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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

701–704

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Winter, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Erlanger Theologie und die Lutherforschung im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995. 236 S. 8 = Die Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten, 16. Kart. ISBN 3-579-00137-X.

Rezensent:

Hans Düfel

Die vorliegende Veröffentlichung ist die leicht veränderte und ergänzte Fassung einer Dissertation, die unter dem Titel "Der Beitrag der Erlanger Theologie im 19, Jh. zur Lutherforschung" von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im WS 1988/89 angenommen worden ist.

Der Vf. hat sich zum Ziel gesetzt, "den speziellen Beitrag der Erlanger Theologen für die damals entstehende Lutherforschung zu untersuchen". Da ihre Aussagen über Luther nicht in methodisch-systematischen Abhandlungen gesammelt vorliegen, mußten sie erst herausgezogen werden. Eine knappe Einführung in das Gesamtphänomen der Erlanger Theologie ist der Arbeit vorangestellt, in der über ihre Entstehung und die Persönlichkeiten informiert wird, die der Erlanger Schule das Ge-präge gegeben haben. Am Beginn steht Adolf Harleß. Mit ihm begann 1836 die entscheidende Wende in der Fakultät, die den Durchbruch vom Rationalismus zu einer an das lutherische Be-kenntnis gebundenen Theologie brachte. Das Todesjahr von F. H. Frank 1894 gilt als das Ende jener Epoche, in der Erlangen zum "einzigen Zentrum wurde, welches den konfessionellen Aufbruch zu einer eigenständigen Theologie mit wissenschaftlichen Anspruch zu gestalten vermochte" (Karlmann Beyschlag). In einem eigenen Abschnitt bietet der Vf. einen Überblick über die von den Erlanger Theologen vornehmlich benutzten Lutherausgaben. Das beginnt mit der Walchschen Ausgabe (1740-1753) und reicht über die Erlanger Ausgabe bis zum Erscheinen des ersten Bandes der Weimarer Gesamtausgabe 1883.

Während Harleß und Th. Harnack noch durchweg nach der Walchschen Ausgabe zitierten, haben Hofmann, Thomasius und Frank sich auf die ab 1826 erschienene Erlanger Ausgabe ge-stützt und damit erkennen lassen, daß sie den bestüberlieferten und damaligen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Text zugrunde legen wollten.

Trotz des teilweise unzulänglichen Quellenmaterials gilt die Feststellung der Herausgeber der 1927 auf Veranlassung von Georg Merz erfolgten Neuausgabe der Theologie Luthers von Theodosius Harnack, daß auch die meisten nach Walch zitierten Stellen in der WA nachzuweisen sind und die Übersetzungsfehler sich in den meisten Fällen so in Grenzen halten, daß keine Sinnveränderung zu konstatieren ist.

In einem konzentriert dargebotenen Artikel wird über den Stand der Lutherforschung vor der Erlanger Theologie berichtet. Eingangs weist der Vf. darauf hin, daß nach dem Lutherverständnis der Aufklärung, in der der Reformator als Vorkämpfer für Vernunft und Gewissensfreiheit angesehen wurde, sich erst mit dem Beginn des 19. Jh.s eine Vertiefung und Differenzierung des Lutherbildes anbahnte. Dabei spielten die Befreiungskriege und die daraus erwachsenen Umwälzungen, vor allem aber die Erweckungsbewegung eine entscheidende Rolle. Wichtige Stationen auf dem Weg zu einem neuen Lutherverständnis stellten das Reformationsjubiläum 1817 mit dem Erscheinen der von Claus Harms herausgegebenen zeitgemäß formulierten neuen 95 Thesen sowie der Widerstand lutherischer Theologen gegen die von oben angeordnete Union von Calvinisten und Lutheranern dar. 1816 war bereits zusammen mit J. G. Hamanns Betrachtungen über die Heilige Schrift eine Sammlung von Lutherworten und Schriften von Fr. J. Niethammer erschienen, die viele junge Theologen zu erneuter Beschäftigung mit dem Reformator anregte. Um 1850 begann - etwa zeitgleich mit der Erlanger Theologie - die Spezialforschung mit den Arbeiten von Julius Köstlin. Winter bemerkt, daß der Erlanger Schule wohl die Priorität bei der Erstellung wissenschaftlicher Monographien über Luther zukommt. In der Zeit von 1850-1870 entstand dann ein wirklich vertieftes Verständnis des Reformators. In einem Forschungsbericht wird dargelegt, wie die Erlanger Theologen, die sich immer bewußter als Lutheraner empfanden, den Reformator zu erfassen suchten und in welcher Weise ihre Arbeiten von namhaften Kirchenhistorikern unserer Zeit (u.a. von W. Maurer, W. v. Loewenich, G. Müller, F. W. Kantzenbach) beurteilt worden sind. Dabei stehen Harleß, Hofmann und Th. Harnack im Vordergrund. Zu den bemerkenswerten Einzelheiten gehört u. a. die Tatsache, daß Harleß als erster Theologe im 19. Jh. ein ,Bedürfnis nach ständiger Lutherlektüre' gehabt hat.

Den Hauptteil des Buches bilden sieben Kapitel, in denen die Lutherdeutungen von Harleß, Höfling, Thomasius, Hofmann, Schmid, Th. Harnack und Frank dargestellt werden, wobei Harleß, Hofmann und Th. Harnack - ihrer Bedeutung gemäß - im Mittelpunkt stehen. Der Vf. geht dabei historisch-biographisch vor und zeigt die Entwicklungsstufen in der Lutherdeutung der einzelnen Erlanger Theologen auf. Das geschieht auf der Basis gründlicher Quellenstudien und mit geschickter Verwendung von Zitaten, die nicht nur die ganze Spannweite der Lutherdeutungen aufzeigen, sondern auch ihren historischen Kontext erkennen lassen.

Was das Lutherverständnis von Harleß anbelangt, so konstatiert der Vf., daß er "einen deutlichen Schritt von bloßer unlebendiger Berufung auf Luthers historische Aussagen im rein apologetischen Sinn zur aktualisierenden Lutherrezeption" getan hat und damit zu einer Lutherforschung, "die von einer drängenden Gegenwartsproblematik her offen ist für neue, eventuell überraschende, jedenfalls weiterführende Aussagen des Reformators". Auch wenn Harleß darauf verzichtet hat, die konkret-historischen Situationen der Lutherworte zu untersuchen, so hat er doch seinen eigenen Ansatz von Luther her in Frage stellen lassen und eine Materialsammlung von Aussagen des Reformators erstellt und damit "wichtige Schritte hin zu einer wissenschaftlich reflektierten und methodisch verantworteten Erforschung Luthers unternommen".

Joh. W. F. Höfling (1802-1853), "der erste praktische Theologe von Format" (Kantzenbach), hat sich nur in einer seiner Schriften intensiv mit Luther beschäftigt ("Grundsätze evangelisch-lutherischer Kirchenverfassung"). Winter registriert positiv die Tatsache, daß der Erlanger Theologe zum Problem der Ekklesiologie zentrale Stellen aus Luthers Werken in chronologischer Reihenfolge anführt, um damit zu zeigen, daß Luther seine Grundauffassung in dieser Frage auch später nicht geändert hat. In der Amtsfrage hat Höfling unter Berufung auf den Reformator formuliert: "Das Amt ist nicht von unten oder oben oder durch menschlichen Kollektivwillen eingesetzt, sondern von Gott gestiftet". Bei der Behandlung der Ordination verweist Höfling unter Bezugnahme auf Luther darauf, daß sie auch von der Gemeinde her zu begründen ist und die Amtssukzession abzulehnen sei. Der Vf. bemerkt dazu kritisch, daß Höfling es versäumt habe, auch den anderen Gedanken Luthers, daß Gott hinter der Ordination und dem Amt stünde, zu würdigen und daß diese Auffassung in denselben Schriften Lu-thers, die er anführt, ebenfalls zu finden ist. So bleibt seine Lutherdeutung in dieser Frage doch einseitig.

Bedeutendes hat auch der Dogmenhistoriker und Dogmatiker Gottfried Thomasius (1802-1875) geleistet, dessen Werdegang und theologische Entwicklung mit dem "Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns" (so der Titel einer seiner Schriften) verbunden ist. In seinen Werken geht es immer wieder um eine Rückbesinnung und Auseinandersetzung mit Luthers Schriften. Thomasius nimmt vorwärts weisende Tendenzen in der Theologie Luthers wahr, die bis dahin noch nicht aufgegriffen worden waren und will bewußt für die eigene Dogmatik lernen. Das wird an den wichtigsten dogmatischen Begriffen aufgezeigt.

Der bekannteste Erlanger Theologe des 19. Jh.s ist Joh. Chr. K. v. Hofmann (1810-1877), der die Grundgedanken von Harleß weiterführte. Er-kenntnisgegenstand für seine Theologie ist der Christenmensch. "Ich, der Christ bin mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft". Aus der erfahrenen Wiedergeburt soll das ganze dogmatische System erschlossen und dann an Schrift und Bekenntnis bewährt werden. Hofmann sieht Luthers Verdienst vor allem in seiner von Grund auf erneuerten Schriftauslegung. Der altprotestantischen Orthodoxie wirft er vor, den Glauben als Summe von Glaubensartikeln mißverstanden zu haben, wodurch auch das Schriftprinzip in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Hofmann bezieht sich bei seiner Erfahrungs- und Schrifttheologie direkt auf Luther. Aber auch bei ihm - wie bei den meisten anderen Erlanger Theologen - fehlt der Versuch, die Äußerungen des Reformators aus ihrem zeit- bzw. kirchengeschichtlichen Kontext heraus zu interpretieren oder auf eine mögliche Lehrentwicklung bei Luther einzugehen. W. sieht bei Hofmann ein wesentliches Verdienst für die Lutherforschung darin, daß er die altprotestantische Verengung der Blickrichtung auf den Christus der Passion erweiterte auf den ganzen Lebensweg Christi und damit die Bedeutung des "Christus praesens" und des "Christus in uns" wiedergewonnen hat.

Der Beitrag des Kirchen- und Dogmenhistorikers Heinrich Schmid (1811-1883), dessen Kompendium der altprotestantischen Dogmatik bis heute benutzt wird, bietet mit seinem Werk "Der Kampf der lutherischen Kirche um Luthers Lehre vom Abendmahl im Reformationszeitalter" ein geschichtlich abgesichertes Bild der daran beteiligten Personen und ihrer Auseinandersetzungen. Darin besteht Schmids selbständiger Beitrag zur Lutherforschung.

Mit der Würdigung von Reinhold Frank (1827-1894) endet die Untersuchung. Frank, als Schüler von Harleß und Hofmann bereits ein Erlanger der zweiten Generation, hat sich vor allem in seinem Erstlingswerk "Theologie der Concordienformel" mit dem Reformator als historischem und theologischem Ausgangspunkt der Bekenntnisschriften kritisch auseinandergesetzt. Er behandelt die reformatorischen Grundlehren sowie die Unterschiede zwischen der frühen Orthodoxie und dem Reformator. W. urteilt über Franks Beitrag zur Lutherforschung, daß sich in seinem Werk kein Anzeichen für eine wirklich historische Auseinandersetzung mit dem Reformator finde, sondern nur "ein systematisch motiviertes Heranziehen interessanter Aussagen Luthers", weist aber positiv darauf hin, daß doch zentrale Äußerungen zu den anstehenden Fragen wiedergegeben und z.T. diskutiert werden. Zustimmend zitiert der Vf. Franks "Vademecum für angehende Theologen" (1892), in dem sich der bis heute gültige Ratschlag findet, daß die Beschäftigung mit Luther die wichtigste Bedingung für ein gut geplantes Theologiestudium sei.

Das Gesamtergebnis seiner gründlichen Untersuchungen hat W. so zusammengefaßt: Die wissenschaftliche Bedeutung der hier behandelten Erlanger Theologen besteht darin, daß sie wichtige Theologumena Luthers neu erkannt und interpretiert haben. "Damit hat die Erlanger Theologie mehr vom ganzen Luther erfaßt als die Göttinger Schule, die danach so wirksam werden sollte". Fazit: Der Beitrag der Erlanger Theologen zur Lutherdeutung im 19. Jh. war "eine wichtige theologiegeschichtliche und wissenschaftlich vorwärtsweisende und weiterführende Tat, ohne die die gesamte Lutherforschung im 19. und 20. Jh. anders ausgesehen hätte". Der Nachweis dafür ist dem Vf. wohlgelungen und damit eine Lücke in der theologiegeschichtlichen Erforschung des 19. Jh.s geschlossen.