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Ausgabe:

Juni/1996

Spalte:

583–586

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

(1) Wehr, Gerhard (2) Wehr, Gerhard

Titel/Untertitel:

(1) Esoterisches Christentum. Von der Antike bis zur Gegenwart. Überarb. Aufl.
(2) Spirituelle Meister des Westens. Leben und Lehre.

Verlag:

(1) Stuttgart-Klett-Cotta 1995. 359 S. gr.8o. Lw. DM 58,-. ISBN 3-608-91719-5.
(2) München: Diederichs 1995. 301 S. m. Abb. 8o = Diederichs Gelbe Reihe, 116. DM 26,-. ISBN 3-424-01216-5.

Rezensent:

Josef Sudbrack SJ

Es ist schwierig, einem Autor gerecht zu werden, der jedes Jahr mehrere Bücher auf den Markt bringt, dessen Anliegen man zwar versteht, aber in seiner Ausführung nur zurückweisen kann.

1. Um beim Positiven anzufangen: Wehr verdient durch einige hervorragende Biographien Anerkennung. Was er über Martin Buber, C. G. Jung, Rudolf Steiner, Graf Dürckheim, aber auch (z. B. in rororo-Bildmonographien) über Meister Eckhart, Thomas Müntzer u. a. veröffentlicht hat, ist besonders deshalb hilfreich, weil es nicht nur kenntnisreich und leserfreundlich, sondern mit dem Engagement geschrieben ist, das die Sympathie des Lesers weckt. So sind auch vorliegende Kurzdarstellungen von 11 "Meistern" verfasst: Helene Patrovna Blavatsky (Theosophie), Rudolf Steiner (Anthroposophie), Krishnamurti (vom theosophischen Lord Maitreya Heiland zum Apostel der Selbstfindung), Alice Ann Bailey (zwischen Blavatsky und Steiner), G. I. Gurdjieff (sein menschenbeherrschendes Enneagramm ist in christlichen Kreisen beliebt), René Guénon (französischer Okkultist), Julius Evola (Esoteriker und Faschist), Leopold Ziegler (überkirchliche, integral-christliche Tradition), C. G. Jung (Tiefenpsychologische Archetypik), Karlfried Graf Dürckheim (Initiatische Therapie), Valentin Tomberg (Konvertierter Katholik, Tarot-Deuter).

Mit der Lebensgeschichte dieser "Meister" zeichnet Wehr ihr "spirituelles" Anliegen. Das ist für alle, besonders für christliche Leser, aufschlußreich. Ein Zug ist vor weiterem Bedenken zu beachten: Die meist politisch-naive "Rechts"-Lastigkeit fast aller "spirituellen Meister" (nicht aber des Inders Krishnamurti, der sich vom theosophischen Ursprung distanzierte). Die vornehm berührte Befangenheit Dürckheims "in völkischen Vorstellungen" (225) wird durch das Zitat nicht abgeschwächt, sondern - im Wissen um die "völkische Befangenheit" der Zen-Philosophie im 2. Weltkrieg - bestärkt. Es ist auch kein Zufall, daß kirchen- und staatspolitisch weit rechts stehende Männer (R. Spaemann, M. Kriele) Tombergs Schrift auf Deutsch herausgaben.

2. Mit seiner doch überraschenden Auswahl "Spiritueller Meister des Westens" untermauert Wehr seine geistige (-liche) Botschaft, die er in der Neuausgabe des "Esoterischen Christentums" von 1975 verkündet. Die zahlreichen Änderungen greifen nicht in die Substanz ein: Die neue Einleitung greift stärker auf die Antike zurück und muß sich nicht mehr gegen die Abschätzung des "Esoterischen" wehren. Margarete Porete, Hieronymus Bosch (nach der allgemein abgelehnten Deutung W. Fraengers), V. Tomberg und einiges mehr ist hinzugekommen. Der Neuansatz der Renaissance-Zeit wird unterstrichen. (Doch eigentlich begann Esoterik im heutigen Verständnis erst damals). Swedenborg und Goethe werden stärker herausgestellt. Dafür fehlt leider der letzte Teil über Meditation und spirituellen Umgang mit der Bibel, was Wehr anderswo monographisch darlegt.

Was nun meint "Esoterisches Christentum"? Nach Wehr beginnt es mit der Predigt Jesu, der in den Parabelreden das Geheimnis des Reiches Gottes vor denen, die draußen - "exo" - sind, verbirgt; in den großen Esoterikern, Paulus und Johannes, hat es einen Höhepunkt, lebt meist untergründig in der Geschichte und wird heute insbesondere durch Rudolf Steiner oder C. G. Jung vertreten, wie die 1. Auflage noch stärker un-terstreicht.

Negativ wird das Esoterische zweifach fixiert: Einmal durch die Kritik am quantitativen und auch verbalen ( = dogmatischen) Umgang mit Erfahrungen: "Was einst aus ursprünglichen Geist-Erleben geschöpft war, wurde nun (Mitte des 2. Jh.s) durch feste Bekenntnisformeln verdrängt" (27). Zum anderen durch das Ablehnen institutioneller Verfaßtheit, die nur von "außen" (exo) wirke, statt auf innerer (eso) Erfahrung zu bauen: Paulus ist "Prototyp eines Menschen..., der ohne äußere Tradition aus der Christus-Unmittelbarkeit heraus lebt und wirkt. So tritt neben den kirchlich-exoterischen Weg, für den Petrus als Repräsentant stehen kann, ein esoterischer Pfad zu Christus." (44) Großzügig wird dabei übersehen, daß Paulus vor allem "überliefert, was auch er empfangen hat" und dogmatisch formuliert weitergibt. Der evidente biblische Befund ist hier nicht darzustellen, wohl aber die dahinter liegende Tendenz, die den "fürwahrhaltenden" oder den Glauben auf ein Wort gegen echte Erfahrung stellt: "Diese naive Gläubigkeit, die keine Erkenntnisfunktion zu erfüllen vermag und schon deshalb in einem Gegensatz zu echter Gnosis steht, bleibt dem Esoterischen ebenso fern wie ein im kritischen Analysieren verharrender Verstand." (30) Die so umschriebene "Esoterik der ersten Christenheit wurde frühzeitig aus der sich etablierenden, mit der politisch-gesellschaftlichen Macht sich verbündenden Kirche hinausgedrängt" (74), lebte aber untergründig-verborgen weiter.

Das wird nun durch die christliche Geschichte hindurch verfolgt. Dabei kommt es zu krampfhaften Deutungen. So meint die "Hierarchie" bei Ps. Dionysius "weniger die verfaßte Kirche als Institution als vielmehr de(n) spirituelle(n) ,Schatz der Kirche'" (125). Damit ist ein weiterer "Lehrer christlicher Esoterik" (97) kreiert. Wie Wehr arbeitet, zeigt er z. B. zur "Deutschen Mystik". Er beruft sich dabei überraschenderweise kaum auf M. Eckhart (der für den Kenner Wehr wohl zu "intellektuell" und kirchengläubig ist), aber intensiv auf den "Gottesfreund vom Oberland", der als Laie den Mystiker Johannes Tauler bekehrt haben soll. Wehr muß mit H. S. Denifle eingestehen, daß mit dieser Erfindung "Merswin sowohl die Johanniter als auch die Nachwelt getäuscht" hat. Doch "was den literarkritischen Befund anlangt, so mag es zwar angebracht sein, in dem ,Gottesfreund vom Oberland' eine Mystifikation zu sehen, deren Spuren mit großer Wahrscheinlichkeit auf Rulman Merswin zurückweisen. Völlig geklärt ist dessen Autorschrift (1. Aufl. "-schaft") jedoch nicht. Aber was wäre erreicht, wenn diese samt den zu erfragenden literarischen Abhängigkeiten zweifelsfrei festgestellt würde?" Und nun wird diese "Mystifikation" zum "Ausgangspunkt einer bemerkenswerten geistlich-esoterischen Bewegung" hochstilisiert, ein "tiefenpsychologisch ausgedrückt geeignete(r) archetypische(r) Kristallisationspunkt." (192) Die Antwort auf die Frage "wofür?" ist aber kläglich: für die "Johanniterbrüder", denen Merswin ein Kloster bei Straßburg verschaffte und füglich "ein gewisses geistliches Mitspracherecht" (191) in Anspruch nahm. Diese verstanden sich "als loyale Glieder ihrer römisch-katholischen Kirche... und (anerkannten) den Papst" (194). Aus der Tatsache nun, daß Merswin eine Laien-Bruderschaft wollte und sie - im Gegensatz zu den kirchlichen Orden - aus der päpstlichen oder staatlichen Jurisdiktion herauslöste, folgert Wehr: "Insofern haben ihnen die Träger des kirchlichen Schlüsselamtes nichts zu sagen. Wer die uneingeschränkte ,Freiheit der Kinder Gottes' einmal gekostet hat, der läßt sich nicht wieder unter irgendein ,knechtisches Joch' (Gal 5,1) äußerer Satzungen spannen. In dieser Hinsicht besteht sogar eine Beziehung zwischen den Gottesfreunden und den von ihnen meist energisch abgelehnten ,Freigeistern.'" (195)

Das ähnelt der Methode, mit der vor kurzem der Rummel um die Qumran-Funde (Verschlußsache Jesu) entfacht wurde: Man löst einige Steinchen aus dem Gesamtbild heraus, setzt mit ihnen ein neues, willkürlich entworfenes Mosaik zusammen, das zeigen soll: Der Vatikan halte Qumran-Texte unter Verschluß, weil sie den Jesus-Glauben ad absurdum führen würden.

Man darf aber Wehrs "Esoterisches Christentum" nicht völlig unter diese "Methode" subsumieren. Immer wieder korrigiert er offensichtliche Mystifikationen der Esoterik, wie sie z.B. um das Rosenkreuzertum gesponnen werden (dazu nun die saubere Forschung R. Edighoffers: Die Rosenkreuzer, München 1995.). Insbesondere sollte man sein Grundanliegen eines spirituellen, auf Erfahrung beruhendes und auf sie hinführendes Christentum ernstnehmen, das in den ausgelassenen Schlußkapiteln der 1. Auflage thematisiert wurde. Wehr legt damit den Finger auf die Wunde, die schon G. Ebeling als "Erfahrungsdefizit" diagnostiziert hat. Doch mit der auffallenden, auch politischen Rechtslastigkeit seiner "spirituellen Meister" zeigt Wehr selbst den Weg für die kritischen Anfragen an seine Konzeption. Neben der oben paradigmatisch skizzierten methodischen Einäugigkeit sind es zwei weitere: Ohne die verantwortete Einordnung in den größeren sozialen Rahmen, der christlich sich in der Kirchlichkeit niederschlägt, und ohne das wissenschaftlich-kritische Hinterfragen schlägt jede "Innerlichkeit" leicht in ihr Gegenteil von Fundamentalismus und sektiererischer Blindheit um.