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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

841 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Krumwiede, Hans-Walter

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Niedersachsens. 1: Von der Sachsenmission bis zum Ende des Reiches 1806.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 271 S. m. 33 Abb. gr.8o. DM 38,-. ISBN 3-525-55431-1.

Rezensent:

Heinrich Holze

Nach Gerhard Uhlhorns Hannoverscher Kirchengeschichte von 1902 (Nachdruck 1988) und Johannes Meyers Kirchengeschichte Niedersachsens von 1939 liegt nun aus der Feder des Göttinger Kirchenhistorikers eine neue Gesamtdarstellung, "eine Art Ploetz für die Kirchengeschichte Niedersachsens" (8), vor. Hans-Walter Krumwiede hat darin die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschungen und - was den hier vorzustellenden ersten Teilband betrifft - einen in der von Hans Patze hg. Geschichte Niedersachsens Bd. III/2 (1983) vorgelegten Über-blick über die evangelische Kirche in der Zeit von der Reformation bis 1803 verarbeitet, wobei jetzt auch die Geschichte der römisch-katholischen Kirche in die Darstellung einbezogen ist. Dem Charakter des Handbuchs entsprechend hat K. einen chronologischen Aufbau gewählt, der mit der "Christliche(n) Kirche im mittelalterlichen Niedersachsen" einsetzt (17-104), mit der "Reformation", der "Entstehung und (dem) Kampf der Konfessionen" fortfährt und schließlich die Entwicklung "vom westfälischen Frieden bis zum Ende des christlichen deutschen Reiches" (191-268) darstellt. Durchgängig wird die spezielle in die allgemeine Kirchengeschichte eingeordnet, wodurch das für Niedersachsen Kennzeichnende und seine Verflochtenheit mit überregionalen Entwicklungen heraustritt.

Dies zeigt sich im frühen Mittelalter an der angelsächsischen Mission unter den Friesen (20-23) wie auch an der Christianisierung der Sachsen, die Karl d. Gr. in das fränkische Reich eingegliedert und damit die Weichen für die Entstehung des christlichen Abendlandes gestellt hat (24-26). Umgekehrt beginnt mit Ansgar von niedersächsischem Boden aus die Skandinavienmission (43-50). Wichtigstes literarisches Werk dieser Zeit ist der Heliand, die erste Darstellung des Lebens Jesu in (altnieder)deutscher Sprache (50-56). Mit Heinrich I. wird ein Sachse König des nunmehr selbständigen ostfränkischen Reiches (56-58); unter Otto I., seinem Sohn und Nachfolger, wird die Kirche, für die in Niedersachsen die Bischöfe Bernward und Godehard von Hildesheim stehen, zu einem strukturellen Element der Reichspolitik (58-70). Heinrich der Löwe eröffnet ihr mit seiner Ostkolonisation ein neues Missionsgebiet unter den Slaven (71-80). Die Zisterzienser haben in allen Teilen des ländlichen Niedersachsen gewirkt und zahlreiche Klöster u. a. in Amelungsborn, Loccum und Riddagshausen gegründet (81-86). Von den Bettelorden sind es vor allem die Franziskaner, die in den aufblühenden Städten des 13. Jh.s. ihre Spuren hinterlassen haben (86-95). Die aus der Devotio moderna hervorgegangenen Reformbewegungen von Windesheim und Bursfelde markieren den Ausgang des Mittelalters (95-104).

Die Reformation ist in Niedersachsen sowohl ein städtisches (Disputationen) als auch ein territoriales Ereignis (Visitationen). Während in Städten wie Göttingen, Hannover und Braunschweig die Magistrate die Einrichtung des evangelischen Kirchenwesens übernehmen, setzt sich in den weltlichen Territorien das landesherrliche Kirchenregiment durch; in geistlichen Territorien wie Osnabrück, Minden und Hildesheim behauptet sich der katholische Glaube (105-155). Die Reformatoren kommen, da eine Landesuniversität noch nicht besteht, zumeist von außerhalb, unter ihnen J. Bugenhagen, Verfasser zahlreicher Kirchenordnungen. Humanistisch-reformierter Einfluß zeigt sich v. a. in Nordwestdeutschland (Emden). Radikale Reformatoren finden nur wenig Resonanz; A. Karlstadt, M. Hofmann und Menno Simons in Friesland bleiben Ausnahmen (163-166). Für die niedersächsischen Klöster bedeutet die Reformation eine tiefe Zäsur, einige bestehen aber als evangelische Konvente, u.a. in Loccum, Bursfelde und Fischbeck, fort. Ausdruck der konfessionellen Konsolidierung ist schließlich die Gründung der Universität Helmstedt, in der sich humanistischer Geist und irenisches Luthertum verbinden (180-186).

Das Wirken Johann Arndts, in dem sich eine verinnerlichte, auf das Leben gerichtete Frömmigkeit ankündigt, reicht bereits in die Frühe Neuzeit hinein. Kennzeichend für sie ist Georg Calixt, Professor an der Universität Helmstedt. Seine irenische, an altkirchliche Traditionen anknüpfende Theologie gewinnt in Niedersachsen einen bis in das 19. Jh. reichenden Einfluß. Indem sie sich jeder streitbaren Orthodoxie widersetzt, bereitet sie den Boden für die zwischen G. W. Leibniz und J. B. Bos-suet geführten Reunionsverhandlungen. An sie anknüpfend entwickelt G. W. Molanus den Gedanken eines evangelischen Mönchtums (198-225). Auch die Tatsache, daß der Pietismus nur im Harz und in Ostfriesland Einfluß erlangt, im übrigen aber eine geringe Rolle gespielt hat, erklärt sich aus der Vorherrschaft des Calixtinimus (225-239). Das wichtigste Ereignis der Aufklärung ist die Gründung der Universität Göttingen, deren Geist der Lehr- und Gewissensfreiheit zu einer Blüte der historischen und philologischen Disziplinen führt. Zu ihren Lehrern gehört J. L. von Mosheim, der ,Vater der modernen Kirchengeschichtsschreibung' (239-250). Daß es unter der Oberfläche der maßvollen niedersächsischen Aufklärung aber auch radikale Stimmen gegeben hat, zeigen die Reimarus-Fragmente, deren Veröffentlichung der in Wolfenbüttel wirkende G. E. Lessing mit dem Entzug der Zensurfreiheit bezahlen mußte (255). Die Auswirkungen der Französischen Revolution auf das religiöse und kirchliche Leben Niedersachsens bilden den Abschluß dieses Bandes.

K. zeigt, wie der anfänglichen Zustimmung (Freiherr von Knigge, J. H. Campe) eine um so deutlichere Kritik (G. Menken, G. J. Planck) folgt, die schließlich in die Befreiungskriege einmündet (262-268).

Der Leser dieser neuen Kirchengeschichte Niedersachsens wird mit vielen Einsichten, die weit über die Region hinaus Gewicht haben, belohnt. Das zeigt noch einmal die Notwendigkeit der regionalgeschichtlichen Forschung und bestätigt die Feststellung des Vf.s, "daß ein historisches Arbeiten an ihren Ergebnissen vorbei nicht mehr möglich ist." (15) Das baldige Erscheinen des zweiten bis in die Gegenwart reichenden Teilbandes ist darum zu wünschen, zumal der Leser dieses ersten Teilbandes auf Anmerkungen und Textnachweise ebenso wie auf Register und Literaturangaben (nur ein Verzeichnis der Abbildungen ist beigefügt) verzichten muß. Dem Vf. sei für ein wichtiges Werk, dem viele Leser zu wünschen sind, gedankt.