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Ausgabe:

Mai/1996

Spalte:

448–452

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Neusner, Jacob [Ed.]

Titel/Untertitel:

Judaism in Late Antiquity. I: The Literary and archaeological Sources. XIV, 276 S. II: Historical Syntheses. XIV, 318 S.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. gr.8o = Handbuch der Orientalistik. 1. Abt.: Der Nahe und Mittlere Osten, 16 u. 17. Lw. Nlg. 140,-. und 200,-. ISBN 90-04-10129-2 u. 90-04-10130-6.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Was kann man von einem Handbuch erwarten, das in zwei nicht sehr dicken Bänden "spätantikes Judentum" behandelt? Nach dem Vorwort des Hg.s (das merkwürdigerweise abgesehen von wenigen Absätzen und Formulierungen, die aber nicht eigens gekennzeichnet sind, wortgleich beiden Bänden voransteht, jeweils VII-XIV(1)) zweierlei: 1. eine Vorstellung der Quellen, gedacht für Forscher aus den Nachbardisziplinen (erwähnt werden AT, NT, Alte Geschichte, Orientalistik, Alte Kirchengeschichte und Religionsgeschichte), die sich über den betreffenden Forschungsstand informieren wollen, und 2. eine Einfüh-rung in Grundfragen ihrer Interpretation durch systematische und historische Rekonstruktion der jeweils zugrundeliegenden religiösen Konzeption. Entsprechend sind 16 Beiträge von 15 Autoren auf zwei Bände verteilt.

Das Werk ist in vergleichsweise rasantem Tempo entstanden. Vom Hg. im Sommer 1992 geplant, 1994 in die offiziellen Bibliothekskataloge eingetragen, war es im Frühjahr 1995 bei der ThLZ! Das sind Publikationszeiträume, von denen die Autoren ähnlicher Sammelwerke wohl niemals träumen würden. Von daher kann der Leser hier wirklich aktuelle Informationen über den Forschungsstand erwarten. Diese Erwartung wird auch nicht enttäuscht, andere aber schon, und zwar auch vom Hg. selbst geweckte. Ich jedenfalls hatte von einem Band im "Handbuch der Orientalistik" zumindest eine klare Definition des behandelten Gebietes und seine Abgrenzung nach Zeit und Raum, eine Einführung in seine historischen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen, eine gewisse Vollständigkeit beim Überblick über die Quellen sowie ausgewogene bibliographische Informationen erwartet.

Ein Grundproblem des Werkes ist durch das unscharfe und mißverständliche Titelstichwort "Late Antiquity" signalisiert. Im Vorwort bestimmt der Hg. den Gegenstand des ersten Bandes zunächst als "the principal sources for the study of the Judaism of the dual Torah in its formative age, the first seven centuries C.E. [=A.D.]" (VII). Wenig später heißt es, beide Bände wollen einführen in "the study of Judaism in the time of the beginnings of Christianity and the formation of the Bible, Old and New Testament together" (IX). Wirklich "together"? Beginnend im ersten Jh. n. Chr. (AT!)? Und dann sieben Jahrhunderte lang? Schließlich erfahren wir im Vorwort zu Bd. 2 (nur dort, VIII), daß "the sources and syntheses in this handbook address Judaic systems after 70", obgleich im unmittelbar vorangehenden Absatz auf die Kapitel zum hellenistischen Judentum und zu Qumran verwiesen wird, anschließend aber die Behandlung der Evangelien einer ausdrücklichen Begründung zu bedürfen scheint. Nehmen wir also die Frage nach dem behandelten Zeitraum zum Anlaß, die Einzelbeiträge und ihre Autoren vorzustellen!

In Bd. 1 folgt auf eine Einleitung von W. S. Green (The Scholarly Study of Judaism and Its Sources, 1-10) unter der Rubrik "Judaism Outside of Rabbinic Sources" zuerst der Beitrag von G. Stemberger: Non Rabbinic
Literature (13-39). Er beschränkt sich ausdrücklich auf "texts which are certain to be Jewish and post-70" (14), also auf "non-rabbinic Jewish literature in the rabbinic period" (38). Eine solche Eingrenzung, die sachlich kaum zu rechtfertigen ist, mag auf entsprechende Vorgaben des Hg.s zurückgehen. Sie führt jedenfalls dazu, daß zwar Josephus, nicht aber Philo, zwar IVEsr und syrBar, aber nichts aus der gesamten Henoch-Literatur, zwar das LibAnt, aber weder JosAs noch die Makkabäerbücher, zwar die Sibyllinen, aber nicht Jub, PsSal, TestXII, Weish, Pseudo-Phokylides und all die anderen jüdisch-hellenistischen Quellen behandelt werden. Dafür kommen ausführlich das Sefer Yesira, die Hekhalot-Literatur sowie jüdische Quellen zur Magie zur Sprache. Auch der nächste Beitrag von P. V. M. Flesher (The Targumim, 40-63) scheint der Abgrenzung auf die Zeit nach 70 zu folgen, wenngleich er bei der Rekonstruktion der Geschichte der Targum-Kompositionen als erste Stufe die Qumran-Funde berücksichtigt. Im Beitrag von J. F. Strange (The Art and Archaeology of Ancient Judaism, 64-114), der weitgehend auf den palästinischen Raum konzentriert ist, kommen dagegen u.a. ausführlich der Jerusalemer Tempel, die hasmonäischen und herodianischen Palastbauten und Festungen, die Qumran-Siedlung sowie private Häuser und Villen im unzerstörten Jerusalem zur Sprache. Der Abschnitt zur Kunst beginnt mit Münzprägungen aus der frühen Perserzeit und führt über herodianische Mosaiken und Reliefs bis zu den Wandmalereien von Dura Europos und Mosaikfußböden mit Tierdarstellungen in Synagogen des 6. Jh.s n. Chr.



Natürlich umfassen die Beiträge der folgenden Rubrik "Rabbinic Sources" (J. Neusner: Defining Rabbinic Literature and Its Principal Parts, 117-172; A. J. Avery-Peck: The Mishnah, Tosefta, and the Talmuds. The Problem of Text and Context, 173-216; G. G. Porton: Rabbinic Midrash, 217-236) den o. g. Zeitraum. In diese Rubrik gehört als einziger, aber gleichzeitig längster Beitrag aus Bd. 2 noch J. Neusner: Rabbinic Judaism. Its History and Hermeneutics (161-225). Bd. 1 wird abgeschlossen durch einen einzigen Beitrag unter der Rubrik "Written Evidence of Synagogue Life", in dem L. A. Hoffman zum Thema Jewish Liturgy and Jewish Scholarship (239-266) zunächst die Forschungsgeschichte seit dem 19. Jh. skizziert und dann Entwicklungen jüdischer Liturgie von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart beschreibt.

Auch im zweiten Band, bei den systematisch-historischen Rekonstruktionen, wird der Zeitraum der ersten sieben Jahrhunderte zwangsläufig ständig überschritten. Eröffnet wird er durch I. Gruenwald mit einer Darstellung zur jüdischen Mystik, in deren Mittelpunkt die mittelalterlichen Zeugnisse der Kabbala stehen (Major Issues in the Study and Understanding of Jewish My-sticism, 1-49). Der durch das Stichwort "Late Antiquity" gesetzte Rahmen wird hier (wie schon bei Hoffman) vollends gesprengt. Unter der Rubrik "Ju-daic Systems Other Than Rabbinic" setzt L. L. Grabbe (Hellenistic Judaism, 53-83) bei der Hellenisierung des Nahen Ostens durch Alexander den Großen ein, für die Diaspora sogar schon mit Elephantine im 6. Jh. v. Chr., und führt die Darstellung bis zu Josephus und Eupolemus. J. Maier (The Judaic System of the Dead Sea Scrolls, 84-108) vertritt ebenfalls keine Datierung der Qumran-Schriften nach 70, sondern wertet sie aus als "the only available documents from this time that explain the self-understanding of a concrete Jewish group before 70 A.D.". (86) J. A. Goldstein (The Judaism of the Synagogues [Fo-cusing on the Synagogue of Dura-Europos], 109-155 mit 3 Abb.) interpretiert dagegen ausschließlich Zeugnisse aus der im Untertitel genannten Synagoge.

Unter der letzten Rubrik "Special Topics" behandelt J. D. G. Dunn das Thema "Judaism in the Land of Israel in the First Century" (229-261) und bezieht dabei neben den "vier Philosophien" des Josephus auch die Jesus-Bewegung, apokalyptische Gruppen sowie die Samaritaner in die Darstellung ein. Dabei ist offenkundig vor allem die Zeit vor der Tempelzerstörung im Blick. B. Chilton (Jesus within Judaism, 262-284) bespricht neben seinem eigenen eine Reihe weiterer neuerer Versuche zur Einordnung Jesu in jüdische Gruppierungen bzw. Strömungen seiner Zeit (Vermes, Borg, Sanders, Crossan, Horsley, Meier). Im letzten Kapitel wiederholt G. Boccaccini (History of Judaism: Its Periods in Antiquity, 285-308) seinen Vorschlag, die jüdische Geschichte in einem Periodenschema zu gliedern, das vom
6. Jh. v. Chr. bis in die Gegenwart reicht.

Die unklare Konzeption und Abgrenzung der behandelten Gebiete führt somit zu bedauerlichen Lücken und gelegentlichen Widersprüchen. So werden zwar die Targume behandelt, nirgends aber die griechischen Bibelübersetzungen. Die Ar-chäologie kommt für Palästina ausführlich zur Sprache, nicht aber die archäologischen Zeugnisse der Diaspora und das ganze Gebiet der Epigraphik. Auf die Lücken bei den literarischen Quellen wurde schon hingewiesen. Die bibliographischen Hinweise schwanken zwischen detailliert (Strange, Avery-Peck, Chilton), auf das Wesentliche konzentriert (Stemberger, Grabbe, Maier, Dunn) und sparsam (Flesher, Neusner, Hoffman, Gruenwald). Bei Porton sind nicht einmal die im Text genannten Titel exakt bibliographisch nachgewiesen. Hilfreich sind kurze Diskussionen und Charakterisierungen neuerer Studien und Forschungsansätze, bes. bei Green, Flesher, Neusner (Bd. 2), Avery-Peck, Porton, Hoffman, Grabbe. Ein Gesamt-Literaturverzeichnis gibt es nicht, lediglich je Band ein unzureichendes "General Index" und ein Stellenregister.(2)

Hinsichtlich der Anordnung der Beiträge betont der Hg. einerseits, das frühe Christentum sei ebenso wie Qumran oder das hellenistische Judentum als eine Gestalt des Judentums neben verschiedenen anderen zu betrachten (IX). Andererseits werden aber die frühchristlichen Quellen keineswegs in Bd. 1 ("Sources") vorgestellt, sondern erst unter "Special Topics" in Bd. 2 ("Syntheses"). Damit erweist sich die Einordnung des Urchristentums in die vielfältigen "Judentümer" im 1. Jh. n. Chr. als Lippenbekenntnis! Auch die Rubrizierung der Beiträge beider Bände in "Rabbinic..." und "Other Than Rabbinic..." bzw. "Outside of Rabbinic..." widerspricht im übrigen einer solchen Konzeption.

Die wichtige Frage der Periodisierung thematisieren sowohl Dunn als auch Boccaccini, aber ohne gegenseitige Kommunikation und mit gegenteiligen Ergebnissen. Das Konzept verschiedener "Judentümer" nebeneinander wird vom Hg. stark betont und als charakteristisch für die vorgelegten Bände herausgestellt (X f., XIII). Es wird aber nur von wenigen der Autoren explizit aufgegriffen und allein von Dunn - mit wichtigen Argumenten! - kritisch diskutiert. Bei Boccaccini dagegen wird es im Zusammenhang eines radikal religionswissenschaftlichen Ansatzes bis ins Absurde verabsolutiert, wenn der dritten Periode jüdischer Geschichte ("modern Judaism", von 200 n. Chr. bis heute!) "all the modern branches of Judaism" einschließlich der Samaritaner und des Christentums der Gegenwart eingeordnet werden (303). Die von Dunn in diesem Zusammenhang ausdrücklich gestellte Frage nach dem Selbstverständnis der Glieder verschiedener jüdischer Gruppen (246 ff.) wird von Boccaccini ebenso ausdrücklich als konfessionalistisch abgelehnt (304).

Abschließend muß freilich gebührend herausgestellt werden, daß die meisten Einzelbeiträge hervorragende Einführungen in die behandelten Quellen und ihre Interpretationsprobleme bieten. Es ist dem Hg. tatsächlich gelungen, für jedes Gebiet international führende Gelehrte zur Mitarbeit und zum schnellen Abschluß ihrer Manuskripte zu bewegen. Gerade auch für Neusners eigene Beiträge ist man dankbar, bieten sie doch demjenigen, der nicht auf dem Gebiet der rabbinischen Literatur arbeitet, eine gute Hinführung zu der offenbar methodisch bahnbrechenden Arbeitsweise dieses überaus produktiven Gelehrten. Daß auch Avery-Peck und Porton in ihren Beiträgen immer wieder auf Neusners Ansatz und seine Ergebnisse zu-rückkommen, belegt dessen gegenwärtige Sonderstellung, führt aber auch zu einer gewissen Einseitigkeit bei der Darstellung der rabbinischen Literatur und ihrer Erforschung.

Von den übrigen Beiträgen seien drei noch besonders hervorgehoben: Grabbe stellt das hellenistische Judentum in den größeren historischen und kulturellen Zusammenhang der Hellenisierung der Mittelmeerwelt und betont dabei das dauerhafte Nebeneinander von hellenistischen und orientalischen Elementen, im Gegensatz zur Idee einer "Verschmelzung" beider Kulturen (57). Der Grad der Hellenisierung variierte stark: "If we conceive of Hellenization as a spectrum, ranging from the completely Greek to the completely native, Jews will be found at most points on the spectrum." (71)

Goldstein legt eine eindrucksvoll geschlossene eschatologisch-messianische Interpretation der Bildmotive von Dura Europos vor, die eine eigenständige Konzeption zwischen rabbinischer und mystischer Tradition unter Aufnahme biblischer und frühjüdischer Auslegungstraditionen zu erkennen gibt: "The Jews of Dura... passionately believed in the coming destruction of the oppressive empires that ruled over them, in the destruction of pagan religion, in the liberation of the Jews and their restoration to their homeland, in the coming of the Messiah, in the resurrection of the dead, in God's bestowing of the gift of prophecy upon all Israel." (154)

Dunn versucht unter Berücksichtigung eines möglichst breiten Quellenmaterials (viele der sonst in beiden Bänden vermißten Quellen werden hier wenigstens kurz berührt) sowohl der Vielfalt als auch der Einheit des Judentums im 1. Jh. gerecht zu werden: "What matters is that there was a recognisable genus, 'Judaism', of which there were different species." (251) Als tragende Säulen eines solchen "common Judaism" bzw. "foundational Judaism" bestimmt und beschreibt er den Tempel, den Gottesglauben, den Erwählungsgedanken und die Tora.

Für ein Handbuch hat das vorgelegte Werk zu viele Lücken und Unausgeglichenheiten, als Sammelwerk bietet es aber eine überaus anregende einführende Lektüre in wichtige Arbeitsgebiete der antiken Judaistik.

Fussnoten:

1 Kaum noch als Merkwürdigkeit zu bezeichnen ist es, wenn in diesem Vorwort ein Kapitel angekündigt wird, das man in beiden Bänden vergeblich sucht (Bd. 1, VIII: "We turn to writings of gentile writers and survey how to find out what observers had to say."). Auch die in diesem Zusammenhang angekündigte Kapitelfolge stimmt nicht mit der tatsächlichen überein. Bei einem so renommierten Verlag wie Brill und in einer so renommierten Reihe muß das schon befremden!

2 Von den nicht wenigen Druckfehlern sei wenigstens die Entstellung des verdienstvollen Cambridger Gelehrten und Hg.s der jüdischen Inschriften aus Ägypten, William Horbury, korrigiert (Bd. 1, 69.110).