Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

700 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ebert, Klaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantische Mystik. Von Martin Luther bis Friedrich D. Schleiermacher. Eine Textsammlung.

Verlag:

Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996. 340 S. gr.8. Geb. DM 56,-. ISBN 3-89271-573-4.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Mystik entsteht, "wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten" (Nietzsche). Demnach ist es nicht verwunderlich, daß gerade in der gegenwärtigen Postmoderne - wie so oft zu Krisenzeiten einzelner Menschen und ganzer Epochen - die Mystik in vielerlei Gestalt wieder blüht und auf großes inner- wie außerkirchliches, ja auch kirchenkritisches Interesse stößt. Allerdings gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Mystik eigentlich ist, und eine allgemein akzeptable Begriffsbestimmung zu finden, fällt immer noch schwer.

Klaus Ebert, Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg, klärt mit seinem vorliegenden Buch zumindest eines von vielen Vorurteilen auf, das insbesondere in protestantischen Kreisen beheimatet ist, nämlich daß Mystik ein typisch "katholisches" Phänomen sei. Schon Adolf v. Harnack hat zu Beginn des Jahrhunderts dieses Vorurteil auf den Punkt gebracht: "...wer Mystiker sei, ohne katholisch zu werden, sei Dilettant" (52). Und nicht zuletzt die schroffe Entgegensetzung von Mystik und dem "Wort", wie sie im Gefolge der dialektischen Theologie (hier v. a. Emil Brunner) üblich geworden ist, mag dieses Vorurteil verfestigt haben.

E.s Anliegen ist es nun (ähnlich wie Walter Nigg in seinem 1959 erschienenen Buch "Heimliche Weisheit. Mystisches Le-ben in der evangelischen Christenheit"), durch seine gut zubereitete und ein breites Spektrum widerspiegelnde Quellensammlung, wobei jeder Textgruppe eine hilfreiche biographische Notiz zu den jeweiligen Autoren vorangestellt wird, zu belegen, daß es auch eine spezifisch "protestantische" Mystik gibt. Und dies nicht nur als marginales Rinnsal neben den bedeutenden theologischen Entwürfen der Reformation, der altprotestantischen Orthodoxie, des Pietismus und der Aufklärung, sondern durchaus als beachtlicher Strom und auch in Verbindung mit weithin bekannten Namen: Luther, Arndt, Böhme, Spener, Francke, Oetinger, Tersteegen und Schleiermacher, um nur einige der insgesamt 28 von E. zusammengestellten Theologen und religiösen Dichter zu nennen.

Deren chronologisch angeordneten Texten ist eine instruktive, gefällig geschriebene und fast schon monographische Einleitung (15-99) vorangestellt, die nicht nur als vorbereitender Kommentar zu den ausgewählten Textauszügen hilfreich ist, sondern auch eingängig das Phänomen der christlichen Mystik von ihren umstrittenen Ursprüngen im Neuen Testament an im Kontext der gegenwärtigen Rationalismuskritik verstehbar macht. Daß Mystik aber nicht nur als Gegenwendung zur Rationalität, sondern auch als deren Verbündete auftreten kann, wird dabei erfreulicherweise nicht übersehen. Unter diesem Aspekt unterscheidet sich E. vor allem von der o. g. Darstellung Niggs, der die Mystik eher als Form einer auch evangelischen Frömmigkeit gleichsam abseits der Theologie betrachtet.

Wenn in E.s Textsammlung aber auch Philosophen wie Ha-mann, Fichte und Hegel zu finden sind, kann das allerdings unter dem Titel "Protestantische Mystik" befremden und seitens der Fachgelehrten Widerspruch provozieren, auch wenn die Genannten im Blick auf ihre Biographie und religiöse Sozialisation einem dezidiert protestantischen Milieu angehören mögen. Vielleicht wäre hier - wenn überhaupt - vorsichtiger und darum besser von (philosophischer) Mystik auf protestantischem Boden statt prägnant von protestantischer Mystik zu reden.

Doch um das zu entscheiden, muß zunächst aufgenommen werden, was E. unter protestantischer Mystik versteht. Vorweg gesagt geht es natürlich bei dieser Kennzeichnung nicht darum, eine konfessionelle Konfrontation im Blick auf die Mystik aufzubauen. Denn Mystik ist bei allen Unterschieden ein "ökumenisches", ja interreligiöses Phänomen. Aber wenn das Ziel der Mystik generell das Erreichen oder Freilegen einer "unio mystica", einer unmittelbaren Einheit, einer "Verschmelzung" (30) von Mensch und Gott(-heit) ist, dann wäre E. zufolge die Eigentümlichkeit einer protestantischen Mystik darin zu sehen, daß sie diese Einheit immer nur "in gebrochener Form" (9, 63 u. ö.) kennt. Diese Gebrochenheit ergibt sich, abgekürzt gesagt, zum einen aus der Erfahrung der Rechtfertigung des Sünders, der auch als Gerechtfertigter vor Gott noch Sünder an ihm selbst bleibt (simul iustus et peccator), und zum anderen aus einem eschatologischen Vorbehalt: Die Einheit von Mensch und Gott wäre dann wohl im Bewußtsein antizipiert, aber real erst im Eschaton erfahrbar (42), und nicht schon im "nunc aeternum" einer vom Heil erfüllten Gegenwart.

Doch wenn das so ist, dann legt sich - abgesehen von notwendigen theologischen Differenzierungen zwischen Kreatürlichkeit, Endlichkeit und Sünde, die bei E. zu verwischen drohen (z. B. 55, 66) - allerdings die grundsätzliche Frage nahe, ob eine "ge-brochene" unio mystica unter eschatologischem Vorbehalt noch eine unio mystica sein kann, bzw. ob dann noch mit einer gewissen Trennschärfe diese spezifisch "protestantische" Mystik noch Mystik genannt werden sollte. Denn die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und/oder gebrochener Einheit betrifft nicht ein Akzidenz, sondern die Substanz der Mystik im strengen Sinne. Anders wäre es, wenn man, wie es E. nahezulegen scheint, eine auch institutions- und gesellschaftskritische Wende zur Subjektivität mit einer eigenen Form von "praxis pietatis" für das Entscheidende der Mystik im weiteren Sinne hält (76).

In Aufnahme von E.s These hätte es sich dann angeboten, die Traditionslinien einer protestantischen Mystik noch über Schleiermacher hinaus auszuziehen, um mindestens auch auf Albert Schweitzer zu sprechen zu kommen. Denn Schweitzers "Denkmystik" würde das am deutlichsten repräsentieren, was E. unter "gebrochener Einheit" unter eschatologischem Vorbehalt versteht.

Insgesamt ist es E. mit seinem Buch gelungen, eine ansprechende Quellensammlung mit den nötigen Vorinformationen und Kommentierungen anzubieten, die vor allem in universitären wie außeruniversitären Seminaren, aber auch im Religionsunterricht an Schulen (Oberstufe) ihren guten Dienst tun kann. Hinweise auf ein- und weiterführende Sekundärliteratur in der sich auf Quellennachweise beschränkenden "Auswahlbibliographie" (339 f.) hätte diesen Nutzen noch steigern können.