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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

698 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beyer, Gudrun

Titel/Untertitel:

Rechtfertigungstheologisch denken. Rudolf Bultmanns Kerygmatheologie aus exegetischen, genetischen und systematischen Perspektiven.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris- Wien: Lang 1996. 278 S. 8. 560. Kart. DM 84,-. ISBN 3-631-48948-X.

Rezensent:

Otto Pöggeler

Diese Göttinger Dissertation erkennt an, daß Rudolf Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments reformatorisch der Rechtfertigung aus dem Glauben folgt. Der leitende Nachweis gilt dem Paradigmawechsel von einer kantischen und erkenntnistheoretischen Begründung der Theologie zu einem hermeneutischen Ansatz bei der Geschichtlichkeit des Menschen. Anzeichen dafür, daß Bultmann sich der liberalen Theologie entzieht, gibt es seit 1917; 1922 ist mit der Aufnahme von Barths Römerbrief jene Wende erreicht, die über eine dialektische Theologie nach 1925 zur Kerygmatheologie führt. Diese Kerygmatheologie wird mit Heideggers existentialer Interpretation ausgearbeitet; so erreicht Bultmann den hermeneutischen An-satz, der den Glauben nunmehr in geschichtlicher Weise als Korrelat des Heilsereignisses faßt.

Ausführlich wird dargelegt, wie Bultmann durch seinen Lehrer Wilhelm Herrmann geprägt wurde. Mit Herrmann grenzte er sich von der Orthodoxie wie von der Aufklärung ab, die im Glauben allgemeine Gedanken über Gott annahmen. Da der Mensch in seiner sittlichen Selbstbestimmung mit der Welt nicht voll eins werden kann, setzte Herrmann auf das "unbedingte" Vertrauen in Jesus als den Christus. Doch nach Bultmanns Auffassung faßte Herrmann den Menschen nicht entschieden genug als Sünder, der des Offenbarungswortes jenseits seiner Einsicht bedarf.

Bultmann suchte 1920 ethische und kultische Religiosität zu verbinden. Die Übernahme der dialektischen Theologie führte zu Kierkegaard, der das Endliche nur im Paradox mit dem Ewigen verbinden kann. Doch nicht der historische Jesus, sondern der Osterglaube der Gemeinde wird mit Wrede als Ursprung der Paulinischen Theologie ausgemacht. In der Kerygmatheologie soll aber die Sachexegese unterscheiden zwischen dem, was in der Weitergabe der Offenbarung gesagt und was wirklich ge-meint ist. Heideggers Rückbezug des Existentiellen im Existieren auf das Formal-Sachliche der Existentialien weist den Weg zur existentialen Interpretation. Ausführlich wird gezeigt, wie Bultmann die existentiale Analyse von "Sein und Zeit" theologisch nutzt.

Die Exegese der Paulinischen "dikaiosyne theou" dient ab-schließend zur "materialen Ausweisung" der Kerygmatheologie. Was wenigstens das frühe und ursprünglichere Judentum als Heilsgabe erfuhr, wurde mit dem gnostischen Denken vermittelt, das in der fremden Welt dem Ruf des Retters folgte. Wenn die neuere Forschung die Einheitlichkeit der Gnosis und ihre Beziehung auf einen zentralen Urmensch-Erlöser-Mythos in Frage stellte, so wird durch diese Korrektur Bultmanns theologischer Ansatz nicht diskreditiert. Doch mußte ein Bultmannschüler wie Käsemann die "Unweltlichkeit" als Ort des Gottesverhältnisses ersetzen durch eine erfülltere, "gemeinschaftlich gelebte Geschichte". So konnte die Offenbarung nicht mehr mit Bultmann reduziert werden auf ihr nacktes "Daß".

Die Arbeit vermag es, Bultmanns Motive als genuin christlich und reformatorisch zu erweisen. Sicherlich kann man im einzelnen die Gewichte anders legen - etwa geltend machen, daß Bultmanns Anfänge durch Schleiermacher und dessen Verarbeitung bei Rudolf Otto bestimmt waren, ehe sich in Marburg die Gruppe um Heidegger und Bultmann von Rudolf Otto schroff trennte. Sollte man statt auf die Verarbeitung des fragmentarischen Buches "Sein und Zeit" nicht auf die konkrete Zusammenarbeit zwischen Heidegger und Bultmann sehen? Heidegger hat gleich nach seiner Übersiedlung nach Marburg, im Februar 1924, seine Gedanken in Bultmanns Seminar über die Ethik des Apostels Paulus vorgetragen; der Phänomenologe und der Exeget haben dann an den freien Samstagen gemeinsam das Johannes-Evangelium gelesen. In einem längst publizierten Brief an Elisabeth Blochmann vom 8. August 1928 verwarf Heidegger aber seinen Vortrag über Phänomenologie und Theologie als einen allzu einseitig fixierten Irrweg, zu dem die Marburger Situation verführt hatte. Als Heidegger 1928 nach Freiburg übersiedelte, sagten Bultmann und Heidegger zueinander Du; aber in der Sache war die Gegnerschaft gegeben: Heidegger ging nun aus von Nietzsches Infragestellung der Tradition. Bultmann legte dann in der Festschrift für Karl Barth einen Grundtext Heideggers, die "Antigone" des Sophokles, als Hinweis auf die nötige Offenbarung aus. Während Bultmann in der Entmythologisierung die Konsequenz der existentialen Interpretation als Zurückführung der überlieferten Texte auf das uns Verständliche durchführte, nahm Heidegger in neuer Weise das Mythische und von ihm her Hölderlins Dichtung als Partner der Philosophie.

Der Briefwechsel Heidegger-Bultmann, der für die Publikation (im Verlag Klostermann) vorbereitet worden ist, zeigt die Gegensätzlichkeit der Wege in der bleibenden persönlichen Freundschaft.

Außerhalb des Buches der Autorin liegt auch, wie Bultmanns Schüler sich oft bei ihrem Aufstand gegen ihren Lehrer nicht nur auf eine neue Theologie des Alten Testamentes bezogen, sondern auch auf Heideggers seinsgeschichtliches Denken.

Bultmann selbst hat sich noch auf die späteren Gedankengänge der gemeinsamen Schüler Gerhard Krüger und Hans Jonas eingelassen und auf Schubert M. Ogdens Forderung einer Philosophischen Theologie geantwortet. Gerade in England und Amerika ließ die Theologie sich durch die Rede "Gott ist tot" über eine metaphysische oder substanzialistische Theologie hinausführen. Thomas Sheehan, der die Wege des frühen Heidegger herausstellte, hat 1986 seinem Buch "The First Coming" den polemischen Untertitel "How the Kingdom of God Became Christianity" gegeben. Der neue Bezug auf den historischen Jesus führt dabei in der Weise über Bultmann hinaus, daß Jesus, aller Hoheitstitel entkleidet, als "Hermeneut" menschlichen Daseins z. B. auf die Partizipation in den mittel- und südamerikanischen Befreiungswegen verweist. Dieser Weg ist auch bekannt von den Kindern jener Theologen, deren Bücher mit und gegen Bultmann in der Tat zum Leben führen sollten.