (in der TRE), H. Chadwick und E. Dassmann. Ein wertvoller Gesamtüberblick über Augustins Theologie findet sich auch in dem Beitrag von E. Mühlenberg im ersten Band des Handbuchs der Dogmen- und Theologiegeschichte, 406-463.

Zu spät für das vorliegende Buch kamen J. M. Rist, Augustine. Ancient Thought Baptized, Cambridge 1994 und C. Horn, Augustinus, München 1995 (Beck'sche Reihe 531). Auch ist K. Flaschs auf S. 573 erwähntes Augustin-Buch 1994 in einer erweiterten Auflage erschienen.

Für Bildung und Hermeneutik Augustins sind ferner einschlägig: K. Eden, The Rhetorical Tradition and Augustinian Hermeneutics in De doctrina christiana, Rhetorica 8 (1990), 45-63; P. Gorday, Principles of Patristic Exegesis. Romans 9-11 in Origen, John Chrysostom and Augustine, New York/Toronto 1983 (Studies in the Bible and Early Christianity 4); R. Hennings, Der Briefwechsel zwischen Augustinus und Hieronymus und ihr Streit um den Kanon des Alten Testaments und die Auslegung von Gal 2,11-14, Leiden etc. 1994 (VigChr.S 21); Kathleen Jamieson, Jerome, Augustin and the Stesichoran Palinode, Rhetorica 5 (1987), 353-367; A. M. Kleinberg, De Agone Christiano: The Preacher and His Audience, JThS 38 (1987), 16-33; D. G. Marshall, Making Letters Speak. Interpreter as Orator in Augustine's De doctrina christiana, Religion & Literature 24 (1992), 1-17; R. McMahon, Augustine's Prayerful Ascent. An Essay on the Literary Form of the Confessions, Athen/London 1989; J. McWilliam (Hg.), Augustine: From Rhetor to Theologian, Waterloo, Ontario 1992; J. O'Donnell, Augustine - Confessions. Edited with Commentary, 3 Bände, Oxford 1992, bes. Bd. II, 269-278; S. Rebenich, Augustinus im Streit zwischen Symmachus und Ambrosius um den Altar der Victoria, Laverna 2 (1991), 53-75; M. Vincent, Saint Augustin maître de prière d'après les Enarrationes in Psalmos, Paris 1990 (ThH 84); B. R. Voss, Vernachlässigte Zeugnisse klassischer Literatur bei Augustin und Hieronymus, Rheinisches Museum für Philologie 112 (1969), 154-166. Ganz neu erschienen zwei Aufsatzsammlungen zu "De doctrina christiana" (non vidi): E. D. English (Hg.): Reading and Wisdom. The "De Doctrina Christiana" of Augustine in the Middle Ages, Notre Dame 1995; D. W. H. Arnold (Hg.), De Doctrina Christiana. A Classic of Western Culture, Notre Dame 1995.

Nicht erwähnt werden schließlich wichtige neuere lexikalische Hilfsmittel wie die "Specimina eines Lexicon Augustinianum" (SLA), das Augustinus-Lexikon sowie der Thesaurus Augustinianus. Als soeben erschienener Nachtrag ist das von C. Mayer edierte Corpus Augustinianum Gissense auf CD-ROM (Basel 1995) zu nennen, eine Datenbank aller bisher bekannten Werke Augustins.

Das Buch ist zwar schön gebunden, aber sehr nachlässig lektoriert. Die Anzahl der Druckfehler ist beträchtlich.

Dazu nur einige wenige Beispiele: S. XV, Anm. 7 muß es K. (für Klaus) statt W. Thraede heißen; S. XXI, Anm. 20 ist der Titel des Buches von I. Hadot, Arts libéraux et philosophie dans la pensée antique, Paris 1984 verdruckt (ebenso im Nachtrag zur Bibliographie, 591). S. XXIII, 4. Z. v. u. muß Caracalla statt Caracella stehen.

Nachgerade ärgerlich ist es, wenn Literaturhinweise, die in der Einleitung zu dieser Neuausgabe gegeben werden, in der Bibliographie am Ende nicht wieder auftauchen (so etwa das S. XVIII, Anm. 14 genannte Buch von E. Feldmann oder die S. XIX, Anm. 15 zitierte Arbeit von H. Hagendahl) und wenn die Rückverweise in der Retractatio auf die (römisch bezifferten) Seiten der Einleitung M.s nicht korrigiert wurden, die sich nämlich jetzt durch die hinzugefügte Einleitung von Geerlings verschoben haben (so etwa S. 487, wo es richtig "S. XXXVII(14)" [statt: "XXI(14)"] und "S. XXXIX" [statt "XXIII"] heißen muß; an den übrigen Stellen sind die Seitenzahlen entsprechend zu berichtigen).

Henri-Irénée Marrou gehörte zu den so seltenen Gelehrten, denen es allein um die Sache geht und die um der Sache willen die eigene Person hintanstellen. So warf er den Kritikern seines Buches vor, sie seien "viel zu wohlwollend mit einer Arbeit gewesen, die schließlich von einem Anfänger stammte und obendrein noch etwas eilig konzipiert war" (484). Quelle humilité!