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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

696–698

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht

Titel/Untertitel:

Lichtenberg und die Religion. Aspekte einer vielschichtigen Konstellation.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. 328 S. gr. 8 = Beiträge zur historischen Theologie, 93. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-146570-9.

Rezensent:

Gottfried Hornig

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), der Göttinger Experimentalphysiker und Mathematiker, der zugleich ein geistreicher Aphoristiker, Kritiker und Kalendermacher gewesen ist, hat sich auch zu den Themenbereichen von Religion und Theologie geäußert. Die protestantische Frömmigkeits-, Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung hat sich dafür kaum interessiert. Es ist das Verdienst der vorliegenden Tübinger Habilitationsschrift, diesen weithin gänzlich unbekannten Komplex an Lichtenbergschen Gedanken erfaßt, strukturiert und sorgfältig analysiert zu haben. Eine höchst eigenwillige Gelehrtengestalt der Aufklärungszeit tritt uns auf diese Weise in ihrer Frömmigkeit, Privatreligion und Inanspruchnahme des Christlichen entgegen.

Einleitend wird zunächst eine Darstellung der von Kant beeinflußten Erkenntnistheorie Lichtenbergs (A; 12-48) und seiner Sprachauffassung (B; 49-72) geboten, die mit ihrer Grundthese, Philosophie sei Sprachkritik und Berichtigung des Sprachgebrauchs, den Göttinger Gelehrten als einen Vorläufer der modernen analytischen Philosophie erscheinen läßt. Erkenntnistheorie und Sprachauffassung bilden die hermeneutische Voraussetzung für den Hauptteil der Untersuchung, die Lichtenbergs Theorie der Religion in drei Aspekten genauer zu erfassen sucht. Gefragt wird, in welcher Weise die Religion bei Lichtenberg präsent ist (C I; 73-143), wie er sie wahrgenommen (C II; 144-240) und mit welchen Argumenten er sie kritisiert hat (C III; 241-259). Den Abschluß bildet ein Exkurs über Lichtenbergs Verhältnis zur Göttinger Theologischen Fakultät (260-265).

Daß die christliche Religion bei einem Pfarrerssohn in Bibelzitaten und biblischen Anspielungen präsent ist, vermag nicht zu überraschen. Auffallender sind die Transformationen des Religiösen durch Metaphorisierung, Relativierung und Profanierung ursprünglich religiös denotierter Worte und Ausdrucksweisen. Mit Vorliebe hat L. dogmatisch zentrale, aber nicht mehr geteilte trinitarische, christologische, hamartologische und eschatologische Lehrbildungen metaphorisiert. Aus der Konfrontation von Religion und Naturwissenschaft erwächst jedoch weder eine Preisgabe des Herzensglaubens noch ein Verzicht auf das persönliche Gebet. Eine Reduktion der Religion auf Ethik bzw. Ethos hat L. nicht vollzogen. Religion und Frömmigkeit sind für ihn keine rein intellektuelle Angelegenheit, sondern bleiben in die unauflösbare Spannung von Kopf und Herz, Verstand und Gefühl eingebunden.

Die Stellung zu den vorfindlichen Gestalten der Religion ist von dem Bewußtsein aufgeklärter protestantischer Identität bestimmt und zeigt eine Reihe von Abgrenzungen: einen Antisemitismus und Antikatholizismus, die Distanz zum Pietismus, die begründete Ablehnung von Lavaters Physiognomik und Proselytenmacherei und schließlich eine ausgeprägte Aversion gegenüber einer Theologie, die er für entbehrlich hielt und der er Weltfremdheit, Vernunftwidrigkeit und dünkelhafte Überheblichkeit vorgeworfen hat. Andererseits läßt sich bei ihm eine gewisse Affinität zur Neologie und kritischen Theologie feststellen. Wie diese Richtungen hat er die Möglichkeit von Got-tesbeweisen bestritten, aber an Gottes Weltenlenkung (gubernatio mundi) und seinem gnädigen Bewahrungshandeln in dankbarem Gottvertrauen festgehalten. Er übernimmt die Wertschätzung der Bibel, aber auch die Auffassung von der dichotomischen Struktur des Menschen, der in seinen Anlagen und Fähigkeiten verbesserungsfähig, also nicht nur Sünder, sondern auch Täter des Guten ist. Die Prägekraft des Dekalogs und der christlichen Ethik hat er vorausgesetzt. Die Toleranzforderung hat er vernünftig und zugleich religiös begründet und die konfessionellen Lehrdifferenzen wegen des gemeinsamen Gottesglaubens als geringfügig eingeschätzt. Die Auffassung, daß L. Pan-theist oder atheistischer Spinozist gewesen sei, muß zurückgewiesen werden. Als überzeugter Protestant ist er für das Lebensrecht der Religion und die Achtung vor der positiven Religionsgestalt eingetreten.

Die beachtenswerte Religionskritik ist teilweise religiös motiviert und umfaßt verschiedenartige Gedanken, Andeutungen und Hypothesen. L. rechnet mit einer Inadäquatheit der anthropomorphen Rede von Gott, ohne jedoch wie L. Feuerbach Gott zu einer bloßen Projektion menschlicher Wunscherfüllungsphantasien zu erklären. In den mythisch-legendarischen Stoffen des Christentums sieht er die Vergegenständlichung menschlicher Vorstellungen und Gedanken am Werk. Zu dieser partiell bibelkritischen Haltung gehört auch die Erwägung, die Offenbarung könne betrügerisch und der religiöse Glaube unbewußter Vorgang einer Sublimierung sein. Bisweilen fühlt man sich bei L. "an die von Nietzsche entlarvungspsychologisch erneuerte Religionskritik erinnert" ( 253). Lichtenbergs Sprachkritik impliziert insofern eine Religionskritik, als sie die Vorstellung problematisiert, daß unsere Worte, Begriffe und Namen stets wirklichkeitsbezogen sind und ihnen demzufolge transzendente Wesen, Personen, Gegenstände oder Vorgänge außerhalb unseres Bewußtseins entsprechen müßten.

Eine Frage des Rez. ist, inwieweit L. die von ihm so scharf getadelte zeitgenössische Theologie in ihrer Vielfalt und in ihren unterschiedlichen Richtungen wirklich zur Kenntnis ge-nommen hat. Man gewinnt den Eindruck, daß dies - mit Ausnahme der Göttinger Theologischen Fakultät - nur beiläufig, eher zufällig und sehr selektiv geschehen ist. Das wissenschaftliche Interesse des Experimentalphysikers war offensichtlich auf andere Dinge gerichtet. Eine Stellungnahme zu dem aufsehenerregenden Fragmentenstreit, den Lessing ausgelöst hatte, sucht man bei ihm vergebens, obwohl dieser Streit doch zeitgeschichtlich und sachlich um vieles wichtiger gewesen ist als die Thematik, die das erwähnte Göttinger Goeze-Gutachten behandelte. Wenn L. die konsequente Unterscheidung von Religion und Theologie forderte und den Theologen das Recht bestritt, für ihre Theologie religiöse Dignität zu beanspruchen (174), so übernimmt er eine Forderung, die Joh. Sal. Semler seit den 70er Jahren wiederholt und nachdrücklich vertreten hatte. Damit erweitern sich die Kenntnisse der historischen Bezüge, in denen L. steht und die der Vf. sachkundig und überzeugend herausgearbeitet hat. Seine Untersuchung verdient als wissenschaftliche Leistung hohe Anerkennung. Sie hat auf Desiderate der Aufklärungsforschung hingewiesen und mit Recht eine interdisziplinäre Arbeitsweise angemahnt, weil die neuzeitliche Theologiegeschichte aufs engste mit der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte verbunden ist. Wegen des Einflusses, den klischeehafte und abqualifizierende Urteile über die Aufklärungstheologie lange Zeit ausgeübt haben und teilweise noch immer ausüben, ist hervorzuheben, daß neuere Forschungsresultate, wie auch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, keine Bestätigung jener Auffassung gebracht haben, wonach die deutsche Aufklärungstheologie eine Epoche der verflachenden ethisierenden Reduktion oder gar ein Verrat an der Reformation und den identitätsstiftenden Traditionen des Christentums gewesen sei.