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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

578–580

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Nichtweiß, Barbara

Titel/Untertitel:

Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1992. XVII, 966 S. gr. 8o. geb. DM 85,-. ISBN 3-451-22869-6.

Rezensent:

Claus-Peter März

Erik Peterson gehört ohne Zweifel - schon der Briefwechsel zwischen K. Barth und R. Bultmann macht es deutlich - zu den theologischen "Pionieren" unseres Jh.s. Ebenso deutlich ist freilich, daß P. heute weithin vergessen und sein Werk fast nur noch von Spezialisten rezipiert wird. Dieser Tatbestand ist der Hintergrund der fast 1000 Seiten umfassenden P.-Gesamtdarstellung von B. Nichtweiß. Die Vfn. hat nicht nur die Publikationen P.s aufgenommen, sondern auch - erstmals in diesem Umfang - den P.-Nachlaß einsehen und benutzen können. Da bei P. der "Zusammenhang von Leben und Werk" in besonderer Weise ins Gewicht fällt, legte sich - trotz aller Schwierigkeiten, die mit einem solchen Bemühen verbunden sind - eine übergreifende Gesamtdarstellung nahe: "Das Werk eines Theologen, das eine solche tiefgreifende Wendung in sich begreift, kann kaum anders erfaßt werden, als daß zugleich die mit der Biographie verbundene Entwicklung des theologischen Denkens thematisiert wird." (15)

Geht man den einzelnen Abschnitten des Buches nach, dann trifft man auf fast alle entscheidenden Themen, die die Theologie unseres Jh.s bestimmt haben. Der Abschnitt I. - "Einleitung: Ausgangslage und Ziel der Darstellung" (1-25) - bietet u. a. einen Überblick über die bislang unveröffentlichten Texte P.s, die noch geradezu authentisch die Arbeitsweise P.s erspüren lassen (auf P.s legendären "Zettelkasten" geht die Vfn. ausführlich S. 280 ff. ein, eine vollständige Bibliographie seiner Schriften findet sich S. 881-914). Der Abschnitt II. - "Wege zu Glaube und Theologie: Jugend und Studium Petersons" (26-57) - beschreibt Kindheit und Jugend, stellt den Studiengang P.s und jene theologischen Lehrer, die ihn besonders beeinflußt haben, vor. Unter III. - "Ein glühendes Mitglied der Gemeinschaftsbewegung: Nachfolge im Geiste des Pietismus" (58-98) - geht die Vfn. auf das Verhältnis P.s zum Pietismus ein, das zwar nur eine Episode darstellt, dennoch für seine theologische Entwicklung von eminenter Bedeutung war und großen Einfluß auf seine spätere Konversion zur katholischen Kirche gehabt hat. Der Abschnitt IV. - "Zwischen Kierkegaard und der katholischen Kirche: Probleme der christlichen Existenz" (99-201) - trägt der Tatsache Rechnung, daß Kierkegaard ohne Zweifel der entscheidende "geistige Mentor" P.s gewesen ist. Die Vfn. schließt sich weitgehend der Denkweise von F. Scholz an, der P. als ",anderen Kierkegaard' vor(stellt), der in seiner Theologie wie in seiner Biographie (Konversion) den Weg Kierkegaards auch dort verfolgt habe, ,wo dieser ihn gar nicht vorangegangen ist.'" (100) Es wird entfaltet, daß auch die Auseinandersetzungen P.s mit Barth, Bultmann, Hirsch, Althaus im Horizont der Kierkegaard-Rezeption verstanden werden müssen, zugleich wird die Distanz P.s zur "katholischen" Kierkegaard-Deutung durch Przywara herausgearbeitet. Schon seit 1920 sieht sich P. freilich zunehmend vor die Alternative gestellt "Kierkegaard oder die katholische Kirche." (126) Deutlich entfaltet sich das Denken P.s im Anschluß an bzw. im Widerstreit zu zentralen Themen Kierkegaards: Die Bedeutung des Einzelnen, Subjektivität und Objektivität der Sakramente, Christliche Existenz und Martyrium.

Der V. Teil der Untersuchung - "Zwischen Universität, Kirche und Gesellschaft: Konflikte des theologischen Lehrers" (202- 260) - nimmt v.a. die Jahre als Göttinger Privatdozent (1920-24) auf. Die Gedanken P.s zur Frage nach der "Theologie als Beruf" muten dabei ebenso aktuell an wie die Tatsache, daß er sich selbst eigentlich als "berufslosen" Menschen verstand. Diese Sicht gründet auch in der Kritik an einem bürgerlichen Christentum, die scharf und kompromißlos v.a. in der Auseinandersetzung mit E. Hirsch zutage tritt. P. versteht Theologie nicht als "Teilnahme an einer sittlichen Vervollkommnung des Bürgers und der Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern eben im Sinne jener Zweckfreiheit, von der die leitourgia als der Gott geschuldete Lobpreis der Kirche gekennzeichnet ist." (210) Von daher steht Theologie für ihn auch immer in der Bindung an die Kirche: "Glaube ich an keine Kirche mehr, so zerfällt die wissenschaftliche Arbeit zu einem Seelen gefährdenden Nichts." (Tagebucheintrag 1918) Gerade diese von P. geforderte Bindung der Theologie an die Kirche mußte aber angesichts seiner eigenen theologischen Entwicklung für ihn selbst zu jenem theologischen Problem werden, das die Vfn. in die Frage faßt: "Ein ,Kryptokatholik' auf protestantischem Katheder?" (211) P. selbst verweist darauf, daß es ein Treueverhältnis zu der Kirche, in die man hineingetauft sei, gebe. "Nur Gott selber könne ,uns von der Pflicht, der angestammten Konfession treu zu bleiben, suspendieren.'" (211) Sein Versuch, so im Rahmen der protestantischen Theologie den ihm eigenen Platz zu finden und diesem auch vom NT her als legitim zu erweisen, läßt freilich die inneren Spannungen nur noch nachdrücklicher zutage treten.

Das Kap. VI. - "Das Urchristentum im Spannungsfeld der Religionsgeschichte" (261-339) - geht auf die Zuordnung der wissenschaftlichen Arbeit P.s ein. Die Vfn. vermerkt mit Recht, daß man ihn als "einen der letzten Triebe... am Baum der Religionsgeschichtlichen Schule in der engeren Wortbedeutung" sehen kann, näherhin ist er deren dritter Generation zuzuordnen. P. hatte sich v.a. durch seine Dissertation ("Heis Theos") in die religiongeschichtliche Forschung eingearbeitet, hat in der Folgezeit immer wieder Anstöße im großen Problemfeld "Hellenismus, Judentum und Urchristentum" erarbeitet und schließlich entscheidend in die Debatte um die Mandäerfrage eingegriffen. Bemerkenswert sind dabei auch seine kritischen Hinweise zur Methode der religionsgeschichtlichen Arbeit. Darin spricht er sich für eine Ergänzung der rein historischen Fragestellung "durch eine theologische" aus, "und zwar dort, wo das historische Kameraobjekt nicht mehr zu einem historischen Sachverhalt durchdringen kann und sich als in diesem Punkt unbrauchbares Mittel erweist." (298) Daran knüpft die generelle Kritik an die damalige Exegese an, die seiner Meinung nach noch nicht zu dem Ziel, "wieder zu einer theologischen Exegese zu werden, gelangt (ist), sondern... einen Kompromiß zwischen der vergangenen und zukünftigen Fragestellung dar(stelle)." (300)

Auch der Abschnitt VII. - "Die Kunst des Sehens: Phänomenologische Elemente in der Theologie" (340-382) - hat in besonderer Weise mit dem genius loci von Göttingen zu tun. Denn neben "der Religionsgeschichtlichen Schule war die Göttinger Phänomenologie die zweite Forschungsrichtung, von der sich P. nachhaltig beeinflussen ließ." (340) Er mißt den phänomenologischen Überlegungen v.a. propädeutische Bedeutung zu. Besonders ins Auge fällt P.s Vorstellung einer "Phänomenologie des christlichen Glaubens aufgrund seiner sprachlichen Ausdrucksformen" bzw. die "phänomenologische Methode der Schriftauslegung", die am Detail (auch am zunächst marginalen Detail) ansetzend, neu zur "Sache" des Textes vorzustoßen sucht.

Das VIII. Kap. - "Mystik, Engel und Liturgie: Das Buch von den Engeln" (383-456) - nimmt die Beschäftigung mit Mystik und Liturgie auf, in der P. die Grundlage legt "zu einem kirchlichen Verständnis der Mystik als besonderer Erfahrung einzelner Christen bzw. bestimmter Stände der Kirche, einer Erfahrung, die P. zufolge in bestimmten Teilen der Liturgie auch eigens repräsentiert wird." (407). Abschnitt IX. - "Geschichte und Eschatologie" (457-498) - geht einem Thema nach, das P. zwar in seinen Veröffentlichungen nicht besonders hervorgehoben hat, das aber - nach Ausweis der Vorlesungsmanuskripte usw. - sein Denken nachhaltig be-schäftigt hat. Dabei wird deutlich, daß er zwar eine geschlossene Ge-schichtssicht entwickelt hat, in dieser aber von seinem Verständnis der Eschatologie her "der profanen Geschichte als solcher keinen positiven Wert zuerkennt." (498) Das X. Kap. - "Was ist Theologie? Begegnung mit Karl Barth" (499-721) - ist nicht nur der umfänglichste Abschnitt des Buches, sondern eigentlich eine eigene Abhandlung, die die Berührungen zwischen K. Barth und P. auf unterschiedlichen Ebenen verdeutlicht. Dabei erweist sich der biographische Hintergrund in vielfacher Weise als ungemein fruchtbar für die Verdeutlichung der theologischen Berührungen zwischen beiden Theologen. Die Vfn. handelt die theologische Diskussion in vier entscheidenden Themenkreisen - "Wort Gottes und Menschenwort", "Die Heilige Schrift und ihre Interpretation", "Theologie, Dogma und Recht", "Die Dialektik der Theologie" - ab. Bemerkenswert ist, daß die Vfn. gerade hinsichtlich des Bemühens, einen Gesamtentwurf der Dogmatik erstellen zu wollen, Reserven P.s gegenüber Barth feststellt. P., der schon 1919 feststellte, daß die "Wahrheit, welche in der Diskontinutät des Wirklichen lebt, ...nicht in der Kontinuität wissenschaftlich dialektischen Verfahrens sich darstellen (kann)", lehnte Gesamtdarstellungen des christlichen Glaubens ab und machte dies nicht nur gegenüber dem Entwurf von Barth geltend. "Gott spreche ,nicht in gegliederten Perioden, sondern in Logien', und darum stehe ,der Aphorismus bzw. das Fragment der religiösen Mitteilung näher als das Buch.'" (721)

Der Abschnitt XI. - "Politische Dimensionen der Theologie" (722-830) - erörtert die politischen Dimensionen der Theologie P.s, die besonders im Gespräch bzw. im Konflikt mit Carl Schmitt sichtbar werden. Der Abschnitt XII - "Erik Petersons Konversion und sein Leben als Katholik" (831-875) - beschreibt die Konversion P.s, verdeutlich die Probleme der Integration P.s und seines theologischen Ansatzes in die katholische Kirche und die katholische Theologie und verweist auf die Schwierigkeiten der römischen Periode in P.s Leben (die Vfn. überschreibt diese Zeit treffend mit "Römische Mangeljahre", "Zwischen Anerkennung und Vergessensein"). Deutlich wird dabei, daß P. sein generelles Fragen nach der Theologie wie selbstverständlich auch in die katholische Kirche hinübertrug und seine Theologie so eine Frage an beide Kirchen darstellt. Absatz XIII. - "Schluss: Zur Bedeutung Erik Petersons für die Theologie unserer Zeit" (876-880) - vermerkt , daß P.s Lebenswerk nicht zuletzt um die Frage der Verbindung von Glauben und historischer Kritik kreist. "Vor einem solchen Forum historischer Kritik braucht sich auch die Kirche nicht ängstlich zu verwahren, auch und gerade, wenn die Ergebnisse dieser Forschung keineswegs nur den status quo des gegenwärtigen kirchlichen Lebens und der Theologie bestätigen, sondern vielmehr oft verschüttete Quellen freilegen, aus denen sich eine ecclesia reformanda immer wieder regenerieren sollte." (878)

Auch wenn nur die entscheidenden Ansatzpunkte des Buches angezeigt werden konnten, so verdeutlicht doch schon diese Übersicht, daß in P. die Brennpunkte des theologischen Aufbruchs am Anfang unseres Jh.s sichtbar werden und in ihnen zugleich die entscheidenden Fragerichtungen aufscheinen, vor die sich die Theologie bis heute immer wieder gestellt sieht. Die Studie ist in ihrem kompakten Entwurf und ihrer akribischen Ausführung nicht nur ein verläßlicher Reiseführer auf einem spannenden theologischen Weg, sondern erweist sich auch als "Schlüsseltext", der P. erstmalig in dieser Breite zugänglich gemacht hat. Zugleich stellt das Buch seinerseits einen beachtlichen systematischen Entwurf dar, der die "Lesart" der Schriften P.s weiterhin maßgeblich bestimmen wird.