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Ausgabe: | November/1998 |
Spalte: | 1049–1066 |
Kategorie: | Aufsätze |
Autor/Hrsg.: | Nicol, Martin |
Titel/Untertitel: | Homiletik - Positionsbestimmung in den neunziger Jahren |
Im Sommer 1993 erlebte ich im norwegischen Oslo Richard Lischer, Homiletiker an der Duke University in North Carolina, mit einem Referat über die Predigt Martin Luther Kings. Es gibt wenig Referate, die sofort rundum überzeugen. Hier war es der Fall. Zudem hatte ich nicht nur ein überzeugendes Referat gehört; ich hatte homiletisch einen Kontinent entdeckt. Vieles von dem, was ich bisher bruchstückhaft vor mich hin gedacht hatte, war in den USA in mehr als zwei Jahrzehnten bereits ausgearbeitet worden. Eine überaus bunte, lebendige Predigtszene tat sich mir auf, und die Homiletik in den USA ließ sich offensichtlich von dieser Kanzelszene inspirieren. Seitdem zeigt sich mir unsere deutsche Homiletik in einem anderen Licht.
Im Herbst 1997 war ich wieder in den USA, um am Jahreskongreß der Academy of Homiletics in San Francisco teilzunehmen. Diesmal, den ThLZ-Artikel als Rohentwurf im Hintergrund, schien es mir, als könnte der amerikanischen Homiletik eine stärker systematisierende, dabei theologisch beharrliche und mitunter historisch eindringliche Reflexion guttun.
Offensichtlich gibt es diesseits und jenseits des Atlantik seriöse, interessante Homiletik. Ein lebhafter Austausch wäre für das nächste Jahrzehnt sicher fruchtbarer als die getrennte Entwicklung, an die wir uns auf beiden Seiten gewöhnt haben.
I. Blitzlichter auf die deutsche Situation
Außenstehende mögen zuweilen schärfer sehen. Bernard Reymond, Praktischer Theologe in Lausanne und einflußreichster Repräsentant der frankophonen Homiletik, kommt zu dem Urteil, die deutsche Homiletik liefere gegenwärtig eine "im allgemeinen sehr langweilige" Produktion.1 Aus diesen Worten spricht die Enttäuschung eines französischsprachigen Kollegen, der stets auch die deutsche Homiletik im Blick behalten hat.
Henning Schröer, selbst im Zielgebiet solcher Kritik, formuliert im Titel eines Aufsatzes schärfer, als es seine Ausführungen eigentlich erwarten lassen. Er blickt, ohne das katholische Pendant auszublenden, vor allem auf die evangelische Homiletik und kommt zu dem Schluß, die derzeitige Homiletik in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum bewege sich, so sein Titel, "zwischen Beliebigkeit und Monotonie".2
Und Richard Lischer aus den USA bemerkte beiläufig und sehr vorsichtig,3 die Homiletik leide in Deutschland weit mehr noch als in den USA an einer prinzipiellen Trennung von Theologie und Praxis. Die Homiletik habe damit teil an einer generellen Krise der wissenschaftlichen Theologie.4
Langweilig, angesiedelt im Flachland zwischen Beliebigkeit und Monotonie, gelähmt durch einen Hiatus zwischen Theologie und Praxis - das sind keine ermutigenden Wahrnehmungen dessen, was sich aktuell in der deutschsprachigen Homiletik tut.
In seiner Einseitigkeit steht das Ensemble der angeführten Blitzlichter in der Gefahr, zu verdunkeln, was es eigentlich erhellen möchte. Immerhin blieb die Homiletik auch im deutschsprachigen Raum nicht untätig. Es gibt, was auch Henning Schröer trotz seiner wenig erfreulichen Schlagzeile keineswegs übersah, interessante Ansätze, Beobachtungen, Versuche. Das alles freilich kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß so etwas wie ein homiletischer Aufbruch in Neuland weit und breit nicht wahrzunehmen ist. Die Blitzlichter, die ich angeführt habe, mögen überzogen scheinen. Sie sind aber gerade so als Krisenindikator tauglich.
Im deutschsprachigen Raum steht die Homiletik gegenwärtig nicht im Brennpunkt praktisch-theologischen Interesses. Diesen Platz nahm in den letzten Jahren die Liturgik ein. Der Gottesdienst wird als "Gesamtkunstwerk"5 entdeckt. Zu erwarten ist zwar, daß künftig der homiletische Part an diesem Gesamtkunstwerk deutlicher herausgearbeitet wird als bisher. Aber im Moment kann ich den Standort der deutschen Homiletik nur unter der Voraussetzung bestimmen, daß sie eine nachgeordnete Rolle im Kontext der Praktischen Theologie spielt. Ausdrücklich füge ich hinzu, daß es hier um den Standort der Homiletik geht, nicht um eine Situationsbeschreibung der Kanzelrede. Letzteres wäre eine eigene Aufgabe, die bislang nur im Überblick bearbeitet werden konnte.6
In einer homiletisch eher unentschlossenen Zeit mag der Blick auf den homiletischen Diskurs in anderen Ländern erhellend wirken. So werde ich auf dem Hintergrund der nordamerikanischen sowie der frankophonen Diskussion eine Skizze der deutschen Homiletik in den neunziger Jahren entwerfen. Eine solche Skizze kann ich nicht als objektiver, gar unbeteiligter Beobachter schreiben. So will ich da und dort die Richtung, in die nach meiner Sicht der Weg führen könnte, wenigstens andeuten.
II. Homiletical Revolution
In den USA hat die Homiletik während der letzten gut 35 Jahre ein Niveau erreicht, das sämtlichen Vorurteilen, die man gegenüber der amerikanischen Predigtszene haben mag, entgegensteht.7 Der aktuelle Stand der amerikanischen Homiletik scheint durchaus dem Stand jener Seelsorge vergleichbar, die einst als Clinical Pastoral Training den Weg zu uns nach Europa fand und die hier die Poimenik auf eine neue Basis stellte.
Homiletisch ist in den USA eine "Revolution" (homiletical revolution) inzwischen in die Phase der Konsolidierung gekommen. Diese Entwicklung geschah, nach frühen Anregungen aus der Wort-Gottes-Theologie und der Neuen Hermeneutik eines Ernst Fuchs oder Gerhard Ebeling, weitgehend ohne Austausch mit der europäischen Homiletik.
Inzwischen gibt es Versuche, über den Atlantik hinweg einen homiletischen Diskurs zu etablieren. Nach den Anfängen bei einem internationalen Symposion zur Predigtforschung 1986 in Heidelberg hat sich 1993 die "Societas Homiletica" in Oslo offiziell gegründet.8 Von Anfang an war die Societas nicht auf Europa und Nordamerika beschränkt; inzwischen hat sie sich um Kolleginnen und Kollegen vor allem aus Asien und Afrika erweitert. Im Blick freilich auf ihre Effizienz dürfte gelten, was ein Mitglied der Societas selbst bemerkte, daß die kurzen Tagungen im Abstand von zwei Jahren kaum etwas bewirken können für eine wirklich globale Homiletik.9 Und bezüglich des Verhältnisses USA-Europa scheint das Urteil von Jeffrey T. Myers, eines Grenzgängers zwischen der Alten und der Neuen Welt, auch weiter realistisch zu bleiben: "Was ... die deutsche und die amerikanische Diskussion vielleicht am ehesten gemeinsam haben, ist die wechselseitige Unkenntnis".10
Ich nenne im folgenden sechs Punkte, die zwar nicht alle Autoren in gleicher Weise, wohl aber generell die amerikanische Diskussion charakterisieren:
1. Die "Revolution" in den USA besteht im Kern darin, daß man sich vom herrschenden deduktiven Predigtmodell abwandte, um die Möglichkeiten des induktiven Predigtmodells auszuloten. Damit änderte sich die Zielsetzung der Predigt. Nicht mehr darum ging es, eine Wahrheit des Glaubens zu erklären (deduktiv), sondern Erfahrungen des Glaubens zu teilen (induktiv).11
2. Es kennzeichnet die amerikanische Homiletik, daß sie Predigt auf breiter Basis als "Ereignis" (event) versteht. Die Terminologie stammt aus der sogenannten Neuen Hermeneutik, hat aber in den USA den akademisch-hermetischen Rahmen verlassen, in dem das "Ereignis" bei Ernst Fuchs steckengeblieben war. Predigt als Ereignis informiert nicht über Ereignisse des Glaubens, sondern stellt selbst ein Ereignis dar, in dem Gott durch sein Wort Menschen in seine heilende Wirksamkeit hineinzieht. Dieses Verständnis impliziert, daß der Predigtvorgang wesentlich in theologischen Kategorien gedeutet und verstanden wird.12
3. In den USA wurde die Mündlichkeit (orality) des Predigtvorgangs neu entdeckt. Dabei geht es um weit mehr als nur um die Frage, ob mit oder ohne Manuskript gepredigt werden solle. Es geht vielmehr darum, Anregungen aus der mündlichen Predigtkultur der afroamerikanischen Gemeinden und Erkenntnisse über die ursprüngliche Mündlichkeit des biblischen Wortes mit der Einsicht zu verbinden, daß wir gesamtkulturell in einer Zeit "zweiter Mündlichkeit"13 leben. In einer Zeit, in der immer weniger gelesen, aber immer mehr ferngesehen werde, müsse man fragen, mit welchem Konzept von Homiletik eine am Geschriebenen und Gedruckten orientierte "Gutenberg-Homiletik"14 abzulösen sei.
4. Die Ereignishomiletik impliziert eine andere Bibelhermeneutik. Bibelworte sollen "Ereignis" werden. Deshalb werden sie nicht primär erklärt, sondern "aufgeführt", d. h. sie werden von allen am Gottesdienst Beteiligten als "Aufführung" (performance) erlebt und gestaltet. Solche "performance" ist ihre primäre Auslegung. Hermeneutisch gesehen kommt so das Predigtereignis nicht mehr zur vorgängigen Auslegung hinzu wie einst die "Anwendung" zur "Auslegung". Vielmehr ist die Predigt-Performance eines Bibelworts, darin der Aufführung einer musikalischen Partitur vergleichbar,15 selbst konstitutiver Bestandteil eines umfänglichen Auslegungsprozesses. Den Erfahrungshintergrund für die gottesdienstliche "Aufführung" biblischer Texte geben wieder die afroamerikanischen Prediger und Gemeinden Amerikas.16
5. Die neue amerikanische Homiletik hat die Metapher neu entdeckt. Das gilt für die metaphorische Sprache der Bibel wie auch für das Sprechen in der Predigt selbst. Poetisches, auch narratives Predigen nimmt Maß an der Bildwelt und den Redeweisen der Bibel. Ein intensives, von der Bibel inspiriertes Bemühen um die Sprache der Predigt gehört zu den Kennzeichen der homiletischen Revolution.17
6. Im Zeichen der neuen homiletischen Rhetorik gewinnt der Hörer an Bedeutung. Er ist nicht nur Adressat von Rede, sondern er konstituiert mit, was den Sinn der Rede ausmacht. Wie sehr die Predigt ein Ereignis von Kommunikation ist oder sein sollte, erhellt aus zwei neuen Büchern zu einer Predigt des "runden Tisches".18 Beiden geht es nicht um eine Wiederauflage alter Versuche zur Dialogpredigt, sondern darum, die dialogische Struktur allen Predigens programmatisch herauszuarbeiten. Mit diesen Versuchen bearbeitet die Homiletik nicht nur das klassische Problem einer besseren Verständigung zwischen Prediger und Hörer. Vielmehr wird das prinzipiell-homiletische Problembewußtsein geschärft im Blick auf Ekklesiologie, auf das Verhältnis von Amt und Gemeinde, auf Gemeindeaufbau und Bibelhermeneutik.19
Vieles, was ich als Kennzeichen jener homiletischen Revolution in den USA beschreibe, ist wenigstens mit Fußnoten auch im deutschen homiletischen Diskurs repräsentiert. Der fundamentale Unterschied ist, daß sich in den USA homiletische Einsichten bereits vor gut 30 Jahren verdichtet haben zu einer Bewegung. Die Academy of Homiletics, gegründet 1965, hat einen homiletischen Diskurs, der diesen Namen verdient, erst eigentlich eröffnet. Sie bietet den Homiletikdozierenden über konfessionelle Grenzen hinweg mit jährlichen Treffen eine Plattform und seit 1976 mit der Zeitschrift "Homiletic" ein Publikationsorgan. Vor allem hat sich die Academy um institutionalisierte Formen der Aus- und Fortbildung bemüht. Das Programm "Doctor of Ministry in Preaching" in Chicago stellt eine Weise der homiletischen Fortbildung dar, wie es sie in Deutschland nicht gibt.20 Eine mehrjährige Fortbildung, die wissenschaftliche Reflexion und rhetorische Werkstattarbeit mit Erfahrungen in der Gemeinde verbindet, führt zum akademischen Grad eines D. Min. (Doctor of Ministry).
Was Amerika auch von den Gegebenheiten hierzulande unterscheidet, ist eine weitgefächerte Kultur der Kanzelrede. Ethnische Gruppen entwickeln eigene Predigtstile, Konfessionen entdecken wechselseitig Neues, Frauen entdecken spezifische Stärken bei der Kanzelrede,21 behinderte Menschen melden sich mit fast schon befreiungstheologischem Anspruch zu Wort.22 Den nachhaltigsten Einfluß auf die homiletische Bewegung freilich dürfte bis heute afroamerikanisches Predigen ausüben. Mitten in einer weißen Predigtkultur, die noch immer durch europäische Muster geprägt ist, repräsentieren die schwarzen Gemeinden Amerikas eine charakteristisch andere Kultur der Kanzelrede.23 Man fragt sich angesichts dieser Fülle der Aspekte, ob Deutschland nicht eine andere, weniger gleichförmige Predigt, eben eine neuartige Predigt-Kultur bräuchte, damit die Homiletik auf Neues hinweisen könnte.
Die homiletische Bewegung in den USA hat eine Reihe von Werken hervorgebracht, die inzwischen als Standardwerke gelten können.24 Einige davon will ich kurz charakterisieren.
Zunächst ist auf ein homiletisches Lexikon hinzuweisen.25 Ein Lexikon signalisiert: Hier hat sich Wissen angesammelt, das der enzyklopädischen Aufbereitung bedurfte. Es handelt sich bei der "Concise Encyclopedia of Preaching" (1995) um das einzige überhaupt verfügbare homiletische Lexikon auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Mittelpunkt des Interesses steht natürlich Nordamerika mit Kanada. Gleichwohl kommen auch europäische und andere Traditionen angemessen vor. Zum Beispiel finden sich ausführliche Artikel zu Predigt und Homiletik in Afrika, Asien, im deutschsprachigen Raum, Indien, Lateinamerika, Skandinavien. Zu so klassischen homiletischen Begriffen wie "Homilie" finden sich ebenso Artikel wie zu Phänomenen, die in Deutschland allenfalls ein kümmerliches Dasein fristen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist ein Artikel von William H. Willimon zum Stichwort "humor" - mit Angabe von Sekundärliteratur.
Zwei homiletische Lehrer prägen mit ihren Büchern stark die Ausbildung zum Predigen in den Seminaries: Fred B. Craddock und Thomas G. Long. Beide haben noch in den achtziger Jahren Lehrbücher verfaßt,26 die einfühlsam geschrieben sind und sich ganz an der Praxisfrage der Predigerinnen und Prediger orientieren: "Wie mache ich meine Predigt?" Die prinzipielle Einheit von Form und Inhalt der Predigt ist selbstverständliche Voraussetzung. Homiletisch-theologische Theorie steht zuverlässig im Hintergrund, so daß die Anleitungen zur rhetorischen Gestaltung nie zum Pragmatismus verflachen. Beide Bücher bestechen durch die Neugier, mit der, angeregt durch die biblischen Weisen des Redens von Gott, nach neuen Formen der Predigt gesucht wird. Ausgangspunkt ist, daß die diskursive, einseitig am Intellekt orientierte Predigt ihre kanzelbeherrschende Rolle abgeben muß.
David Buttricks "Homiletic" (1987) ist auf eine, wenn man so will, wissenschaftlichere Weise als beispielsweise Craddock zum Klassiker der US-Homiletik geworden.27 Für das Selbststudium eignet sich das umfangreiche Werk nur bedingt. Leitend ist eine einfache, aber für den Predigtvollzug äußerst hilfreiche Unterscheidung. Da gibt es zunächst die "moves", die kleineren sprachlichen Einheiten der Predigt, den einzelnen Sequenzen eines Films vergleichbar. Und da gibt es die "structure" der Predigt, also ihren großen Aufbau, vergleichbar der Dramaturgie eines Films, wie sie im Aufbau des Drehbuchs kenntlich wird. Schon der Ausdruck "move" zeigt, wie sehr diese Homiletik an Bewegungsabläufen orientiert ist, nicht an gedanklichen Blöcken. Als Paradigma für die Predigt löst der Film die Vorlesung ab.
Das jüngste Lehrbuch mit der Chance auf breite Wirksamkeit kommt aus Kanada.28 Paul S. Wilson aus Toronto lieferte mit "The Practice of Preaching" (1995) ein Lehrbuch, das die Einsichten der homiletischen Bewegung in den USA zusammenfassend methodisiert. Die wichtigen Punkte einer erneuerten Homiletik sind berücksichtigt, beispielsweise die Mündlichkeit des Predigtvorgangs, die Predigt als "Ereignis", die unauflösliche Einheit von Inhalt und Form, die zentrale Rolle der Metapher für die Kanzelrede. Die Sprache ist leicht verständlich; am Ende eines jeden Hauptabschnitts werden praktische Übungen angeboten. Bisweilen etwas starr mutet es an, wenn dogmatische Kategorien wie Gesetz und Evangelium unmittelbar in homiletische Praxis umgesetzt werden. Gleichwohl stellt das Buch einen gelungenen Versuch dar, homiletische Theorie von Niveau in ein Lehrbuch zu gießen, das zu Modifikationen der eigenen Predigtpraxis verlockt.
Auf ein Werk möchte ich hinweisen, für das es im deutschsprachigen Raum eigentlich keinen Vergleich gibt. Ich würde "The Preacher King" (1995) von Richard Lischer als "homiletisch-rhetorische Biographie" bezeichnen.29 Ausgerechnet Rudolf Bohren hat dieses Buch, das der Rhetorik so breiten Raum gewährt, jüngst enthusiastisch gelobt.30 Es gelingt Lischer, am Beispiel von Martin Luther King homiletisch-rhetorische Praxis, politisch-prophetische Predigt, afroamerikanische Bibelhermeneutik und eine bewegende Biographie so darzustellen, daß sich gleichsam zwischen den Zeilen eine neue Theologie der Predigt abzeichnet. Der Untertitel vom "Wort, das Amerika bewegte" wird unaufdringlich zur biographisch-geschichtlich vermittelten Metapher für das wirkende Gotteswort der Bibel. Meine These ist, daß in Lischers Buch die dezidiert theologische, auf das Wort Gottes ausgerichtete Predigtlehre Rudolf Bohrens unter Einbeziehung homiletisch-rhetorischer Analysen eine zeitgemäße Fortschreibung in Form einer Biographie gefunden hat.
Lischers Buch ist für mich ein besonderes Buch auch aufgrund seiner Sprache. Es ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend geschrieben. Darin scheint sich mir mehr anzudeuten als nur literarisches Können. Vielleicht wird hier eine mittlere Sprechebene greifbar, eine Sprechebene zwischen dem Predigen selbst und dem rein wissenschaftlichen Nachdenken über Predigt.
Da ich auf die Sprechebenen verschiedentlich zurückkomme, will ich sie etwas genauer bestimmen. Friedrich Mildenberger hat eine fundamentale Unterscheidung zum Ausgangspunkt seiner "Biblischen Dogmatik" gemacht: die "einfache Gottesrede" und die Sprache der wissenschaftlichen Theologie.31 Die "einfache Gottesrede" wäre ein Sprechen im Predigtereignis selbst. Die Theologie wäre demgegenüber ein Nachdenken oder Reflektieren über das Ereignis. Es scheint mir notwendig, diese zwei fundamentalen Ebenen des Sprechens um eine dritte, mittlere Sprechebene zu ergänzen. Das wäre die Sprache, in der begeistert und begeisternd vom Predigtereignis zu erzählen wäre - eine Sprache nicht im, nicht über, sondern eine Sprache ganz nahe am Ereignis. Eine Sprache wäre das, die nicht selbst verkündigt ("im"), die nicht im strengen Sinn wissenschaftlich reflektiert ("über"), sondern eine Sprache, die Erlebtes oder auch Erlebbares zu so etwas wie einer diskursiven Narration ("am") verbindet.
Lischers homiletisch-rhetorische Biographie Martin Luther Kings ist ein Glücksfall der Homiletik. In dem Buch kommt mit King und seinem afroamerikanischen Hintergrund ein Predigtereignis in den Blick, das schon von sich aus weit eher charismatisch-pneumatologisch als in den geläufigen Kategorien europäischer Homiletik zu begreifen ist. Eine mittlere Sprechebene zwischen Ereignis und Reflexion hat Lischer gefunden, indem er den Ereignissen eines gelebten Lebens nachspürte. Das macht sein Buch so faszinierend: daß auf der Sprechebene der Biographie das Ereignis selbst lebendig und gleichwohl die wissenschaftliche Reflexion präsent ist. Predigen wird in Lischers Ausführungen immer wieder als ein geisterfüllter Vorgang nachvollziehbar.
Lischers Buch ist nur ein besonders gelungenes Beispiel für die amerikanische Weise, über Predigt zu schreiben. Jene mittlere Sprechebene ist, mit unterschiedlichem Niveau, in fast allen Büchern zum Thema anzutreffen. Über Predigt schreiben, ohne von Predigt zu erzählen - das ist den Kolleginnen und Kollegen in den USA offenbar unmöglich. David Buttrick, dem man einen prinzipiellen Mangel an Wissenschaftlichkeit sicher nicht vorwerfen kann, hat vor kurzem eine Homiletik für das nächste Jahrhundert skizziert.32 Dabei forderte er, Homiletik müsse "spirituell" sein (profoundly spiritual). Er ist sich der Ambivalenz des Begriffs bewußt, verwendet ihn aber trotzdem, um die Erwartungen der Gemeinde an das Predigtereignis im homiletischen Diskurs zu repräsentieren. Daß die anderen theologischen Disziplinen die Homiletik dann vermutlich erst recht als ein pragmatisches Unternehmen der bloßen Umsetzung ansehen (an unacademic how-to enterprise), scheint er hinzunehmen. Für mich zeigt Richard Lischers Buch, wie eine Homiletik mitunter "geistlich" werden kann, ohne damit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit zu entsagen.
III. Le défi homilétique
Es mag verwundern, daß ich nach der amerikanischen auf die frankophone Homiletik zu sprechen komme. Eine frankophone Homiletik, die diesem Namen substantiell gerecht würde, gibt es noch nicht. Was es gibt, ist eine Homiletik, die sich als frankophone Homiletik profilieren möchte und die in dieser Perspektive aufmerksam Neuland betritt. Genau das ist es, was den Blick in unsere französischsprachigen Nachbarländer, aber auch in die weltweite Frankophonie lohnt.33 Eine neue Lebendigkeit der Predigt wird beschworen. Die "Religion des Ohres", der sich die Reformation noch verpflichtet wußte, nicht noch weiter verkommen zu lassen zu einer "Religion der Brillenträger" - dazu hätten Predigt und Homiletik ihren Beitrag zu leisten.34
Bis vor kurzem war in der Frankophonie noch immer Karl Barths Homiletik, französisch 1961 erschienen,35 maßgebend. Man hielt zwar Ausschau nach einem anderen Text, wurde aber erst Anfang der neunziger Jahre fündig. In den USA fand man das Werk, das nun als Grundlage für die homiletische Ausbildung dient: Fred B. Craddocks "Preaching", 1991 in französischer Übersetzung publiziert.36 Craddocks Buch dürfte zunächst einmal konfessionsübergreifend die frankophone homiletische Arbeit bestimmen.
Die Übersetzung von Craddock korrespondiert dem Interesse, das die Frankophonie neuerdings den praktisch-theologischen Vorgängen in Nordamerika entgegenbringt. Bernard Reymond hat sein hartes Urteil über die deutsche Predigtlehre nicht zufällig dort zum Ausdruck gebracht, wo er geradezu programmatisch von der Erneuerung der Homiletik in den USA berichtete37. In den USA sei ein ungewöhnlicher Aufschwung, eine echte Erneuerung der Homiletik und auch der Predigt selbst zu verzeichnen.
Ein Sammelband hat das neuerwachte Interesse der Frankophonie an der Homiletik markant gebündelt: "Le défi homilétique" (1994), die homiletische Herausforderung38. Wer da herausgefordert wird, ist am Untertitel abzulesen: Lexégèse au service de la prédication, die Exegese im Dienst der Predigt. Vielleicht ist es ein europäisches Proprium, daß sich ein homiletischer Neuanfang nicht, wie in den USA, an der Gestaltfrage der Predigt entzündet, sondern am Verhältnis von Bibelwissen schaft und Homiletik. In den USA haben Bibelwissenschaftler wie Craddock den homiletischen Aufbruch markant mitgestaltet. In Europa hat die wissenschaftliche Schriftauslegung ein derartiges Eigengewicht gewonnen, daß konzeptionelle Bezüge zur Homiletik erst mühsam wieder hergestellt werden müssen.39 In seinem Vorwort zu dem genannten Sammelband formuliert Henry Mottu das Anliegen: daß eine dezidiert theologische Exegese von Anfang an ihr Ziel, nämlich die Verkündigung, im Auge habe. Im Blickpunkt ist also eine "exégèse homilétique", die prinzipiell in rezeptionsästhetischer Perspektive geschähe und die darum mehr wäre als nur die Anwendung historisch gewonnener Einsichten für die Praxis der Predigt.40
Vor kurzem ist ein Band erschienen, der als erster Gesamtentwurf der neuen frankophonen Homiletik gelten kann.41 Hier liegt kein Lehrbuch vor, sondern eine homiletische Programmschrift. Bernard Reymond hat sein homiletisches Konzept bereits mit dem Untertitel unter das Stichwort der "oraliture" gestellt. Das ist eine Analogbildung zu "littérature". Damit wird programmatisch eine mündliche Kultur des Wortes der Kultur des geschriebenen, gedruckten Wortes gegenübergestellt. Reymond nimmt die amerikanischen Forschungen zur orality auf und positioniert sie im europäischen Diskurs der Homiletik. Gegen alle faktische Entwicklung vor allem der letzten dreihundert Jahre sei, so die These, die christliche Predigt primär ein Phänomen mündlicher Redekultur. Das Buch ist ein Programm für eine erneuerte Homiletik, die für sich und für die gesamte Theologie das mündliche Wort, die "viva vox Evangelii" als das Grunddatum allen Nachdenkens wiedergewinnen möchte. In dieser Perspektive werden die Grundfragen der Homiletik von der theologischen Grundlegung der Predigt über die Homiletische Schriftauslegung bis hin zur Person des Predigers oder der freien Rede auf der Kanzel gleichsam neu durchdekliniert. Was das Buch besonders reizvoll macht, ist, daß es das Programm einer "oraliture" durchweg in ästhetischen Kategorien expliziert. Nicht mehr der akademische Hörsaal und die Vorlesung geben das Paradigma ab für die Predigt, sondern die Theaterbühne oder das Konzertpodium. Predigt wird durchgehend entfaltet als Kunst des mündlichen Wortes. "Oraliture" gerät zum echten Pendant von Literatur als einer Weise, kunstvoll mit dem Wort umzugehen und mit den Worten.
Ich belasse es bei dieser Skizze der neuen frankophonen Homiletik. Noch gibt es dort keine homiletische Bewegung, wohl aber jenes neugierige Ausschauen, das zur Bewegung werden könnte: Jetzt, so Jean-François Zorn, "kann man sich vorstellen, daß ein Frühling der Predigt sich am Horizont zeigt".42 Daß man sich bei solcher Ausschau ausgerechnet im französischen Sprachbereich an den USA orientiert, mag uns zu denken geben.
IV. Wiederkehr der Religion
Wenn ich mir selbst Rechenschaft ablege, was in der unmittelbaren Gegenwart der interessanteste deutsche Beitrag zur Homiletik sein könnte, dann zögere ich nicht, auf Manfred Josuttis zu verweisen. 1996 hat er mehrfach seine provokativ-markante Sicht dessen vorgelegt, was Predigt sei und welche Rolle dem Prediger oder der Predigerin im Predigtvorgang zukomme.43
Die Position von Josuttis profiliert sich als wichtige Position allein schon durch den Weg, mit dem der Verfasser über Jahrzehnte hinweg die deutsche Homiletik mitgeprägt hat. Nach Anfängen im Umkreis von Rudolf Bohren hat sich Josuttis der empirischen Wende in der Praktischen Theologie umfassend gestellt. Homiletisch ist die Wiederkehr der Rhetorik neben Gert Otto auch Manfred Josuttis zu verdanken. Bei seiner Beschäftigung mit der alten Diszplin der Pastoraltheologie kam der Pastor als Prediger unter ganz neuen Gesichtspunkten zur Sprache. Es macht Sinn, Manfred Josuttis zu befragen, was es heute um die Predigt sei.
Die Predigt ist nach Josuttis ein "Ereignis des Evangeliums".44 Dieses "Ereignis" wird unter ausdrücklichem Bezug auf Rudolf Bohren pneumatologisch bestimmt45 und konkretisiert durch den Hinweis auf enthusiastische Phänomene. Davon werden auch die Hörenden ergriffen. Josuttis führt die Ergriffenheit durch den Heiligen Geist aber vor allem im Blick auf die predigende Person aus. Diese werde, bei rechter Vorbereitung, bis hin zur "Trance"46 vom Geist erfüllt. Die Vorbereitung auf ein solches Predigt-Ereignis diene nicht mehr der "Schriftgemäßheit eines ausformulierten Predigtentwurfs", sondern der "Schrifterfülltheit einer Predigtperson".47 Wie beim umgebenden gottesdienstlichen Ritual gehe es auch bei der Predigt darum, daß Menschen "von der Macht des Heiligen ergriffen" werden.48
Man könnte nun an dem Begriff des "Heiligen" und seiner Verwendung durch Josuttis Anstoß nehmen. Man könnte schwerwiegende Anfragen formulieren an Josuttis Sicht des Verhältnisses von Amt und Gemeinde. Oder man könnte kritisch auf die Distanz zwischen seinem Predigtverständnis und der volkskirchlichen Wirklichkeit am Sonntagmorgen hinweisen. In der Tat hat Josuttis einst begrifflich sorgfältiger, theologisch bedachtsamer und insgesamt realistischer argumentiert. Aber es führt für unsere Perspektive nicht weiter, sich mit der Beobachtung solcher Probleme und Defizite aufzuhalten. Interessant ist, was sich mit den Visionen eines Manfred Josuttis für die homiletische Debatte und, wer weiß, für künftige Kanzelrede selbst ankündigt. Das Predigtverständnis von Josuttis ordnet sich ein in die Phänomene einer machtvollen Wiederkehr der Religion, wie sie gegenwärtig nicht nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb von Kirche wahrzunehmen ist.
Für die Homiletik bedeutet das eine Aufweitung der herkömmlichen Deutemuster, in denen man das Predigtereignis auf der Inhalts- und der Beziehungsebene wahrzunehmen suchte. Beides greife, so Josuttis, zu kurz. Wir hätten "auf transrationale Aspekte im homiletischen Akt wenig zu achten gelernt".49 Es gehe eben nicht nur um die verständliche Aneignung von Inhalten und deren gefühlsmäßige Applikation, sondern um die "Anwesenheit göttlicher Atmosphären".50 Die stelle eine eigene, unverfügbare Dimension im Predigtereignis dar.
Für diese Dimension des Religiösen sucht Josuttis nach Sprache. Er findet sie in der Bibel, in scheinbar abgegriffenen dogmatischen Begriffen, in philosophischen Überlegungen, in religionsphänomenologischen und verhaltenswissenschaftlichen Beobachtungen. Dieses Sprachgemisch entzieht sich dem herkömmlichen Muster praktisch-theologischer Argumentation. Hier bemüht sich jemand, göttliche Wirklichkeit jenseits akademischer Engführungen zur Sprache zu bringen. Ob das überzeugend gelingt, sei dahingestellt. Wichtig ist, daß der Versuch an so prominenter Stelle überhaupt unternommen wird.
In der Predigt wird also nach Josuttis nicht über Gott nachgedacht, sondern "hier kommt der heilige Gott zur Sprache und ergreift Menschen zu ihrem Heil".51 Mit seinen homiletischen Skizzen will Josuttis ausdrücklich das Anliegen eines Rudolf Bohren in veränderter Situation wieder zur Geltung bringen. Es sei an der Zeit, "die Einsichten der empirischen Homiletik neu in einen theologischen Rahmen zu binden".52 Ganz ähnlich hatte Richard Lischer gefordert, die Homiletik müsse die Rhetorik in der Predigtarbeit wieder auf eine genuin theologische Grundlage stellen.53
Josuttis argumentiert wesentlich pneumatologisch. Ein Beitrag aus dem frankophonen Bereich zeigt, wie die Wiederkehr der Religion in der Homiletik zu einer Argumentation in ästhetischen Kategorien führen kann. Bernard Reymond54 propagiert mit Rückgriff auf Schleiermachers "Reden" in der Erstfassung von 1799 den Prediger als "Virtuosen", als Künstler. Predigt sei ein Kunstwerk, Predigen eine Kunst, mithin den Künsten aller Art weitaus näher als der exakten Wissenschaft. Die Ausbildung aber sei noch immer dominiert vom Paradigma der exakten Wissenschaft55 und vom logisch-deduktiven Argumentationsmodell.56 Der Rekurs auf Schleiermacher macht deutlich, wie in dieser Perspektive die Religion als eigene Dimension von Wirklichkeit zur Geltung kommt. - Insgesamt scheinen sich, wenn man auf Josuttis, Reymond, aber auch Lischer blickt, theologische, ästhetische und rhetorische Fragestellungen zu einer integralen Wahrnehmungsweise zu fügen für eine Predigt, die neu als ein Phänomen von Religion entdeckt wird.
V. Homiletische Perspektiven im deutschsprachigen Raum
Man mag, wie bei den Blitzlichtern zu Beginn, wenig angetan sein von der aktuellen deutschen Homiletik. Bei genauerem Hinsehen freilich wurde auch hierzulande einiges beigetragen zu einem erneuerten Verständnis von Predigt. Leitend ist mir ein Predigtverständnis, das sich bei globaler Betrachtung nahelegt: Predigt als Ereignis, und zwar als Ereignis im Bereich religiöser Erfahrung. In sechs Perspektiven werde ich die homiletische Literatur anführen: Theologie, Ästhetik, Biographie, Politik, Analyse und Didaktik.
1. Theologie: Die prominent publizierte Predigtlehre von Hans Martin Müller57 ist stark systematisch-theologisch angelegt. Dennoch dürfte sie kaum die intendierten theologischen Impulse vermitteln, weil sie die Diskussion mit der neueren Homiletik nicht wirklich führt. Genuin homiletisches Interesse verdient demgegenüber die Homiletik von Klaus Müller.58 Zwar berücksichtigt sie so gut wie ausschließlich die römisch-katholische Diskussion. Sie ist aber auch darüber hinaus nützlich, weil sie aktuelle und weiterführende Problemstellungen auf einem beachtenswerten Sachstand referiert und diskutiert: Sprache, Hermeneutik, Rhetorik, Kommunikation, Poesie etc. Diese Homiletik orientiert sich an einem sakramentalen Wortverständnis; alte theologische Deutemuster zum Wort Gottes kommen durch moderne Erklärungen wie die Sprechakttheorie neu für den "Tatort Wort" zur Geltung. Gerd Theißen hat als Neutestamentler die homiletische Debatte bereichert.59 Sein Beitrag kann entkrampfend wirken auf das Verhältnis von Bibelwissenschaft und Homiletik. Theißens Plädoyer für die Bibel als "offenen Text" und sein Eintreten für eine Vielfalt der Zugangsweisen zum biblischen Wort weisen der Homiletik eine konstitutive Rolle bei der Schriftauslegung zu. In französischer Version leitete Theißens Beitrag den programmatischen Band "Le défi homilétique" ein und damit die Suche nach einer spezifischen "exégèse homilétique".60 Der theologischen Bemühung um die Predigt sind die folgenden Arbeiten zuzurechnen, auch wenn sie stark ins Biographische hineinreichen. Hartmut Genest entwarf ein Gesamtbild der homiletischen Arbeit Karl Barths61, und in Sabine Bobert-Stützels Werk zur Pastoraltheologie Dietrich Bonhoeffers verbirgt sich auch eine gründliche Darstellung seiner Finkenwalder Homiletik.62
2. Ästhetik: Vieles, was früher Aufgabe der prinzipiellen Homiletik bzw. der Dogmatik war, wird heute unter dem Vorzeichen der Ästhetik verhandelt. Das verwundert nicht, ist doch generell erkannt, daß die prinzipielle Frage, was die Predigt sei, nicht abzulösen ist von den Gestaltfragen der Predigt. Die Wiederkehr der Religion mit der religiösen und theologischen Neubewertung künstlerischen Schaffens hat die ältere Einsicht eines unauflöslichen Miteinanders von Inhalt und Form in einen neuen, faszinierenden Kontext gestellt. Der Aufsatz von Gerhard Marcel Martin über die Predigt als "offenes Kunstwerk" von 1984 dürfte inzwischen als Programmschrift gelten, die freilich noch auf ihre Durchführung wartet.63 Neuerdings hat Christian Möller humorvoll und für die Wissenschaftsgeschichte der Homiletik aufschlußreich die moderne Rezeptionsästhetik bereits bei Rudolf Bohren aufgespürt.64 In demselben Bändchen zum 75. Geburtstag von Bohren hat Albrecht Grözinger gezeigt, wie die Homiletik für die Hürde des Predigtanfangs um erfahrene Hilfe bei der Kunst nachsuchen kann.65 Elisabeth Grözinger fragte nach der Rolle literarischer Texte bei der Predigtvorbereitung66. Ihre detaillierte Studie läuft unter anderem auf die Frage hinaus, ob Literatur nicht zu schnell homiletisch verbraucht und dadurch ihrer widerständig-innovatorischen Kraft für die Predigtarbeit beraubt werde. Weltweit berühren sich die homiletischen Versuche auf ästhetischem Feld vielleicht am engsten. Bernard Reymond konzipierte, wie wir sahen, die Predigt im Rückgriff auf Schleiermacher als Kunstwerk, und Walter Brueggemann veröffentlichte schon vor geraumer Zeit einen flammenden Appell zugunsten der Predigt als einer poetischen Rede in einer prosaflachen Welt.67
3. Biographie: Ich meine in unserem Zusammenhang nicht die Frage, wie Lebensgeschichte Thema der Predigt sei.68 Vielmehr möchte ich, angeregt durch Richard Lischers Werk über Martin Luther King, fragen, ob nicht die Biographie eine sinnvolle Form von Homiletik sein könnte. Friedrich Langsam hat einem der wenigen öffentlichen Predigtereignisse der Bundesrepublik mit seinem Buch über Helmut Thielicke eine Monographie gewidmet.69 Vor allem im biographischen Teil kommt das homiletische Ereignis Helmut Thielicke schön zur Geltung. Der analytische Zugriff auf die Predigt-Reden Thielickes geschieht detailliert, ordnet Ertrag und Methode aber nicht ein in die moderne Rhetorikdebatte der Homiletik. Dadurch kann sich die homiletische Leuchtkraft eines nahezu idealen Forschungsgegenstands nicht recht entfalten. Ein Beitrag von Rainer Oechslen ist der Predigerpersönlichkeit von Walter Lüthi gewidmet.70 Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit im Stil einer Dissertation. Dafür hätten die homiletisch-rhetorischen Analysen genauer ausfallen müssen. Aber vielleicht leistet das Büchlein mehr, als eine Dissertation je leisten könnte: Es erzählt, und das theologisch scharfsinnig, von einem Predigtereignis. Der Text bewegt sich, einschließlich der beigefügten Erinnerungen Bohrens, durchgängig auf der mittleren Sprechebene. Oechslen läßt etwas vom Predigtereignis Lüthi spüren. Zugleich profiliert er seine Beobachtungen, indem er sie in den aktuellen theologisch-homiletischen Diskurs einzeichnet. Besonders reizvoll ist, wie Oechslen, angeregt durch Lischers King-Biographie, gleichsam ohne Vorwarnung die Zeitgenossen Martin Luther King und Walter Lüthi in Beziehung setzt. Es steht zu hoffen, daß sich weitere Studien dieser Art wenigstens zu einem groben Bild fügen von dem, was sich in neuerer Zeit auf europäischen Kanzeln ereignet hat.
4. Politik: Schnelle Bezugnahmen auf aktuelle Ereignisse der Politik machen noch keine politische Predigt. Politische Predigt, die diesen Namen verdient, scheint sich auf unbestimmte Zeit von den Kanzeln verabschiedet zu haben. Dennoch war die Homiletik in Sachen politische Predigt nicht untätig. Zwei gründliche Arbeiten mit erhellenden Analysen zum Thema hätten einen forschungsgeschichtlichen Auftakt für dieses Jahrzehnt setzen können.71 Sie blieben aber ohne rechte Wirkung. Das verwundert nicht angesichts einer Wiederkehr der Religion, die sich eher symbolisch-rituell als politisch-sozial manifestiert. Das verwundert aber angesichts von politischen Ereignissen zu Beginn dieses Jahrzehnts, die der Welt ein anderes Gesicht gegeben haben. Konkret ist zu fragen, ob und wo die Auflösung des Ost-West-Konfliktes, der Fall der politischen Mauern in Europa und die friedliche Revolution zur Wiedervereinigung Deutschlands Spuren in der Kanzelrede und dann auch in der Homiletik hinterlassen haben. Wenn ich richtig sehe, haben sich die weltgeschichtlichen Ereignisse im Westen kaum in Kanzelrede niedergeschlagen. Sollte das auch daran liegen, daß doxologisches Sprechen auf der Kanzel so gut wie verstummt ist? Daß also das Verständnis von politischer Predigt sich verengt hätte auf eine unmittelbar handlungskritische oder handlungsmotivierende Predigt? Wenigstens in einigen Publikationen aus dem Osten Deutschlands haben die Wendeereignisse in Deutschland homiletischen Niederschlag gefunden.72 Jürgen Ziemer hat in einem Aufsatz herausgearbeitet, wie die Sprache der Bibel einen Raum eröffnete, der eigenes Sprechen und Verstehen in kritischer Zeit ermöglichte.73 Er konnte sich auf einen Band beziehen, in dem wichtige gottesdienstliche Texte aus dem Herbst 1989 gesammelt vorliegen.74 Karl-Hermann Kandler hat sich der politischen Predigt in der Wendezeit angenommen,75 dabei aber, wie mir scheint, die Differenz zwischen Evangeliumspredigt und politischer Predigt zu scharf angesetzt.
5. Analyse: Seit der empirischen Wende in der Praktischen Theologie ist auch die Predigt Gegenstand humanwissenschaftlicher Analysen geworden. Den Entwurf "Predigt als religiöse Rede", den Karl-Fritz Daiber auf dem Hintergrund kollektiver Arbeit geschrieben hat,76 ordne ich diesem analytischen Bemühen zu. Das Werk stellt den abschließenden Band dar zu zwei Bänden mit sozialwissenschaftlichen Analysen des Predigtgeschehens.77 Eine an Tillich orientierte Sicht von Predigt erfährt durch die sorgfältigen Recherchen des Gesamtprojekts empirische Bodenhaftung. Kommunikation, Sprechakt und religiöse Erfahrung sind Konstituenten nicht nur dieser Homiletik, kommen hier aber im spezifischen Kontext empirischer Forschung zur Geltung. Ebenfalls der analytischen Perspektive ordne ich Wilfried Engemanns "Semiotische Homiletik" zu.78 Das Instrumentarium der Semiotik bringt auf seine Weise Predigt als Kommunikationsprozeß zur Sprache. Durch die neuartige Methode kann eine geläufige "homiletische Mythologie" (Unerheblichkeit des Predigers, Unabhängigkeit der Botschaft, Nichtzuständigkeit des Hörers) als solche kenntlich gemacht werden. Hermeneutisch könnte Engemanns semiotisches Instrumentarium zu einer Entkrampfung des von vielen hermeneutischen "Mythen" belasteten Textbezuges der Predigt beitragen.79 Meine vorsichtige Frage freilich bleibt, ob es unter dem "metaphysischen Gedröhn"80 aus Heidelberg (Engemann über Rudolf Bohren) nicht schon frühzeitig auf etwas rezipientenfreundlichere Weise zu ganz ähnlichen Einsichten gekommen ist wie unter den semiotischen Geräuschen aus Münster. Der historischen und systematischen Analyse eines homiletischen Kernproblems hat sich Jan Hermelink gewidmet. Er hat sorgfältig Begriff und Problem der "homiletischen Situation" so durch die neuere Theologiegeschichte verfolgt, daß die herkömmlichen Frontstellungen zwischen einer dezidiert theologischen und einer rhetorisch ausgerichteten Homiletik an Schärfe verloren.81 Zwei Arbeiten widmen sich der Analyse von Predigtgattungen. Wolfgang Bub hat mit seinem Beitrag über die Evangelisationspredigt einen homiletisch unterbelichteten Bereich der Predigtszene herausgearbeitet.82 Ein Sammelband, herausgegeben von Ralf Koerrenz und Jochen Remy, analysiert die Liedpredigt als eine Alternative zur Textpredigt und führt zugleich mit vielen Beipielen ein in deren Praxis. Der Hermeneutik des Festes gilt eine Arbeit von Tilman Walther-Sollich.83 Gleichwohl fällt auch für die Homiletik einiges an Erkenntnisgewinn ab, wenn der liturgische und soziokulturelle Kontext der Kanzelrede durch sorgfältige Predigtanalysen ausgeleuchtet wird.
6. Didaktik: In den USA gibt es kaum ein homiletisches Buch, das nicht mit einem didaktischen Impetus geschrieben wäre. Das läßt sich hierzulande nicht ohne weiteres sagen. Dennoch gibt es auch bei uns anregende didaktische Beiträge. Der in meinen Augen wichtigste Beitrag dieser Art stammt aus katholischer Feder, bezieht aber die evangelische Homiletik durchgängig ein: Rolf Zerfaß mit seinem "Grundkurs Predigt".84
Der erste Band widmet sich einem scheinbaren Randthema, nämlich der kleinen Form der Andacht oder, wie Zerfaß es nennt, "Spruchpredigt". Der zweite Band beschäftigt sich mit dem klassischen Thema der Textpredigt. Der Gesamtduktus ist didaktisch klug strukturiert. Die Bücher sind gut zu lesen, machen Spaß zum Predigen und erweitern durch eingestreute literarische Texte den Sprachhorizont. Diese Homiletik bezieht durchgängig rhetorische Problemstellungen ein. Selbst dem in Mißkredit geratenen Thema der freien Rede wird ein Lerngang gewidmet. Unter dem Titel "Frei predigen" hat Albert Damblon, ebenfalls aus dem katholischen Bereich, diesem Thema ein ganzes Büchlein gewidmet.85 Es handelt sich, grundsätzliche Einsicht vorausgesetzt, um einen gut nachzuvollziehenden86 Kurs in freier Rede, durchgängig orientiert am sogenannten "Sprechdenken". Es geht also nicht darum, ein Manuskript auswendig zu reproduzieren, sondern darum, eine andere, am mündlichen Sprechvorgang gewonnene Sprache einzuüben. Ein über das Phänomen der freien Rede hinausgehendes kleines Lehrbuch der Predigt hat Damblon vor kurzem publiziert.87 Es überzeugt durch originelle Aufmachung und durch den Erzählstil, in dem sich Prediger und Predigerinnen mit leidvollen und beglückenden Erfahrungen wiederfinden können. Das beste Buch zur Predigtpraxis aus dem evangelischen Bereich dürfte noch immer Peter Bukowskis "Predigt wahrnehmen" darstellen.88 Es eignet sich weniger für Studierende, die eine erste Predigt verfassen, als für Predigerinnen und Prediger, die bereits einige Zeit in der Praxis der Kanzelrede stehen. Stark an der Sprechakttheorie orientiert, gibt das Buch durchgängig praktische Hinweise. Als theologischer Bezugsrahmen dient eine durch eigene Predigtpraxis und durch Ausbildungstätigkeit im Predigerseminar geerdete Wort-Gottes-Theologie89. Der Didaktik dürfte auch Ulrich Nembachs Handbuch zuzuordnen sein.90 Er informiert über den aktuellen Stand der Homiletik und will zugleich, indem er sich durchgängig auf konkrete Predigten bezieht, in die praktische Predigtarbeit einführen. Freilich frage ich, ob manche Exkurse nicht zu speziell sind, um Teil eines "Handbuchs" zu sein.91 Das umfassendste "Handbuch der Predigt" ist noch immer der Band, der von Autoren aus der ehemaligen DDR verantwortet wurde und der die deutsche Homiletik solide in die neunziger Jahre leitete92.
VI. Ausblick
Zum Schluß dieser homiletischen Tour dhorizon möchte ich einige Aufgaben benennen, die sich mir in unserer deutschen Situation zu ergeben scheinen. Vieles, was in diesem Ausblick zu sagen ist, klang bereits an. So kann ich mich auf knappe Markierungen beschränken. Sie betreffen die theologische, die didaktische und die biographische Perspektive der Homiletik.
Die homiletische Diskussion deutet, keineswegs nur in Deutschland, darauf hin, daß es an der Zeit ist, die rhetorischen und empirischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte neu in einen Deutehorizont der Theologie einzuholen. Dabei geht es zum wenigsten um eine dogmatische Absicherung dessen, was mit humanwissenschaftlicher Hilfe erkannt wurde. Vielmehr sollte Predigt, nunmehr im symbolisch-rituellen Kontext von Liturgie, neu kenntlich werden als ein "Ereignis" religiöser Erfahrung. Vieles deutet darauf hin, daß eine ästhetische Betrachtung des Predigtgeschehens helfen könnte, Predigt-"Handwerk" und analytische Erkenntnisse über die Predigt in einen theologischen Deutehorizont zu integrieren. Wenn aber Predigt als ein religiöses Ereignis sui generis beschrieben wird, dann muß der traditionellen Ansicht, Predigt sei eine "Anwendung" vorgängiger "Auslegung" auf die Gemeinde, endgültig und gründlich der Abschied gegeben werden. Das "Kunstwerk" Predigt würde sich darstellen als ein primäres Phänomen in dem für alle Theologie fundamentalen Vorgang der Kommunikation des Evangeliums. Davon könnte die homiletische Schriftauslegung nicht unberührt bleiben. Es wäre eine "exégèse homilétique" zu entwickeln, deren Ausgangpunkt und Ziel eben jene lebendige Kommunikation des Evangeliums darstellt.
Es mag verwundern, daß hier eine Perspektive, die gemeinhin eher am Ende homiletischer Aufmerksamkeit steht, an hervorgehobener Stelle Erwähnung findet: die Didaktik. Immer noch besteht im deutschen Sprachbereich die groteske Situation, daß Studierende wie auch Vikarinnen und Vikare eine wirkliche Ausbildung zum Predigen nur in Ansätzen erfahren93. Pfarrer und Pfarrerinnen predigen, ohne ihr Handwerk wirklich gelernt zu haben. Für die Seelsorge hat sich, wie immer man dazu im einzelnen stehen mag, mit der Klinischen Seelsorgeausbildung (KSA) ein solides Ausbildungssystem etablieren können. Auf dem Gebiet der Predigt gibt es für keine Phase der Aus- oder Fortbildung Vergleichbares. Das alte Vorurteil, Predigt sei die verständliche "Anwendung" exegetischer und systematischer Einsichten, ist (auch wenn es kaum jemand mehr laut zu sagen wagt) noch immer zu mächtig. Eine neue Didaktik hätte von der Predigt als Kunstwerk auszugehen und umfassend für eine "künstlerische" Tätigkeit auf der Kanzel auszubilden.
Ein klassisches homiletisches Problem, die freie Rede, fällt unter die Perspektive der Didaktik. Die freie Rede ist sicher nicht das didaktische Hauptproblem, aber sie ist doch ein ganz brauchbarer Indikator für die Didaktikvergessenheit weiter Teile der Homiletik. Der Mainstream der deutschen Homiletik hat sich bisher um das Problem der freien Rede auffälligerweise nicht gekümmert; die freie Rede war bis in die jüngste Zeit ein "verdrängtes Problem".94 Selbst jene dezidiert rhetorische Homiletik der jüngeren Debatte95 hatte ganz offensichtlich den Schreibtisch noch nicht in Richtung Werkstatt verlassen. Ich erinnere hier an das Problem der freien Rede weniger in der Perspektive der formalen Homiletik, wo es einst verhandelt wurde. Vielmehr scheinen sich mir hier mindestens drei prinzipiell-homiletische Perspektiven anzudeuten. So intendiert, erstens, der Hinweis auf das "Sprechdenken" der freien Rede eine neuartige Sprachgestalt von Predigt gegenüber der gebräuchlichen Manuskriptrede;96 mit der intendierten Sprachgestalt aber wandelt sich auch das Verständnis dessen, was denn Predigt sei. Sodann steht im Hintergrund des jüngsten Pädoyers für die freie Rede, wie es Manfred Josuttis vorgetragen hat, ausdrücklich ein pneumatologisches Verständnis des Predigtgeschehens: "Schrifterfülltheit einer Predigtperson" statt "Schriftgemäßheit eines ausformulierten Predigtentwurfs".97 Und schließlich setzen amerikanische und frankophone Homiletik, gesamtbiblisch ermuntert, den Akzent auf eine neue Kultur des mündlichen Wortes: "zweite Mündlichkeit" statt "Gutenberg-Homiletik".98 Ich sehe nicht, wie Predigt als Ereignis ohne die klassische Frage nach der freien Rede angemessen zur Geltung kommen könnte.
Wo, so frage ich nun weit über das Detailproblem der freien Rede hinaus, wo gibt es im Bereich der deutschsprachigen Kirchen homiletische Werkstätten, in denen neue Weisen und neue Konzeptionen der Kanzelrede entwickelt und eingeübt werden könnten?
International wächst das biographische Interesse an Predigtereignissen. Die homiletisch-rhetorische Biographie wäre eine sinnvolle Weise, auf mittlerer Sprechebene, in spürbarer Nähe also zum Predigereignis, über Predigt nachzudenken. Es täte der Homiletik gut, im je eigenen Land und weltweit "Ereignisse" von Predigt wahrzunehmen. Nur wo sie sich auf lebendige Predigt bezieht, kann die wissenschaftliche Homiletik ihre kritisch-begleitende und ihre visionär-kreative Aufgabe erfüllen. Ich wüßte nicht, welchen Ort die wissenschaftliche Reflexion haben sollte, wo es nichts zu erzählen gäbe. Und, ganz nebenbei, für die deutsche Predigtszene wäre es kein Schaden, wenn sie sich von der weltweit recht bunten Szene ein wenig inspirieren ließe.
Wo ist ein theologischer Grundriß in Sicht, in den die neuen Aufgaben einer deutschsprachigen Homiletik eingezeichnet werden könnten? Manchmal denke ich, er sei noch nicht einmal in Ansätzen auszumachen. Manchmal aber frage ich mich, ob nicht in der aktuellen Situation Rudolf Bohrens "Predigtlehre"99 unter neuem Vorzeichen einzuholen wäre. Sie ist noch heute als genialer Wurf kenntlich. Über weite Strecken ist sie auf mittlerer Sprechebene verfaßt und läßt von der ersten bis zur letzten Seite eine selten gewordene Leidenschaft für das Predigen spüren. Damals wurde Bohrens Buch vielfach nur wahrgenommen als letzter Ausläufer jener dezidiert auf das Wort Gottes ausgerichteten Theologie. So wurden beispielsweise die rhetorikfeindlichen Töne Bohrens gehört, aber nicht klar genug erkannt, daß sich hier eine neuartige, an der biblischen ebenso wie an der dichterischen Sprache orientierte Rhetorik abzeichnete. Diese Predigtlehre avancierte zum unbestrittenen, aber wenig gelesenen Klassiker. Bis heute hat keine Predigtlehre wieder vermocht, Theologie und homiletisches Handwerk zu einem ähnlich geschlossenen, ähnlich inspirierenden Entwurf zu verknüpfen. Predigt als Kunstwerk, Rezeptionsästhetik, poetische Sprache, homiletische Schriftauslegung, Pneumatologie, Biographie - manche Visionen, die der Verfasser damals hatte, werden heute, oft unter anderem Etikett, von der Homiletik eingeholt. Ich halte das für einen bemerkenswerten Vorgang. Es scheint durchaus möglich, daß "Blitzlichter", wie sie zu Beginn dieser Überlegungen die homiletische Szene im deutschsprachigen Raum erhellten, im nächsten Jahrzehnt erfreulicher ausfallen.
Fussnoten:
1 Bernard Reymond: Coup dil sur le renouveau de lhomilétique aux États-Unis, in: Cahiers de lIRP, Nr. 9, 1991, 2-9, hier 2 (Übersetzungen aus dem Amerikanischen und dem Französischen von mir, M. N.).
2 Henning Schröer, Zwischen Beliebigkeit und Monotonie. Was tut sich in der evangelischen Homiletik?: BiLi 67 (1994) 214-218.
3 Ein US-amerikanisches Blitzlicht auf unsere deutsche Situation zu bekommen, ist nicht einfach, da die deutsche Homiletik jenseits des Atlantik kaum noch wirklich wahrgenommen wird.
4 Richard Lischer, Die Homiletik in der Wissenschaftskrise der Theologie, in: Die Predigtanalyse als Weg zur Predigt, hrsg. v. Rudolf Bohren und Klaus-Peter Jörns, Tübingen 1989, 33-51, hier 34.
5 Vgl. Albrecht Grözinger, Der Gottesdienst als Kunstwerk: PTh 81 (1992) 443-453.
6 Vgl. Friedrich Wintzer, Art. Predigt IX. Evangelische Predigt im 19. und 20. Jahrhundert, in: TRE 27, 311-330 [1996].
7 Vgl. Martin Nicol, Preaching from Within. Homiletische Positionslichter aus Nordamerika: PTh 86 (1997) 295-309. In diesem Aufsatz zeichne ich die Entwicklung nach und verweise auf Schwerpunkte der Diskussion. Die Fußnoten in meinem Aufsatz bieten eine Fülle von Hinweisen auf homiletische Literatur. Vgl. auch Jeffrey T. Myers, Unfinished "Errand to the Wilderness". Tendenzen und Schwerpunkte der Homiletik in den USA 1960-1985, EHS.T 581, Frankfurt/M. u. a. 1996.
8 Vgl. Klaus-Peter Jörns, Vorwort, in: Die Predigtanalyse als Weg zur Predigt, hrsg. v. Rudolf Bohren und Klaus-Peter Jörns, Tübingen 1989, 7 ff.
9 Bruce E. Shields, Rez. zu Myers (s. o. Anm. 7) in: Homiletic 21 (1996) H. 1, 7 ff.
10 Myers (s. o. Anm. 7), 213.
11 Als initiales Werk ist zu nennen: Fred B. Craddock, As One Without Authority, Nashville 1971, 31979.
12 Vgl. ein neues Lehrbuch, das durchgängig Predigt als Ereignis versteht: Paul S. Wilson, The Practice of Preaching, Nashville 1995.
13 Vgl. Walter J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London/New York 1982, 135-138. Dieses Buch ist inzwischen zum Standardwerk für das Phänomen der Orality geworden.
14 Richard A. Jensen, Thinking in Story. Preaching in a Post-literate Age, Lima (USA) 1993, 7.
15 Vgl. neuerdings den durchgeführten Vergleich zwischen Predigt und Aufführung einer musikalischen Partitur: Mike Graves, The Sermon as Symphony. Preaching the Literary Forms of the New Testament, Valley Forge 1997; vgl. auch Thomas H. Troeger, Imagining a Sermon, Nashville 1990, bes. 67-88.
16 Vgl. Richard Lischer, "Performing" the Scriptures: PTh 84 (1995) 136-149.
17 Ein programmatisches Buch hat ein Alttestamentler verfaßt: Walter Brueggemann, Finally Comes the Poet. Daring Speech for Proclamation, Minneapolis 1989. Bereits klassisch geworden ist Thomas G. Long, Preaching and the Literary Forms of the Bible, Philadelphia 1989. Dem Anliegen, Predigt in Nähe zur Poesie oder überhaupt zur Kunst zu konzipieren, widmet sich vielfach Thomas H. Troeger; vgl. u. a. ders., A Poetics of the Pulpit for Post-Modern Times, in: Intersections. Post-Critical Studies in Preaching, hrsg. v. Richard L. Eslinger, Grand Rapids 1994, 42-64.
18 John S. McClure, The Roundtable Pulpit. Where Leadership and Preaching meet, Nashville 1995; Lucy Atkinson Rose, Sharing the Word. Preaching in the Roundtable Church, Louisville 1997.
19 Vgl. Rose, aaO. 121-131.
20 Britische, irische und skandinavische Pfarrerinnen und Pfarrer haben nach meiner Kenntnis vereinzelt das amerikanische Programm absolviert. Neuer Direktor des Programms ist Richard A. Jensen.
21 Vgl. Carol M. Norén, The Woman in the Pulpit, Nashville 1992.
22 Vgl. Kathy Black, A Healing Homiletic. Preaching and Disability, Nashville 1996.
23 Vgl. Henry H. Mitchell, Black Preaching. The Recovery of a Powerful Art, Nashville 1990.
24 Vgl. für die älteren Werke den gründlichen Literaturbericht von Eberhard Hauschildt, Homiletische Literatur in den USA: PTh 76 (1987) 142-152.
25 Concise Encyclopedia of Preaching, hrsg. v. William H. Willimon u. Richard Lischer, Louisville 1995.
26 Fred B. Craddock, Preaching, Nashville 1985; Thomas G. Long, The Witness of Preaching, Louisville 1989.
27 David Buttrick, Homiletic. Moves and Structures, Philadelphia 1987.
28 Paul S. Wilson, s. o. Anm. 12.
29 Richard Lischer, The Preacher King. Martin Luther King, Jr., and The Word That Moved America, New York/Oxford 1995.
30 Vgl. Rudolf Bohren, Wirkendes Wort. Der Prediger als Geburtshelfer einer neuen Nation: EK 29 (1996) 727 f. Vgl. auch meine eigene ausführliche Rezension: PTh 87 (1998) 188 f.
31 Vgl. Friedrich Mildenberger, Biblische Dogmatik I, Stuttgart u. a. 1991, 11-18.
32 David Buttrick, Teaching Preaching in a New Century, in: Preaching on the Brink. The Future of Homiletics, FS Henry H. Mitchell, hrsg. v. Martha J. Simmons, Nashville 1996, 75-83, hier 79.
33 Vgl. Martin Nicol: In den Spuren von Alexandre Vinet. Neue Wege der französischsprachigen Homiletik: IJPT = International Journal of Practical Theology 2 (1998), Heft 2, 188-199.
34 Bernard Reymond, Homilétique et théologie. Pour une réévaluation de leurs rapports, in: Cahiers de lIRP Nr. 9, 1991, 18-34, hier 21.
35 Karl Barth, La proclamation de lEvangile, Neuchâtel (Delachaux et Niestlé) 1961. Es handelt sich um eine eigenständige Bearbeitung des Seminarmaterials von 1932/33, das in deutscher Sprache erst 1966 publiziert wurde: Karl Barth, Homiletik, Zürich 1966.
36 Fred B. Craddock, Prêcher, Genève 1991.
37 S. o. Anm. 1.
38 Le défi homilétique. Lexégèse au service de la prédication, hrsg. v. Henry Mottu u. Pierre-André Bettex, Genève 1994.
39 Vielleicht ist es zukunftsweisend, daß ausgerechnet Gerd Theißen, der Neutestamentler, den Reigen der Beiträge zu dem Sammelband eröffnet. Vgl. Gerd Theißen, Le langage de signes de la foi. Réflexions en vue dune doctrine de la prédication, in: Le défi homilétique (s. o. Anm. 38), 15-118.
40 Vgl. Martin Nicol, Im Ereignis den Text entdecken. Überlegungen zur Homiletischen Schriftauslegung, in: Einfach von Gott reden, Festschrift für Friedrich Mildenberger, hrsg. v. Jürgen Roloff u. Hans G. Ulrich, Stuttgart u. a. 1994, 268-281.
41 Bernard Reymond, De vive voix. Oraliture et prédication, Genève 1998.
42 Jean-François Zorn, LHomilétique dans tous ses états. À propos dun livre récent: ETR 70 (1995) 105-110, hier 110.
43 Manfred Josuttis, Von der göttlichen Dynamik des Evangeliums, in: Predigen aus Leidenschaft. Homiletische Beiträge für Rudolf Bohren zum 75. Geburtstag, hrsg. v. der Evang. Akademie Baden, Herrenalber Forum Bd. 16, Karlsruhe 1996, 10-30; ders., Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, bes. 50-66 (Die Heilige Schrift) u. 102-118 (Das heilvolle Wort). Vgl. auch die Fortsetzung seiner bisherigen homiletischen Arbeit in: Manfred Josuttis, Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit. Homiletische Studien 2, Gütersloh 1995.
44 Einführung 109.
45 Vgl. ebd. 106.
46 Ebd. 110.
47 Ebd. 107.
48 Ebd. 110.
49 Ebd. 110.
50 Ebd. 112.
51 Ebd. 104.
52 Vgl. Dynamik 11.
53Vgl. Lischer, Die Homiletik in der Wissenschaftskrise der Theologie (s. o. Anm. 4).
54 Bernard Reymond, Le prédicateur, "virtuose" de la religion: Schleiermacher aurait-il vu juste?, in: ETR 72 (1997) 163-173.
55 Vgl. ebd. 166.
56 Vgl. ebd. 170.
57 Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996.
58 Klaus Müller, Homiletik. Ein Handbuch für kritische Zeiten, Regensburg 1994.
59 Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994.
60 S. o. Anm. 39.
61 Hartmut Genest, Karl Barth und die Predigt. Darstellung und Deutung von Predigtwerk und Predigtlehre Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 1995.
62 Sabine Bobert-Stützel, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995, 207-250.
63 Gerhard Marcel Martin, Predigt als "offenes Kunstwerk"? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik: EvTh 44 (1984) 46-58.
64 Christian Möller, Der Hörer als zweiter Prediger. Zur Bedeutung der Rezeptionsästhetik für die Homiletik, in: Predigen aus Leidenschaft (s. o. Anm. 43), 31-46.
65 Albrecht Grözinger, Mit dem Anfang anfangen. Anfängliches Predigen in einer Gesellschaft des Multikulturalismus, in: Predigen aus Leidenschaft (s. o. Anm. 43), 61-78.
66 Elisabeth Grözinger, Dichtung in der Predigtvorbereitung, EHS.T 446, Frankfurt/M. u. a. 1992.
67 Walter Brueggemann, s. o. Anm. 17.
68 Vgl. Klaus Raschzok, Lebensgeschichte und Predigt. Zur biografischen Dimension der Homiletik: PTh 81 (1992) 98-116.
69 Friedrich Langsam, Helmut Thielicke. Konkretion in Predigt und Theologie, Stuttgart 1996.
70 Rainer Oechslen, Resonanz. Walter Lüthi als Vorbild der Predigtkunst. Mit Erinnerungen von Rudolf Bohren, Zürich 1997.
71 Andreas Richter-Böhne, Unbekannte Schuld. Politische Predigt unter alliierter Besatzung, CThM.C 14, Stuttgart 1989; Christiane Burbach, Argumentation in der "politischen Predigt". Untersuchungen zur Kommunikationsstruktur in theologischem Interesse, Erfahrung und Theologie Bd. 17, Frankfurt/M. u. a. 1990; vgl. neuerdings auch Friedrich Wintzer, Die politische Predigt in der Neuzeit, in: Theologisches geschenkt. FS Manfred Josuttis, hrsg. v. Christoph Bizer u. a., Bovenden 1996, 352-358.
72 Vgl. Eberhard Hauschildt, Gelingende Predigten im DDR-Herbst 1989 und BRD-Monographien zur politischen Predigt: PTh 81 (1992) 131-136.
73 Jürgen Ziemer, Die Bibel als Sprachhilfe zum Bibelgebrauch in den Kirchen während der "Wende" im Herbst 1989: PTh 81 (1992) 280-291.
74 Da nobis pacem. Herbst 89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten, hg. v. Günter Hanisch, Gottfried Hänisch, Friedrich Magirius u. Johannes Richter, Berlin 1990, 21996.
75 Karl-Hermann Kandler, Situationsbezogene Verkündigung. Die Predigt während der "Wende" 1989/90 in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Berlin 1996.
76 Karl-Fritz Daiber, Predigt als religiöse Rede. Homiletische Überlegungen im Anschluß an eine empirische Untersuchung, Reden und Hören Bd. 3, München 1991.
77 Karl-Fritz Daiber u. a., Predigen und Hören. Ergebnisse einer Gottesdienstbefragung, 2 Bde., München 1980/1983.
78 Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik, Prämissen - Analysen - Konsequenzen, Tübingen/Basel 1993.
79 Vgl. Wilfried Engemann, "Unser Text sagt ..." Hermeneutischer Versuch zur Interpretation und Überwindung des "Texttods" der Predigt: ZThK 93 (1996) 450-480.
80 Ebd. 476.
81 Jan Hermelink, Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems, APTh 24, Göttingen 1992.
82 Wolfgang Bub, Evangelisationspredigt in der Volkskirche. Zu Predigtlehre und Praxis einer umstrittenen Verkündigungsgattung, Stuttgart 1990.
83 Tilman Walther-Sollich, Festpraxis und Alltagserfahrung. Sozialpsychologische Predigtanalysen zum Bedeutungswandel des Osterfestes im 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1997.
84 Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt, 2 Bde., Düsseldorf 1987/1992.
85 Albert Damblon, Frei predigen. Ein Lehr- und Übungsbuch, Düsseldorf 1991.
86 Eberhard Hauschildt hat über seine Erfahrungen mit den Ratschlägen dieses Buches in einer Rezension berichtet: PTh 83 (1994) 88 f.
87 Albert Damblon, mundart. Damblons kleine Predigtlehre, Aachen 1997.
88 Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1990, 21992.
89 Vgl. zu Zerfaß und Bukowski: Eberhard Hauschildt, Von der Predigt zum Text. Beobachtungen an zwei homiletischen Übungsbüchern und Predigten ihrer Autoren: PTh 83 (1994) 82-87.
90 Ulrich Nembach, Predigen heute - ein Handbuch, Stuttgart u. a. 1996.
91 Vgl. etwa die Kapitel zu Schleiermacher (44-70), zur Predigt in der Reformationszeit (215-225) oder zur Kanzel (226-241).
92 Handbuch der Predigt, bearbeitet von Karl-Heinrich Bieritz u. a., Berlin 1990.
93 Vgl. Martin Nicol, Auf der Suche nach Predigt. Über homiletische Erfahrungen in der Praktischen Theologie: DtPfBl 93 (1994) 355-357.
94 Vgl. Jörg Rothermundt, Predigt als freie Rede. Erinnerung an ein verdrängtes Problem: WPKG 68 (1979) 68-85.
95 Vgl. v. a. Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart u. a. 1976.
96 S. o. Anm. 85.
97 S.o. Anm. 47.
98 S. o. Anm. 14.
99 Rudolf Bohren, Predigtlehre, München 11971, 41980.