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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

682 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Krumwiede, Hans-Walter

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Niedersachsens. Bd. II: Vom Deutschen Bund 1815 bis zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1948.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XI, 360 S. m. 46 Abb. gr. 8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-525-55432-X.

Rezensent:

Heinrich Holze

Nach dem ersten Teilband, der den Zeitraum von der Sachsenmission bis zum Ende des Deutschen Reichs umfaßt und bereits vorgestellt wurde (vgl. ThLZ 121, 1996, 841 f.), ist nunmehr der zweite Teilband der Kirchengeschichte Niedersachsens an-zuzeigen, in dem Hans-Walter Krumwiede seine Darstellung in drei großen Kapiteln bis zum Neuanfang nach Ende des Zweiten Weltkrieges fortsetzt.

Zunächst wird "das niedersächsische Christentum von den Befreiungskriegen bis zum Ersten Weltkrieg" behandelt (Vierter Teil). K. schildert die Neuordnung der Kirchen nach dem Ende der napoleonischen Besetzung sowie ihre Prägung durch Erweckung und Neukonfessionalismus. Persönlichkeiten wie F. Lücke und L. A. Petri werden besonders vorgestellt. An den sich um die kirchliche Bindung des Vereinswesens, um die Einführung eines neuen Landeskatechismus sowie um die Lehrfreiheit der theologischen Fakultät Göttingen entzündenden Kontroversen werden die theologischen Brennpunkte in der Mitte des 19. Jh.s aufgezeigt.

Wichtig ist die Einführung einer Kirchenvorstands- und Synodalordnung in Hannover als Ausdruck dafür, daß sich unter preußischer Herrschaft die Stellung der evangelischen Kirche allmählich verselbständigt. Der Kulturkampf in den siebziger Jahren führt zur Separation von Hermannsburger Gemeinden. Die soziale Herausforderung wird von mehreren Seiten be-leuchtet. Interessant ist der Hinweis auf Friedrich Engels, der in den frühen vierziger Jahren im Haus des bremischen Er-weckungspredigers Treviranus lebte. Das Wirken Gerhard Uhlhorns, des bedeutendsten Vertreters des hannoverschen Luthertums in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, kommt ausführlich zu Wort. Unter Bezugnahme auf Feldforschungen wirft Krumwiede ein differenziertes Licht auf das Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung sowie auf die mit der Säkularisierung gegebene Entkirchlichung.

Im folgenden Abschnitt stehen die "evangelische Kirche und Theologie in Niedersachsen während der Weimarer Republik" im Mittelpunkt der Darstellung (Fünfter Teil). K. erläutert die theologischen Problemstellungen am Beispiel der Göttinger Fakultät, in der Emanuel Hirsch für den nationalprotestantischen Flügel, Arthur Titius für den Evangelisch-Sozialen Kongreß und Karl Barth für die dialektische Theologie stehen. Er schildert das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments, die Einführung neuer Verfassungsstrukturen in den niedersächsischen Kirchen und ihre Auswirkungen auf die Stellung der Kirche in der Schule. Schließlich wird der Umbruchsprozeß auf der Ebene der Gemeinde dargestellt, wo die Kirchlichkeit zwar ab-nimmt, an der religiösen Erziehung der Kinder aber festgehalten wird. Der Pfarrerstand erweist sich von seiner sozialen Herkunft her als politisch konservativ, doch spiegelt sich in seinen unterschiedlichen Zusammenschlüssen ein weites konfessionelles bzw. theologisches Spektrum wider.

Im letzten Kapitel behandelt K. "die niedersächsischen Landeskirchen im Hitler-Reich" (Sechster Teil). Detailliert arbeitet er die Verflochtenheit der niedersächsischen Kirchen in die allgemeine Entwicklung im Reich heraus, zeigt aber gleichzeitig die besonderen Umstände in den Landeskirchen von Hannover (luth. und ref.), Braunschweig, Schaumburg-Lippe, Oldenburg und Bremen auf und erhellt die situationsbedingte Komplexität des Kirchenkampfes. Eindrucksvolle Persönlichkeiten der Be-kennenden Kirche werden vorgestellt (J. Bosse in Hannover, H. Lachmund in Braunschweig, G. Greiffenhagen in Bremen, F. Middendorff in Bentheim, J. Behrens in Stade).

Wichtig ist K.s Hinweis, daß angesichts der hannoverschen Situation die üblich gewordene Unterscheidung von "intakten" und "zerstörten" Kirchen zu kurz greift. Auf dem Hintergrund der in den letzten Jahren neu aufgebrochenen Kontroverse um Leben und Wirken von Landesbischof Marahrens ist seine gründliche und umsichtige Analyse hilfreich und klärend. Dankbar liest man auch Krumwiedes Ausführungen zur Frage des Verhältnisses von Kirche und Judentum. Die Rolle der theologischen Fakultät Göttingen (E. Hirsch, J. Hempel, O. Weber, J. Jeremias, H. Dörries) und ihr Einfluß auf den niedersächsischen Kirchenkampf werden eingehend beleuchtet.

Insgesamt zeichnet K.s Darstellung eine ausgewogene Verbindung der allgemeinen und der regionalen Kirchengeschichte aus. Ihm gelingt es, vom Ganzen den Blick auf das Detail zu richten, im Detail aber das Ganze deutlich werden zu lassen. Hervorzuheben ist die Einbeziehung sozialgeschichtlicher Fragestellungen.

Die Geschichte der katholischen Kirche dieses Zeitabschnittes wird, wie Krumwiede im Vorwort schreibt, "aus Zeit-, Umfangs- und gesundheitlichen Gründen" weitgehend ausgeklammert, doch kann dafür auf bereits vorliegende Veröffentlichungen von Hans-Georg Aschoff (u. a. in: Geschichte Niedersachsens, hrsg. von Hans Patze, Hildesheim 1983, 217-259) verwiesen werden. K. bezeichnet seine Darstellung als ein "für Leser und nicht für professionelle Forscher geschriebenes Buch" (585). Dies ist ihm gelungen. Die Darstellung läßt sich gut, bisweilen sogar spannend lesen.

Daß er auf Anmerkungen zum fortlaufenden Text verzichtet, wird aufgewogen durch eine ausführliche und kommentierte Bibliographie ("Zugänge zu Quellen und Literatur"). Ein beide Teilbände umfassendes Personenregister beschließt den zweiten Teilband. Zu wünschen ist bei einer sicher zu erwartenden Neuauflage des Gesamtwerks auch ein Sachregister, das mit thematischen Stichworten die Querverbindungen erschließt.

Nach Gerhard Uhlhorns "Hannoversche(r) Kirchengeschichte" von 1902 und Johannes Meyers "Kirchengeschichte Niedersachsens" von 1939 hat K. mit seiner großen Darstellung den Forschungsertrag eines Jahrhunderts an dessen Ausgang zusammengefaßt und zugleich zahlreiche Hinweise gegeben, an welchen Stellen in der Forschung weitergearbeitet werden muß. Die evangelischen Kirchen in Niedersachsen werden es ihm danken.